| # taz.de -- Urnenbestatter über stille Abschiede: „Ich genieße mein Leben i… | |
| > Bernd Simon arbeitet als Urnenbestatter in Berlin-Mitte. Er tut das auf | |
| > seine eigene einfühlsame Art – auch, weil er die Abgründe des Lebens | |
| > kennt. | |
| Bild: Auf dem Alten Domfriedhof: den Weg von der Kapelle (im Hintergrund) zur B… | |
| taz: Herr Simon, auf dem [1][Alten Domfriedhof in Berlin-Mitte] haben Sie | |
| soeben eine Urne zu Grabe getragen. Einsame Bestattung nennt sich das, wenn | |
| keine Trauergäste zugegen sind. Was wissen Sie über die verstorbene Person? | |
| Bernd Simon: Eigentlich gar nichts, außer Name und Geburtsdatum. | |
| taz: Wann haben Sie die Urne bekommen? | |
| Simon: Die Urnen werden immer freitags von der Friedhofsverwaltung | |
| geliefert. Das sind 30 bis 50 Urnen für die Bestattungen in der | |
| drauffolgenden Woche. Pro Tag mache ich sieben bis zehn Bestattungen, alle | |
| Dreiviertelstunde eine. Von der Friedhofsverwaltung bekomme ich eine Liste | |
| mit der Reihenfolge. Am Vortag sortiere ich die Urnen nach den vorgegebenen | |
| Uhrzeiten vor und netze sie ein. | |
| taz: Was heißt das? | |
| Simon: Das ist eine Art Netzstrumpf, mit dem ich sie dann später in die | |
| Erde ablassen kann. Morgens, wenn ich zur Arbeit komme, hole ich die ersten | |
| vier Urnen aus dem Lager und schmücke sie mit ein paar Blümchen. Die | |
| Blumensträuße bekomme ich immer dienstags von einer Gärtnerei. Da zupfe ich | |
| mir jeweils drei Blumen heraus, mache einen Draht drum, schneide sie gerade | |
| ab und lege sie auf die Urne drauf. | |
| taz: Das klingt sehr liebevoll. | |
| Simon: Das gehört dazu, weil die Verstorbenen ja nichts dafür können, wenn | |
| keine Angehörigen kommen. | |
| taz: Wie oft ist das bei zehn Bestattungen am Tag der Fall? | |
| Simon: Im Durchschnitt kann man sagen, dass in drei Fällen niemand kommt. | |
| Oftmals ist das bei ältere Leuten zwischen 60 und 90 Jahren so, die im | |
| Altersheim oder Pflegeheim gestorben sind. Vor Corona kam manchmal noch ein | |
| Pfleger mit, aber heute fehlt überall das Personal. | |
| taz: Sie selbst sind auch schon im fortgeschrittenen Alter. Merken Sie auf, | |
| wenn ein Verstorbener das gleiche Geburtsjahr hat wie Sie? | |
| Simon: Natürlich fällt mir auf, wenn einer mein Jahrgang ist, ich gucke | |
| immer auf das Geburtsdatum. Es ist schon so, dass ich mein Leben immer mehr | |
| genieße, weil ich noch gesund bin. Auch deshalb, weil ich selber einmal | |
| kurz vorm Tod stand nach einem schweren Unfall mit zwölf Jahren. Dann sieht | |
| man das ein bisschen anders alles. | |
| taz: Mögen Sie erzählen, was damals passiert ist? | |
| Simon: Ich wollte vom Gymnasium nach Hause, hatte jemanden mit Schneebällen | |
| beschmissen. Der andere hatte so getan, als würde er mir hinterherrennen | |
| und ich wollte abhauen, aber dann kam der Bus, hat mich umgestoßen und ich | |
| bin mit dem Hinterkopf auf die Bordsteinkante geknallt und lag dann 20 Tage | |
| im Koma. Als ich die Augen aufgemacht habe, hieß es, die Chance, dass mein | |
| Hirn das heil überlebt, beträgt fünf Prozent. Einer der Ärzte hatte meinen | |
| Eltern gesagt, ich würde viel Elternliebe brauchen. Tatsächlich hätte ich | |
| aber viel Hirntraining gebraucht. Und so kam es, dass meine Eltern, als ich | |
| in die Pubertät kam, alles für mich getan haben. Ständig hieß es: Mach das. | |
| Lass das. Ich helfe dir. | |
| taz: Wie man an Ihrem Dialekt hört, sind Sie kein Berliner. | |
| Simon: Ich bin Baden-Württemberger, ich komme aus dem Schwarzwald. Ich | |
| komme aus einem begüterten Elternhaus, aber mein Leben hat ziemliche Kurven | |
| genommen. | |
| taz: In welchem Sinne? | |
