Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Besuch beim Neandertaler: Ort für urzeitliche Erkundigungen
> Das Neandertal kennt man wegen des Neandertalers. Hier wurde er entdeckt.
> Vom Wildromantischen, das ihn umgab, findet sich allerdings nichts mehr.
Bild: Urzeitliche Sensationen im Neandertal
Mettmann taz | Ich bin ein Neandertaler. Die Leute in New York, Berlin und
Gütersloh starren mich an, wenn ich mich so vorstelle. Dann grinsen sie
verunsichert. Die Leute denken: gedrungen, Knubbelnase, dumm. Keule über
der Schulter. Was sie nie denken: 40822 Mettmann.
Genau zwischen Düsseldorf und Wuppertal liegt Mettmann. Und ein Teil des
Ortes heißt Neandertal. Den Neandertaler kennen sie alle. Das dazugehörige
Neandertal ist unbekannt. Ich weiß, dass es das gibt, weil ich einen
Faustkeilwurf entfernt von der „Fundstelle“ wohne.
Wen es ins wirkliche und wahre Neandertal zieht, der macht es am besten wie
die Urahnen des Düsseldorfer [1][Aktionskünstlers Joseph Beuys] vor 200
Jahren. Die dortigen AkademiestudentInnen gingen dreieinhalb Stunden zu
Fuß. Immer an einem Großbach namens Düssel lang. Singend. Saufend. Vögelnd.
Das entnimmt man jedenfalls zeitgenössischen Berichten.
## Wisente und Urpferde
Irgendwann kommen Busparkplätze. Dann ein Spielplatz. Ein Wald mit viel
Kunst drin, zum Beispiel die Skulptur von einem Menschen, der sich von
einer 1,5 Meter hohen Düsselbrücke in den Bach gestürzt hat und dort auf
dem Bauch liegt. Für Tierfreunde gibt es Wiesen mit Wisenten,
ausgestorbenen Auerochsen und Urpferden. Gefälschte Nachzüchtungen, aber
lieb.
Auf der anderen Seite der Talstraße liegt das Neanderthal Museum
(unentschieden ist der orthografische Streit, ob man Neandertal mit „h“ wie
auch die Deutsche Bahn beim zugehörigen Bahnhof schreibt. Oder ohne, wie
alle anderen). In einem grannysmithgrünen ovalen Betonkörper schraubt sich
vom Erdgeschoss spiralförmig eine breite Rampe in die Höhe, die oben in
einem Café endet, welches immer noch 6 Prozent Steigung hat. Flaschen
rollen von den Tischen, aber es ist ja klar, was das soll: die Evolution
symbolisieren! Denn da geht es ja auch nur immer bergauf.
Lebensgroße Puppen schauen uns hier an, nachgebaute Vor-, Ur- und
Noch-nicht-mal-Menschen. Lucy zum Beispiel, 1 Meter groß, 3,2 Millionen
Jahre alt. Und natürlich der Neandertaler, mit seinen lächerlichen 40.000
Jahren fast ein Vetter. Man kann sich neben ihn stellen für ein Selfie.
Machen alle.
Der Neandertaler ist traditionell ein Weißer. Doch neuere paläogenetische
Untersuchungsergebnisse forderten eine Korrektur: Vor zwei Jahren ersetzte
man den Alten durch eine neue, dunkelhäutige Kopie. Was das alte Erbgut
noch ergab: Der Neandertaler hat mit unseren Urahnen vom Stamme Homo
sapiens Kinder gezeugt. Darum haben wir heute noch einige seiner Gene in
der DNA, was zum Beispiel unsere großen Neandertalernasen erklärt. Sehr
nützlich bei Eiszeitkälte! Leider sind die Knöchelchen vom Alten im
Neanderthal Museum Fake – die echten gehören dem Rheinischen Landesmuseum
in Bonn und sind dort ausgestellt.
Was der Mettmann-Tourismus auch nicht zeigen kann, ist das Neandertal des
Neandertalers. Denn das ist weg. Noch vor 200 Jahren war es hier
wildromantisch, zerklüftet, Hunderte Gewässer stürzten und tosten aus dem
Bergischen Land rheinwärts. Überall Gewölbe, Höhlen. Die Gegend hieß damals
zutreffend „Gesteins“.
## Die fehlende Fundstelle
Das Gesteins bestand leider aus Kalkstein. Dieser wurde ab Mitte des 19.
