| # taz.de -- Lisa Paus' Kindergrundsicherung: Was am Ende übrig bleibt | |
| > Familienministerin Lisa Paus wollte mit der Kindergrundsicherung gegen | |
| > Kindesarmut ankämpfen. Doch das Großprojekt schrumpfte. Und jetzt? | |
| Bild: Familienministerin Lisa Paus im April im Familienministerium in Berlin | |
| Es ist Montag früh um 8.41 Uhr, als das Stichwort Kindergrundsicherung zum | |
| ersten Mal fällt. Der Reisebus von Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat | |
| Berlin-Mitte hinter sich gelassen und ist auf der Autobahn in Richtung | |
| Quedlinburg unterwegs. Es ist Ende Juli, eigentlich will Paus in den | |
| kommenden Tagen Initiativen im Osten besuchen und andere Schwerpunkte stark | |
| machen, den Kampf um die Demokratie und gegen Rechtsextremismus zum | |
| Beispiel. Aber immer wieder, teils bis in die Nacht, geht es zwischen Paus | |
| und den mitreisenden Journalist*innen um das zentrale Thema, an dem | |
| Paus gemessen wird: die Kindergrundsicherung. | |
| Die Familienministerin handle unüberlegt, dickköpfig und ungeschickt, so | |
| der Tenor sowohl in Medien wie in Teilen der Ampelkoalition. Ihr | |
| Kernprojekt habe sie damit in den Sand gesetzt. Die Sozialverbände | |
| urteilen, was von den Plänen noch übrig sei, habe mit einer | |
| Kindergrundsicherung „nichts zu tun“. Jenseits der Pressestelle heißt es | |
| selbst aus Paus’ eigenem Ministerium seit Monaten: Bei der | |
| Kindergrundsicherung gehe es nur noch um [1][„kontrolliertes Scheitern“]. | |
| Verlieren, aber nach Plan? Was bedeutet das für Kinder, von denen | |
| hierzulande jedes siebte armutsgefährdet ist? Und was für die Ministerin? | |
| Am ersten Abend ihrer Sommerreise sitzt Paus in Weimar bei einem Weißwein | |
| mit den Journalist*innen am Tisch. Oft beginnt sie eine Frage zu | |
| beantworten, hält inne, setzt nochmal neu an. Was ist jetzt also mit der | |
| Kindergrundsicherung? „Noch bin ich nicht da, wo ich hinwollte“, sagt Paus. | |
| „Aber wir werden einen Einstieg in die Kindergrundsicherung hinbekommen, | |
| der das Leben von Familien verbessert.“ | |
| Im laufenden Betrieb die eigene Niederlage einzugestehen, kommt in der | |
| Politik selten vor. Aber ein Jahr vor Ende der Legislatur hat Lisa Paus | |
| erkennbar ihre Akzente verschoben. Vom „größten sozialpolitischen Vorhaben | |
| der Bundesregierung“, als das die Kindergrundsicherung schon vor Paus’ | |
| Amtszeit von Spitzengrünen gelabelt wurde, ist nicht mehr die Rede. In der | |
| Sache versucht die Ministerin im Kampf gegen Kinderarmut zumindest noch | |
| kleine Erfolge ins Ziel zu bringen. In der Außendarstellung bemüht sie | |
| sich, gegen das Image als Fehlbesetzung anzuarbeiten – für ein Spitzenamt | |
| nicht geeignet und dem eigenen Großprojekt nicht gewachsen. | |
| ## Paus und die Kindergrundsicherung zu entkoppeln ist nicht einfach | |
| Nicht mehr zu oft über dieses Großprojekt sprechen, scheint die Devise zu | |
| lauten. Als ihr Pressechef erfährt, ein Porträt über Paus sei geplant, der | |
| Schwerpunkt solle auf der Kindergrundsicherung liegen, bemüht er sich, den | |
| Fokus zu verschieben. Er schickt ein vierseitiges Dokument – Überschrift | |
| „Das haben wir erreicht“ –, in dem Erfolge des Ministeriums in anderen | |
