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# taz.de -- Forschung an Nord- und Ostsee: Gischt klärt den Blick
> Wenn man Gischt-Effekte herausrechnet, lassen sich archäologische Funde
> exakter datieren. Wie das gehen könnte, wird in Kiel erforscht.
Bild: Feiner, salziger Nebel aus Wasser und Luft: „Sea-Spray“-Effekt hat Ei…
Osnabrück taz | Gischt! Wer je am Meer stand, bei Wind und Wellen,
vielleicht bei Sturm an einer zerklüfteten Felsküste, oder am Bug eines
Schiffes das sich durch grobe See kämpft, weiß, was dieses lautmalerische
Wort bedeutet: Ein feiner, salziger Nebel aus Wasser und Luft legt sich auf
alles. Für viele ist das gleichbedeutend mit Urlaub.
Für Andrea Göhring, Biologische Anthropologin am [1][Leibniz-Labor für
Altersbestimmung und Isotopenforschung], Christian-Albrechts-Universität zu
Kiel (CAU), bedeutet der „Sea-Spray“-Effekt vor allem eins: Arbeit. Sie
untersucht seinen Einfluss auf die Isotopensignatur von Organismen an der
Ost- und Nordseeküste.
Atome geben ihr dabei nicht nur Auskunft über die Gegenwart, sondern auch
über die Vergangenheit: Stabile Isotope zerfallen nicht; sie bleiben
bestehen, über Jahrtausende. Ihre Untersuchung erlaubt es, Herkunft und
Ernährung prähistorischer Tiere und Menschen zu bestimmen.
Gischt gelangt an Land, treibt ins Landesinnere, beeinflusst Pflanzen,
Tiere, die Nahrungskette und verändert so biochemisch den Menschen: Göhring
generiert dazu Grundlagenwissen. Die Dimension des Effekts ist ebenso
Neuland wie das Zusammenspiel der Parameter, die ihn entstehen lassen, vom
Salzgehalt bis zur Landschaftsbeschaffenheit, vom Klimahintergrund bis zum
Wind.
„Es geht darum, das Große und Ganze zu verstehen“, sagt Göhring. Zugleich
hat sie ein Anwendungsziel im Blick: Berücksichtigt man den
„Sea-Spray“-Effekt bei der Untersuchung archäologischer Funde, etwa Knochen
und Zähnen, lassen sich genauere Erkenntnisse über das Alter der
Archivalien gewinnen.
## Einfluss der Gischt reicht weit
Und der Einfluss der Gischt reicht weit. „Teils ist er bis zu 100 Kilometer
landeinwärts nachweisbar, teils sogar noch weiter“, sagt Göhring. „Das
verblüfft viele. Aber wenn man bedenkt, dass hier bei uns mitunter Sand aus
der Sahara niedergeht, kann man das gut nachvollziehen. Und Sandkörner sind
ja weit schwerer als Gischttropfen.“ Derzeit baut Göhring an der CAU eine
im Zuge des [2][Emmy-Noether-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft
(DFG)] geförderte interdisziplinäre „Nachwuchsgruppe“ auf.
„Die Pilotstudie, damals noch in München, war sehr gut gelaufen“, sagt
Göhring. „Aber ob die Bewerbung auf die DFG-Förderung glückt, weiß man
natürlich nicht. Da heißt es: Versuchen und hoffen.“ Göhring hat es
versucht, hatte Erfolg: Rund 1,9 Millionen Euro stehen ihr jetzt zur
Verfügung, für sechs Jahre. Das Projekt qualifiziert, wie immer beim
Emmy-Noether-Programm, für eine Hochschul-Professur.
Göhring entnimmt an [3][Nord- und Ostsee] Pflanzenproben, zudem Boden- und
Wasserproben von ihrem Wuchsort. Sie entnimmt auch Proben von Säugetieren,
die in Küstennähe leben. Hinzu kommen Versuche in der Klimakammer in einem
Gewächshaus der CAU, um den Gischt-Effekt unter Laborbedingungen zu
beobachten. Hier besprüht Göhring Strandhafer, Emmer-Getreide und Binsen
mit Meerwasser; bei der Kontrollgruppe kommt Leitungswasser zum Einsatz.
Dann wird eine Isotopenanalyse vorgenommen.
## Kartierung lokaler Gischtsignale
Ein Ziel der Forschungsgruppe ist eine Kartierung lokaler Gischtsignale.
Eine Modellierung, ein Computerjob. Damit endet, nach drei Jahren, Phase 1
des Projekts. Phase 2 gilt dem Transfer der Ergebnisse von Phase 1 auf
archäologische Funde. Eigene Grabungen gibt es dafür aber nicht. „Wir
greifen auf bereits archiviertes Material zurück“, sagt Göhring.
Und dann erzählt sie von [4][Haithabu an der Schlei], in
Schleswig-Holstein, dem legendären Wikinger-Handelsplatz zwischen
Skandinavien und Westeuropa, dem Baltikum. Als die Stadt 1066 geplündert
und niedergebrannt wurde, wurde sie nicht wiederaufgebaut – Schleswig
entstand, unmittelbar darauf, ganz in der Nähe.
Haithabu und Schleswig spielen auch in Göhrings Dissertation von 2019 eine
große Rolle; auch sie befasst sich mit „Isotopen-Fingerabdrücken“. Aus
beiden Städten liegen große Datensätze zu Tieren und Menschen vor, und das
erlaubt Göhring, Data-Mining anzuwenden, zur Erkennung von Mustern. Sie
arbeitet dafür mit dem Institut für Informatik der CAU zusammen.
Göhrings Isotopenanalysen tragen also nicht nur zum besseren Verständnis
der Kräfte des Meeres bei. Sie erweitern unser Wissen über unser Leben an
Land. Und sie dienen der Generierung des Wissens über den Einfluss der
Gischt – darüber, wie sie die Herkunfts- oder die Ernährungsrekonstruktion
beeinflusst, das mit Hilfe der Radiokohlenstoffdatierung (C-14) bestimmte
Alter archäologischer Funde. Das wird sich, wenn man den Gischt-Effekt
einbezieht, künftig exakter bestimmen lassen.
16 Aug 2024
## LINKS
[1] https://www.leibniz.uni-kiel.de/de/startseite
[2] https://www.dfg.de/de/foerderung/foerdermoeglichkeiten/programme/einzelfoer…
[3] /Nordsee-oder-Ostsee/!6023079
[4] /Deutsch-daenische-Nachbarschaft/!5649581
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
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