Jahrhunderts für die Stahlindustrie gebraucht, und zwar gründlich. 1856,
so eben noch rechtzeitig, fanden Steinbrucharbeiter die Knochenstücke des
Neandertalers. Danach wurde weiter fleißig Kalk abgebaut – bis alles
Gesteins futsch war. Nicht nur das Gesteins: Wasserfälle waren weg. Höhlen.
Wälder. Eine ganz Landschaft. Und natürlich die Fundstelle – die war auch
weg.
Mettmann, das Touristen sonst nichts zu bieten hat, wollte trotzdem eine
Fundstelle haben. So verfiel man auf die beknackte Idee, da, wo die
Fundstelle mal war, bevor sie weggebaggert wurde, einen Turm zu errichten.
Damit man, wenn man oben ist, ungefähr da in der Luft steht, wo mal der
Neandertaler hockte. Der „Erlebnisturm Höhlenblick“ hat dummerweise auch
noch ein Dach, das einer riesigen Schädeldecke nachempfunden ist –
unappetitlich!
Schön dagegen ist die Geschichte, wie das Tal und der Mann zum Namen
Neander kamen. 1674 verschlug es den Bremer Theologen Joachim Neander nach
Düsseldorf, wo er lehrte und predigte. Neander verdrückte sich aber noch
lieber mit seinen Schülern in der Natur, um unter Bäumen zu beten und im
Gesteins zu singen – das war sein Ding. Und als man Jahrhunderte nach
Neander mangels Gesteins einen neuen Namen für die Gegend brauchte,
erinnerte man sich an den Komponisten des Chorals „[2][Lobe den Herren, den
mächtigen König der Ehren]“. Und verfiel auf Neandertal. Was postum zur
Heimat des Neandertalers wurde.
5 Feb 2024
## LINKS
[1] /100-Geburtstag-von-Joseph-Beuys/!5765964
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Lobe_den_Herren,_den_m%C3%A4chtigen_K%C3%B6ni…
## AUTOREN
Burkhard Straßmann
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
wochentaz
Neandertaler
Tourismus
Düsseldorf
Industrialisierung
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Weinlese in Brandenburg: Weingut an der Havel
Der Weinanbau rückt gen Norden vor. Auf der Insel Töplitz bei Potsdam gibt
es ihn seit Jahrhunderten. Möglich macht's das besondere Mikroklima.
Historisch Zugfahren nach Chemnitz: Auf dem Abstellgleis
Das sächsische Chemnitz ist vom Fernverkehr abgehängt. Wer in die
Europäische Kulturhauptstadt 2025 will, besteigt oft noch einen Zug aus
DDR-Zeiten.
Der dreckigste Ort Berlins: Die Zumutung der Großstadt
Wo Berlin denn am dreckigsten sei, wird gern gefragt. Die Antwort auf diese
Frage ist einfach. Ein Besuch im Aufzug des U-Bahnhofs Hallesches Tor.
Bedrohter Punkertreff in Hannover: Wieder mal No future
Die Kopernikus entstand nach den Chaostagen der 90er. Erstaunlicherweise
gibt es den Treff immer noch, nun droht das Aus für den sehr speziellen
Ort.
Ramadan-Beleuchtung in Frankfurt: Es ist ein Leuchten in der Stadt
In Frankfurt hat man zum Ramadan eine öffentliche Festbeleuchtung
angeknipst. Manche sehen darin den Untergang des Abendlandes.
Amphibientunnel in Hamburg: Für ein paar Kröten mehr
In Blankenese lässt man sich den Artenschutz ordentlich was kosten. Ein
Amphibienleitsystem bringt Kröten sicher zu ihren Laichgründen.
Rohrpost im Museum: Wie aus dem Blasrohr
Tempo war einst höchstes Ziel des Fortschritts. Dass manches früher aber
schneller ging, ist im Berliner Museum für Kommunikation zu bestaunen.
Kölns Philharmonie als Problemzone: Ein Konzertsaaldach zum Skaten
Bei der Kölner Philharmonie ist das Dach zugleich Boden eines Stadtplatzes.
Seit 25 Jahren muss er bei Musik mehrmals täglich gesperrt werden.
Mahnmal gegen Atommüll: Ein Festplatz für den Widerstand
Die Stadt Beverungen hat ein Protest-W gegen ein Atommülllager in
Ostwestfalen aufgestellt. Seit die Pläne vom Tisch sind, feiert es eben den
Sieg.
Hindu-Tempel in Bremen: Von Kuh geprüft
Ein farbenfrohes Angebot für ein bisschen mehr kulturelle Aneignung:
Bremens Sri-Varasiththi-Vinayakar-Tempel feiert den „Entferner von
Hindernissen“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.