# taz.de -- Vom Workshop zur Hausaufbahrung: Das Abschiednehmen üben | |
> Barbara Rolf und Charlotte Wiedemann leiten den „ahorn Space“ in | |
> Neukölln. Das ist ein Ort der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem | |
> Tod. | |
Bild: Bei einem Workshop zur Hausaufbahrung im „ahorn Space“ spielt ein Tei… | |
Berlin taz | Es ist ein milder Dezembertag und sehr lebendig auf dem | |
Hermannplatz in Neukölln. Die Geräusche von Autos, Regen und einer | |
propalästinensischen Demonstration drängen sanft ins Innere des [1][„ahorn | |
Space“], eines sogenannten Funeral Concept Space. | |
Hinter dem hip klingenden Namen steht ein Ort, in dem neue Konzepte | |
ausprobiert werden sollen, die sich mit der Gestaltung von | |
Bestattungsritualen und Trauerbewältigung, dem Lebensende und dem Sterben | |
auseinandersetzen. Hier werden Lesungen und Workshops gehalten, Traueryoga | |
und Endlichkeitsmeditationen veranstaltet und Kunst ausgestellt. | |
Gerade findet hier ein Workshop zur Hausaufbahrung statt, also dazu, wie | |
Verstorbene würdevoll zu Hause aufbahrt werden können, um in privatem | |
Rahmen Abschied zu nehmen. Ein lebendiger Mann liegt, in ein Leinentuch | |
gewickelt, auf einem Altar und stellt sich tot. An ihm demonstriert Barbara | |
Rolf, Bestatterin und die Workshopleiterin, an welchen Stelle Leichen kalt | |
gehalten werden müssen. Das geht beispielsweise mit Kühlakkus, die in | |
Handtücher eingewickelt werden, erzählt sie. Sie zeigt auch, dass noch | |
eingewickelte Tamponagen senkrecht unter das Kinn geklemmt werden können, | |
damit der Mund des Verstorbenen nicht aufgeht und offen bleibt. | |
Um das Abschiednehmen zu üben, schmücken die Teilnehmenden die | |
„Probeleiche“ liebevoll mit kleinen Tonfiguren, einem Kuscheltier und | |
Blumen. Draußen bleibt ein älteres Ehepaar stehen und schaut der Szene | |
neugierig durch die großen Fenster aus der Dunkelheit zu. Als sich die | |
Probeleiche aufsetzt, lächelt und ihnen zuwinkt, ist das ein skurriler, | |
aber lustiger Moment: Am Hermannplatz scheint alles möglich. | |
## Auch ein Experimentierfeld | |
Barbara Rolf leitet den ahorn Space als Team gemeinsam mit Charlotte | |
Wiedemann, einer sogenannten Death Doula. Im Englischen wird Doula oft als | |
Synonym für Hebamme benutzt. Eine Death Doula ist also eine Person, die | |
Menschen nicht in das Leben hinein, sondern hinausbegleitet. Während in | |
Deutschland die Arbeit als Death Doula kein anerkannter Beruf ist, gibt es | |
in den USA Ausbildungsprogramme hierfür. | |
Rolf und Wiedemann erzählen, der ahorn Space biete den Raum für die | |
Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Tod – sei aber auch ein | |
Experimentierfeld. Dabei sieht es hier auf den ersten Blick gar nicht nach | |
einem Ort aus, an dem es ums Sterben geht. Die Einrichtung gleicht einem | |
der zahlreichen Conceptstores Berlins, die ein meist ungewöhnliches und oft | |
auch teures Sortiment anbieten. Im modernen Regal steht eine hellgrüne, | |
selbst getöpferte Urne, es riecht nach Räucherstäbchen, der Raum ist hell. | |
Orte wie der ahorn Space sind Teil einer Bestattungsbranche, die boomt. | |
Während überall akuter Azubi-Mangel herrscht, entscheiden sich immer mehr | |
Menschen dazu, Bestattungsfachkraft zu werden – [2][die Mehrzahl davon sind | |
mittlerweile Frauen]. Das Branchenwachstum geht dabei auf die alternde | |
Bevölkerung zurück. Denn ein höherer Anteil älterer Menschen bedeutet eine | |
zunehmende Zahl an Todesfällen. | |
So starben laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2023 in Deutschland eine | |
Million Menschen, 15 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Der zunehmende | |
Bedarf zeigt sich in den erwirtschafteten Umsätzen: Innerhalb eines Jahres | |
stiegen sie von knapp 2 Milliarden Euro 2022 auf rund 2,3 Milliarden Euro | |
im Jahr 2023 an. | |
Auch das „kleine ahorn“ – wie Wiedemann und Rolf es nennen – ist ein Zw… | |
eines großen Unternehmens, der [3][Ahorn Gruppe], die über 285 | |
Bestattungsfilialen in Deutschland besitzt und seit fast 200 Jahren | |
existiert. Von der Ahorn Gruppe haben Wiedemann und Rolf die Filiale | |
erhalten, die die Räume seit den 1960er Jahren mietet. Vorher war hier | |
Grieneisen Bestattungen ansässig, ein Berliner Traditionsbestatter, der | |
ebenfalls Teil der Ahorn Gruppe ist. Doch dieses Geschäftsmodell hat am | |
Hermannplatz nicht mehr funktioniert. | |