| Simon: Ich habe ganz viel mitgemacht, ich kenne fast alle Untiefen. | |
| Irgendwann bin ich dann nach Berlin gekommen und habe ein neues Leben | |
| angefangen. Ich habe eine nette, hübsche Frau und bin glücklich. Ich habe | |
| ein Dach über dem Kopf, ich kann in den Urlaub fahren. Ich habe zu essen, | |
| ich habe eine Arbeit, die mir Spaß macht. Ich begnüge mich mit dem, was ich | |
| habe und mache das Schönste draus. Alles Weitere geht niemanden etwas an. | |
| taz: Vielleicht können wir über eine Geschichte aus Ihrem Leben sprechen, | |
| die Sie schon einmal anderweitig öffentlich gemacht haben? Sie waren mal | |
| Pantomime. | |
| Simon: Mit 22 habe ich zu Hause meine Koffer gepackt, bin nach | |
| Südfrankreich. Nachdem man mich nach meinen Unfall immer bevormundet hatte, | |
| wollte ich endlich selbstständig werden. Und weil ich kein Geld hatte, habe | |
| ich mich als Pantomime an Strandpromenaden gestellt. Eine Holländerin, die | |
| einen Imbiss hatte, hatte mir einen großen Frauenhut geliehen. Ich habe | |
| mich ein bisschen geschminkt, schwarze Striche unter die Augen, rote | |
| Lippen, und mich bis zu einer Stunde regungslos vor den Passanten | |
| aufgebaut. | |
| taz: Hatten Sie das geübt? | |
| Simon: Gar nicht. Kann jeder, geht nur ins Kreuz und in die Knie. (Erhebt | |
| sich vom Stuhl, winkelt die Arme an und tut so, als würde seine rechte Hand | |
| einen Becher umgreifen. Der Zeigefinger der anderen Hand zeigt auf den | |
| Becher, dabei ist er vollkommen regungslos.) In den Becher haben die Leute | |
| dann was reingeschmissen. | |
| taz: Zittrige Hände darf man dabei aber nicht haben. | |
| Simon: Die hat man in jungen Jahren noch nicht. | |
| taz: Ihre Hände sind immer noch sehr ruhig. Und sie sehen nicht so aus, als | |
| würden Sie auf dem Friedhof Garten- oder Grabearbeiten verrichten. | |
| Simon: Das tue ich auch nicht. Anfangs habe ich die Löcher für die Urnen | |
| gebuddelt. Aber da hatte ich ständig dreckige Hosen. Wenn es nass ist, kann | |
| man das nicht ausbürsten. Das war mir sehr peinlich, weil ich ja gleich | |
| wieder zu einer Bestattung musste. Und dann hat die Friedhofsverwaltung mir | |
| jemanden geschickt, der sich um das Graben der Löcher kümmert. | |
| taz: Wie viele Leute arbeiten hier? | |
| Simon: Wir sind fünf Festangestellte, ab und zu kommen noch ein paar | |
| Aushilfskräfte. Sie dürfen zwar keine Geräte in die Hand nehmen, aber für | |
| die Mülltonnen und das Laub sind sie eine große Unterstützung. | |
| taz: Alles Männer? | |
| Simon: Alles Männer. Unser Vorgesetzter ist mit Anfang 30 der Jüngste. Er | |
| hält Kontakt zur Friedhofsverwaltung, ich selbst bin ja bei einem | |
| Bestattungsunternehmen angestellt. Ansonsten sind wir hier im Team. Wir | |
| halten zusammen, egal was passiert, da geht nichts raus, und sind | |
| glücklich, hier zu sein. | |
| taz: Die Mehrzahl der Bestattungen auf dem Alten Domfriedhof sind | |
| Urnenbestattungen? | |
| Simon: Wir haben auch ganz normale Sargbestattungen, aber das nimmt immer | |
| weiter ab. Die Unternehmen haben vor vielen Jahren die Preise ums Dreifache | |
| erhöht. Das kann sich heutzutage keiner mehr leisten. | |
| taz: Sie kümmern sich nur um die Urnen. Ist da irgendeine Art von Zeremonie | |
| dabei? | |
| Simon: Wenn ich alleine mit der Urne laufe, nur meine (lacht). Es kommt | |
| aber auch vor, dass keine Feier angemeldet ist und doch Angehörige kommen. | |
| Die können sich dann ein paar Minuten in die Kapelle setzen, wo die Urne | |
| aufgebahrt ist und stillen Abschied nehmen. | |
| taz: Still heißt wirklich still? | |
| Simon: Still heißt, nichts sagen, keine Abschiedsreden, keine eigene Musik. | |
| Ich kann Leuten, die keine Feier angemeldet haben, aber anbieten, dass sie | |