| Feldern aufgelistet und mit Häkchen versehen sind. Auf der Pressereise der | |
| Ministerin ist kein einziger Programmpunkt zum Thema Kinderarmut | |
| eingeplant; eine „Kinderchancen-Tour“ überlässt sie diesen Sommer ihrer | |
| Staatssekretärin. Spricht man mit Grünen, die Paus wohlgesonnen sind, | |
| mahnen auch die, auf die Kindergrundsicherung solle man sie auf keinen Fall | |
| reduzieren. | |
| Allerdings: Paus und die Kindergrundsicherung kommunikativ zu entkoppeln, | |
| ihr andere Schwerpunkte zuzuschreiben, ist nicht einfach. Im ersten | |
| Interview nach ihrem Amtsantritt im April 2022 hatte der Spiegel sie | |
| gefragt, was ihr gelingen müsse, damit sie ihre Amtszeit am Ende als | |
| erfolgreich bewerten werde. „Auf jeden Fall eine Kindergrundsicherung, die | |
| diesen Namen verdient“, sagte Paus. Nichts weiter. | |
| Tatsächlich hatten die Grünen sie wegen der Kindergrundsicherung überhaupt | |
| ins Amt gehievt. Begonnen hatte die Legislatur mit Familienministerin Anne | |
| Spiegel, die nach gerade einmal vier Monaten zurücktreten musste. Eine | |
| andere Frau aus dem linken Flügel sollte her. Geholt wurde Paus, eine | |
| öffentlich wenig bekannte, in der Politik aber anerkannte | |
| Finanzpolitikerin. | |
| Eine ideale Besetzung, so schien es im April 2022: Feministisch, direkt, | |
| zahlenaffin, Erfahrung als Abgeordnete im Land Berlin und im Bund. Und mit | |
| echtem Interesse an Verteilungsgerechtigkeit. Aufgewachsen im Emsland in | |
| einem katholischen Umfeld mit zwei Brüdern, der Vater stellte Baumaschinen | |
| her, interessierte sie sich als Jugendliche für die lateinamerikanische | |
| Befreiungstheologie, die bedingungslos für Arme eintritt. Während ihres | |
| Freiwilligen Sozialen Jahrs nach dem Abitur erlebte sie in einem | |
| Kinderheim, was Armut in der Praxis bedeutet. | |
| Aus der Kirche ist sie längst ausgetreten, soziale Gerechtigkeit blieb ihr | |
| Thema. Als junge Landespolitikerin, Schwerpunkt Bildung, war Paus | |
| erbitterte Gegnerin von Studiengebühren. Als sie 2009 in den Bundestag | |
| einzog, schnappte sie sich direkt einen Platz im Finanzausschuss; stieg | |
| intensiv in die komplexe Materie um Kindergeld, Kinderfreibetrag und andere | |
| Leistungen für Familien ein. „Da habe ich das zum ersten Mal wirklich | |
| verstanden. Seitdem habe ich intensiv daran gearbeitet“, sagt sie. | |
| Die Idee einer Kindergrundsicherung kursierte auch damals schon, in der | |
| Zivilgesellschaft wie in der Partei. Ein detailliertes Konzept schrieben | |
| die Grünen ab 2013, nachdem sie mal wieder eine Bundestagswahl verloren | |
| hatten und ihre Sozialpolitik besser untermauern wollten. Paus war in der | |
| zuständigen Arbeitsgruppe federführend. | |
| ## Ein Fehler, alles auf eine Karte zu setzen | |
| Jahre später war das ein entscheidendes Argument für den Posten in der | |
| Regierung. Andererseits: Das Portfolio des Familienministeriums ist breit. | |
| Mit vielen der übrigen Themengebiete verband Paus beim Amtsantritt deutlich | |
| weniger. Heute heißt es in Teilen des Ministeriums, es sei ein Fehler von | |
| Paus gewesen, damals alles auf eine Karte zu setzen. Andere Projekte habe | |
| die Ministerin jetzt „nicht mehr in der Pipeline“. | |
| Und die Erfolgsliste ihres Pressesprechers? Abgehakt etwa ist das | |