## Angst vor dem Tod?! | |
Wiedemann erzählt, die Nähe zwischen Leben und Tod sei ihr bei der Geburt | |
ihrer Tochter sehr bewusst geworden. Diese habe sie an ihre physische | |
Grenze gebracht. „Transformativ“ nennt sie die Erfahrung heute. Geführt | |
habe das dazu, dass ihr Interesse an dem Thema weiter gewachsen ist. Noch | |
im Wochenbett habe Wiedemann online mit ihrer Ausbildung begonnen. | |
Ob sie noch Angst vor dem Tod hat? Natürlich, sagt Wiedemann. Die | |
Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten sei Teil der Ausbildung gewesen. | |
Zum Teil beschäftige sie das immer noch: „Ich bin ein spiritueller Mensch, | |
weshalb es für mich schlimm wäre, zu erfahren, dass es nach dem Tod doch | |
nicht weitergeht.“ | |
Ihr Ziel sei es, souverän mit den eigenen Ängsten umgehen zu können. Das | |
funktioniere gut. Inzwischen habe sie es sogar lieb gewonnen, ihre Ängste | |
anzusehen, sagt sie. Barbara Rolf ergänzt: „Wir müssen Angst nicht | |
bekämpfen. Es ist ja vollkommen legitim, sich vor dem Tod zu fürchten.“ Die | |
meisten Ängste würden daher rühren, dass die Berührungspunkte fehlen. | |
Das alles erzählen die beiden Frauen beim Interview im Keller vom ahorn | |
Space. In dem Raum ist eine Grabinstallation der Künstlerin Katharina | |
Louisa Meyer ausgestellt: Die Liegestätte ist gebettet auf echter | |
Friedhofserde, darauf liegt ein Leinentuch, die Seiten sind mit Moos, Ästen | |
und Kerzen dekoriert, am Kopfende ragen ein Kranz, ein Tierschädel und | |
bunte Bänder – es wirkt wie ein Altar. Es lässt sich Probe liegen; es ist | |
erstaunlich weich und gemütlich in dem Grab, es fühlt sich nicht schlimm | |
an. Man merkt: In so einem Grab kann auch eine lebendige Person Ruhe | |
finden. | |
Mit der Finanzierung des ahorn Space probiert die Ahorn Gruppe etwas Neues. | |
Das Arrangement sei vergleichbar mit einem Start-up, das finanziellen | |
Rückhalt von einem Unternehmen bekommt, finden Wiedemann und Rolf. | |
Finanziellen Druck gebe es noch nicht so sehr. „Wir werden nicht jeden Tag | |
gefragt: Was habt ihr verdient?“, sagt Rolf. Im diesem ersten Jahr hätten | |
die beiden nur zeigen sollen, dass es überhaupt möglich ist, zum Beispiel | |
mit Veranstaltungen am Hermannplatz Geld zu verdienen. Derzeit seien | |
Wiedemann und sie dabei, auszuprobieren, für welche Angebote Menschen | |
bereit sind, Geld zu zahlen. | |
## Für ein Gespräch oder einen Tee | |
Wiedemann und Rolf betonen jedoch, dass es nicht nur ums Geld geht. Und | |
tatsächlich gibt es im ahorn Space bepreiste und unbepreiste Angebote. Der | |
Hausaufbewahrungsworkshop kostet etwa 49 Euro – ein fairer Preis für ein | |
Format mit viel fachlichem Input, findet Wiedemann. | |
Im Laden finden zum Beispiel auch offene Gesprächsrunden für Trauernde und | |
Tröstende statt, die kostenlos sind. „Das Nichtvorhandensein von Geld darf | |
nicht ausschließen, hier zu partizipieren“, sagt Rolf. Es gelte das | |
Versprechen, dass Leute immer für ein Gespräch oder einen Tee in dem Space | |
eingeladen seien, am besten mit Anmeldung, um ihre Fragen stellen zu können | |
oder weiter vermittelt zu werden. | |
Eine konkrete Ziel- oder Altersgruppe gebe es nicht. Und bislang sei die | |
Resonanz gut, erzählt Wiedemann von den ersten Begegnungen: Eine ältere | |
Dame aus dem Kiez habe nach ihrem Besuch im ahorn Space am nächsten Tag | |
selbst gebackenen Kuchen vorbeigebracht. Und ein junger Mann habe sich zu | |
seinem 30. Geburtstag in das Grab im Keller gelegt. Wiedemann erzählt, er | |
habe seine Endlichkeit spüren und eines Freunds gedenken wollen, den er in | |
diesem Jahr verloren hat. | |
Beim Workshop zur Hausaufbahrung sind viele der Teilnehmenden | |
Branchenkolleg*innen, einige sind selbst Bestatter*innen. Die | |
Teilnehmer*innen sprechen offen darüber, wie sich die Branche | |
verändert, auch über den Tod oder Verstorbene wird ohne jedes Tabu geredet. | |
Im ersten Moment ist diese fehlende Vorsicht befremdlich. Doch in diesem | |
Raum ist Tod etwas absolut Normales und Natürliches. Genau das ist es, | |
worum es geht: einen Ort zu schaffen für Menschen, für die der Tod ein | |
Lebensthema ist. | |
6 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://ahorn.net/ahorn-space/ | |
[2] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/bestattungsbranche-auszubi… | |
[3] https://www.ahorn-gruppe.de/ | |
## AUTOREN | |
Julia Belzig | |
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