| selbst eine viertelstündige Zeremonie abhalten, wie immer sie diese | |
| gestalten wollen. Das kostet dann 35 Euro, den Quittungsblock habe ich | |
| immer dabei. Mit Durchschlag, den brauchen wir für die Buchführung. (Zieht | |
| einen Quittungsblock aus der Brusttasche seines schwarzen Jacketts.) Wenn | |
| man aber nur ein einziges Lied abspielen will, kann man das auf dem Weg von | |
| der Kapelle zum Grab ablaufen lassen. Das ist dann umsonst. | |
| taz: Was wird da so gespielt? | |
| Simon: Das sind dann meistens Freunde oder Bekannte, die lassen das | |
| Lieblingslied des Verstorbenen ablaufen. Auch manchmal ein Fußballlied. Die | |
| Hertha-Hymne von Frank Zander „Nur nach Hause“ oder sonst was. | |
| taz: Spüren Sie bei den Bestattungen einen Unterschied zwischen Freunden | |
| und Verwandten der Verstorbenen? | |
| Simon: Wenn die Leute vor der Kapelle stehen, frage ich immer als Erstes: | |
| Ist hier jemand verwandt? Da war mal die Tochter von dem Verstorbenen, die | |
| sich 15 Jahre um ihn gekümmert hat. Der Bruder des Verstorbenen hatte sich | |
| nie blicken lassen, machte sich dann aber bei der Feier wichtig, vielleicht | |
| auch wegen dem Erbe. Da kam es zum Krach. Oder, ein anderes Erlebnis: Eine | |
| Bekannte vom Verstorbenen hat auf meine Frage geantwortet: Nee, verwandt | |
| ist hier niemand. Er hatte drei Kinder, aber die sind verstritten, die | |
| kommen nicht. | |
| taz: Erleben Sie auch wirkliche Trauer? | |
| Simon: Absolut. Manche sind völlig außer sich, bekommen kein Wort heraus, | |
| weil sie so voller Trauer sind. Manche kommen, weil alle kommen. Das gilt | |
| eher für den Bekanntenkreis. Man spürt schon den Unterschied, wer von | |
| Herzen kommt. Am Ende sage ich aber immer: Schön, dass Sie alle da waren | |
| und den Verstorbenen auf seinem letzten Weg begleitet haben. Das meine ich | |
| auch so. | |
| taz: Gibt es ergreifende Momente? | |
| Simon: Eine ganze Kneipe kam schon. Alles Kneipengänger, das hat man | |
| richtig gesehen. Es ist schon vorgekommen, dass wir die Bänke in der | |
| Kapelle umschieben mussten, um Stehplätze zu schaffen, so viele sind | |
| gekommen. Ich habe auch den größten, ältesten Hertha-Fan bestattet, sein | |
| Spitzname war Pepe. | |
| taz: Und wenn man Sie nach der schönsten Geschichte fragt? | |
| Simon: Zwei Halbbrüder haben sich hier nach über 30 Jahren bei der | |
| Bestattung ihres Vaters getroffen. Die kamen nicht mehr aus den Armen | |
| heraus. Der Vater war zweimal verheiratet und hatte von jeder Frau einen | |
| Sohn. Die Söhne haben beide in Berlin gelebt, aber nie etwas voneinander | |
| gehört. | |
| taz: Wie viele Urnenfelder gibt es auf dem Friedhof? | |
| Simon: Schwer zu sagen. 2015 ging das hier mit den Urnenbestattungen los. | |
| Allein in einem Jahr kommt da schon eine vierstellige Zahl zusammen. Aber | |
| es gibt noch viel Platz. Und ab 2035 können die ersten Felder wieder neu | |
| bestückt werden. Die Urnen vergehen ja im Laufe der Zeit. | |
| taz: 2035, was meinen Sie, sind Sie da noch hier? | |
| Simon: Meine Bestattungsfirma hat mich schon gefragt, ob ich mir vorstellen | |
| könnte, länger zu arbeiten. Aber nein, ich höre 2031 auf. Einen Nachfolger | |
| für mich zu finden, wird aber nicht einfach sein. In der neuen Generation | |
| will ja keiner mehr arbeiten. | |
| taz: Was macht Sie da so gewiss? | |
| Simon: Ich lese Zeitung, sehe die Anzeigen, wenn ich Auto fahre oder | |
| Kinowerbung: „Suchen Kollegen! Suchen Kollegen!“ Das war früher nicht so. | |
| taz: Könnte es noch andere Gründe geben, warum Ihr Chef Sie über den | |
| Eintritt ins Rentenalter hinaus halten will? | |
| Simon: Ich mache es gut. Als ich hier angefangen habe, habe ich, ohne es zu | |
