| # taz.de -- Jüdischer Friedhof Berlin-Weißensee: Für alle Ewigkeit | |
| > Der Jüdische Friedhof ist ein verwunschener Ort. Zeit spielt hier keine | |
| > Rolle. Viele Grabmale sind verfallen, insgesamt sollen es 116.000 sein. | |
| Bild: Zeugnis alter Zeiten – und ein gigantisches Restaurationsprojekt: der j… | |
| Wo liegt noch mal Frau Pitschpatsch? Irgendwo weit hinten, am Rande des | |
| Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee, steht ihr Grabstein. Ich muss erst | |
| etwas suchen, dabei kenne ich das Grab schon lange. Seit 20 Jahren bin ich | |
| zwei- oder dreimal im Jahr für einen Spaziergang hier, durchstreife und | |
| umrunde das Gelände. Es ist etwa einen Kilometer lang und einen halben | |
| Kilometer breit. | |
| Je weiter man sich vom Haupteingang in der Herbert-Baum-Straße 45 entfernt, | |
| um so verwunschener wird das Areal. Die Natur macht in weiten Teilen des | |
| Friedhofs was sie will, schon seit Jahrzehnten – man sieht es vielen dicken | |
| Stämmen an. Neben den angepflanzten Alleebäumen an den zahlreichen Wegen | |
| herrscht viel Wildwuchs mit Bäumen, Büschen, Efeu, wuchernden Rosen, | |
| Gräsern und Moos. Natürlich gibt es – vor allem im vorderen Bereich – auch | |
| sorgsam gepflegte Bereiche. | |
| Das Grab von Henriette Pitschpatsch wurde 1931 angelegt. Geboren wurde sie | |
| irgendwann in den 1860er-Jahren – die letzte Zahl beim Geburtsdatum ist mit | |
| der Zeit verschwunden. Sonst steht nichts auf dem großen, grauen und völlig | |
| schnörkellosen Stein. Obenauf liegen die für jüdischen Friedhöfe | |
| obligatorischen Steine, etliche kleine Kiesel und ein kindskopfgroßer – wer | |
| hat den wohl da hingelegt? Das bleibt ein Geheimnis. Genauso wie Frau | |
| Pitschpatsch selbst (wenn man der Versuchung widersteht, im Internet nach | |
| Spuren zu suchen). | |
| Jüdische Gräber sind bekanntlich für die Ewigkeit gemacht, sie werden nicht | |
| nach einer bestimmten Liegezeit eingeebnet wie auf einem christlichen | |
| Friedhof. Deshalb gibt es hier so viele Grabstellen, es sollen rund 116.000 | |
| sein. Und es werden mehr von Jahr zu Jahr, es finden regelmäßig | |
| Bestattungen statt. Die Mehrzahl der neuen Grabsteine trägt neben | |
| lateinischen auch kyrillische Buchstaben – hier liegen nach dem Mauerfall | |
| eingewanderte Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. | |
| ## Zeichen der Zeit | |
| Doch die meisten der Gräber in Weißensee sind viel älter. Das hat seinen | |
| Reiz: Die Moden der jüdischen Grabkultur lassen sich hier über die | |
| verschiedenen Epochen (bestattet wurde auch zu DDR-Zeiten) bis in die | |
| Neuzeit studieren. Was gibt es etwa für ausladende Jungendstilgräber voller | |
| buntem Zierrat in Form von Blumen und Blättern! Doch es gibt auch ein | |
| Problem: Die für immer und ewig bestehenden Grabstellen sind Wind und | |
| Wetter und der Zeit ausgesetzt. Steine fallen um oder werden überwuchert | |
| und verschmelzen mit der Natur. Etliche der aufwändig gestalteten | |
| Grabstellen mit Säulen, Gruften und Schmuckelementen sehen mit den | |
| Jahrzehnten ohne jegliche Pflege desolat aus. Teile brechen ab oder stürzen | |
| um, Decken fallen herunter – „Einsturzgefahr“ warnt ein Schild –, | |
| Grabplatten sacken ein, Ziffern und Buchstaben und auch Davidsterne brechen | |
| ab und verschwinden … | |
| Doch hin und wieder sind Grabmale zu sehen, die saniert wurden: Mal | |
| einfache Steine, bei denen die Inschriften erneuert wurden und die nun in | |
| Weiß oder Gold leuchten, mal große Grabstätten von einst wohlhabenden | |
| Menschen, wie die der Familie Stöckel aus 1910. | |
| Der 1862 in der Ukraine geborene Moritz Stöckel lebte spätestens seit 1883 | |
| in Friedenau. Er und sein Bruder Siegmund trugen wesentlich zur Entwicklung | |
| des damaligen Berliner Vorortes bei. Sie bauten über 60 Häuser vor dem | |
| Ersten Weltkrieg. Familienangehörige beider wurden Opfer des Holocaust. | |
| Zugeggen: Gerade ist von der Grabanlage nicht viel übrig. Die Arbeiten zur | |
| Restaurierung und den Wiederaufbau sind seit Monaten im vollen Gange. Außer | |
| vielen Holzbohlen ist nicht viel zu sehen. Das Familiengrab war in sich | |
| zusammengefallen und in große Stücke zerbrochen, die Fundamente waren durch | |
| Bewuchs verschoben. So hatte Lutz Dölle nur noch einen Haufen Steine | |
| vorgefunden, erzählt der Steinrestaurator und Bildhauer bei einem | |
| Vor-Ort-Termin aus Anlass einer Scheckübergabe. Die Deutsche Stiftung | |
| Denkmalschutz (DSD) unterstützt die Arbeiten mit 15.000 Euro. Die | |
| Grabanlage gehört seit 2021 zu den 200 Objekten, die die private Stiftung | |
| allein in Berlin fördern konnte. | |
| ## Wie ein Puzzle | |
| Lutz Dölle erzählt, dass Teile der Steinplatten mit der Zeit abhanden | |
| gekommen sind. Also hat er recherchiert, wo der Stein einst herkam: aus | |
| einem sächsischen Steinbruch. Doch der ist längst geschlossen. In einem | |
| benachbarten Steinbruch aber fand er Ersatz, man würde den Unterschied | |
| später kaum bemerken. | |
| Fast alle noch vorhandenen Steinstücke des Grabmals liegen ein paar Meter | |
| entfernt in einem Seitenweg wie aufgebahrt, das sieht wie ein | |
| überdimensioniertes Puzzle aus. Teile der Metallapplikationen – Girlanden | |
| aus Kupferblech – wurden unter Steinen liegend gefunden, sie werden | |
| restauriert. Fehlende Buchstaben werden in einer Bronze-Gießerei | |
| nachgeformt, die vorhandenen wie auch der Davidstern restauriert. Und das | |
| Fundament ist schon fertig. Im nächsten Jahr soll das Grabmal der Stöckels | |
| fertig sein und wie früher aussehen. So wie die Grabanlage der Familie | |
| Blumenthal gleich nebenan, die wurde bereits restauriert. | |
| 26 Dec 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Hergeth | |
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