| wissen, ein paar Lobbriefe bekommen. Die waren an die Friedhofsverwaltung | |
| und die Bestattungsfirma geschickt worden. | |
| taz: Was ist das Besondere an Ihnen? | |
| Simon: Die Freundlichkeit. Ich höre den Trauernden zu, rede mit ihnen, | |
| zeige Anteilnahme. Das macht viel aus. An meiner eigenen kleinen Zeremonie | |
| habe ich lange gearbeitet, bis ich das Gefühl hatte, jetzt stimmt’s. | |
| taz: Bitte erzählen Sie. | |
| Simon: Früher, als ich in der Kapelle vor der Urne stand, um sie | |
| rauszutragen, habe ich mich verneigt und gesagt: In Gottes Namen. Am Grab | |
| habe ich gesagt: Ruhe in Frieden, bevor ich die Urne hinabgelassen habe. | |
| Dann bin ich weggegangen. So hatte ich das gelernt. | |
| taz: Und heute? | |
| Simon: Jetzt sage ich in der Kapelle: Nun begleiten wir dich auf deinem | |
| letzten Weg in Gottes Namen. Und wenn ich bestatte, sage ich: Nun bist du | |
| von uns gegangen, doch in unserem Herzen wirst du bleiben. Ruhe nun in | |
| Frieden und sanft in Gottes Hand. Außerdem habe ich mir angewöhnt, bis zum | |
| Schluss in der Nähe zu bleiben. Ich wünsche den Menschen dann alles Gute | |
| und viel Kraft und erkläre ihnen das Grab. Dass das 20 Jahre bleibt, dass | |
| es statt des weißen Schildes … | |
| taz: … auf dem Name, Geburts- und Sterbejahr stehen … | |
| Simon: … ein grünes Schild mit einer Nummer bekommt und das Efeu darüber | |
| wächst. Manche sind einfach nur glücklich, dass ich wenigstens zwei Sätze | |
| hier am Grab sage. Dass da nicht nur so eine Stille ist. | |
| taz: Sind Sie selbst gläubig? | |
| Simon: Ich weiß nicht an was, aber ich glaube an etwas. Wie gesagt, ich | |
| habe schon viel miterlebt. | |
| taz: Wie möchten Sie mal bestattet werden? | |
| Simon: Ich gehe einfach auf eines dieser Urnenfelder hier. Dass braucht | |
| niemand zu pflegen. Manchmal, wenn ältere Angehörige klagen, dass ihnen der | |
| Weg auf den Friedhof zu weit wird, sage ich zu ihnen: Denken Sie dran, hier | |
| ist der Rest des Körpers, die Seele ist frei, man kann sich überall mit ihr | |
| unterhalten. Stellen Sie sich zu Hause ein Bild hin und sprechen Sie dort | |
| hin und wieder mit ihr oder ihm. Dann lachen sie und sind wieder glücklich. | |
| taz: Wenn Sie mit einer Urne ganz allein zum Grab laufen, was geht Ihnen da | |
| durch den Kopf? | |
| Simon: Wenn jemand sehr jung gestorben ist, frage ich mich: Was ist | |
| passiert? Warum ist keiner da? Ob die Leute süchtig waren und zu Hause dann | |
| rausgeschmissen worden sind? Ob sie in Berlin in die falsche Clique | |
| gekommen sind, oder Drogentote? Manchmal sage ich auch noch ein paar | |
| Abschiedsworte am Grab, wenn jemand jung gestorben ist, auch wenn sonst | |
| keiner da ist. So kam wohl auch der erste Lobbrief zustande. | |
| taz: Friedhofsbesucher hatten Sie beobachtet? | |
| Simon: Das war eine Frau, die zu einer Bestattung wollte, sich in der | |
| Uhrzeit vertan hatte und noch auf dem Friedhof spazieren gegangen war. Ich | |
| habe sie überhaupt nicht wahrgenommen. Es laufen hier viele Leute rum. Die | |
| Frau fand es bewegend, dass ich, wenn ich alleine am Grab stehe, noch mit | |
| der Urne spreche. | |
| taz: Aber das ist bestimmt nicht immer so. | |
| Simon: Natürlich nicht. Manchmal laufe ich mit der Urne auch einfach durch | |
| zum Grab, lasse sie ab und mache mir gar keine Gedanken. Irgendwann wird | |
| alles zur Routine, egal ob es in der Ehe ist, im Sport oder im Beruf. Aber | |
| auch nach sechs Jahren versuche ich immer noch, eine bestimmte Form zu | |
| wahren, soweit das möglich ist. | |
| 26 Jan 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Plutonia Plarre | |
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