| Selbstbestimmungsgesetz, mit dem trans, inter und nonbinäre Personen ihren | |
| Geschlechtseintrag einfacher ändern können. Zudem wurde der Paragraf 219a | |
| gestrichen, der es Ärzt*innen verboten hatte, auf ihren Websites über | |
| Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. | |
| Doch einiges irritiert: Ein Haken am Demokratiefördergesetz, weil es vom | |
| Kabinett beschlossen wurde? Im Bundestag hängt es fest. Ein Haken an der | |
| Umsetzung der Konvention des Europarats gegen Gewalt gegen Frauen? Einzelne | |
| Punkte sind zwar erledigt, Tausende Frauenhausplätze aber fehlen, der | |
| entsprechende Gesetzentwurf liegt noch nicht einmal vor. Ein Haken hinter | |
| der Regierungskommission, die prüfen sollte, ob Schwangerschaftsabbrüche | |
| aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden können? Eine Empfehlung der | |
| Kommission gibt es inzwischen – mit ihr passiert aber nichts. | |
| Nichts, was die Ministerin vorzuweisen hätte, ist groß genug, um den Fokus | |
| vom zentralen Projekt abzulenken. Tatsache ist aber, dass seit der | |
| Bundestagswahl immer kleiner und kleiner wurde, was die Grünen als | |
| Kindergrundsicherung im Sinn hatten. Ursprünglich, so deren Plan, sollten | |
| alle bisherigen Leistungen für Familien in einer neuen gebündelt werden. Es | |
| ging um die Bürgergeldsätze für Kinder, das Kindergeld und den | |
| Kinderfreibetrag, von dem Gutverdiener*innen profitieren. Die künftige | |
| Leistung sollte aus einem Garantiebetrag für alle und einem Zusatzbetrag | |
| für Bedürftige bestehen, dessen Höhe deutlich über dem aktuellen Niveau | |
| liegen sollte. Die Auszahlung des Geldes sollte automatisch passieren. | |
| Seit den Koalitionsverhandlungen aber bröckelte die Idee. Fürs erste wurde | |
| der Kinderfreibetrag ausgeklammert, sodass Gutverdienende weiter | |
| bessergestellt bleiben. Bald war auch keine Rede mehr davon, dass das | |
| Existenzminimum neu berechnet, die Gelder deshalb deutlich erhöht werden | |
| sollten. Die automatische Auszahlung wird es so nicht geben. Dass die | |
| ärmsten Kinder aus dem stigmatisierten Bürgergeld in die | |
| Kindergrundsicherung wandern, hat sich vorläufig auch erledigt. | |
| Gründe dafür, das Großprojekt auf Kleinformat zu schrumpfen, gibt es viele. | |
| Weil sich die Grünen mit der Kindergrundsicherung sozialpolitisch | |
| Glaubwürdigkeit erarbeiten wollten, wälzte die SPD die Verantwortung auf | |
| den kleineren Koalitionspartner ab. Und mit der FDP ist ein Sozialprojekt | |
| dieser Größenordnung kaum umzusetzen. | |
| ## Möglich, dass die Botschaft zu blass blieb | |
| Das Geld war schon zu Beginn knapp. „Ich kam ins Ministerium, und das | |
| erste, was ich festgestellt habe, war: Für die Kindergrundsicherung war | |
| keine finanzielle Vorsorge getroffen“, sagt Lisa Paus heute über die Tage | |
| nach ihrem Amtsantritt. Der Krieg in der Ukraine strapazierte die Finanzen | |
| weiter. | |
| Möglich, dass auch die Botschaft zu blass blieb, um das Vorhaben zu | |
| vermitteln – seit nicht mehr die Rede davon war, „Kinder aus der Armut“ | |
| holen zu wollen und in der Öffentlichkeit vor allem mit bürokratischen | |
| Begrifflichkeiten operiert wurde, wusste kaum jemand, was gemeint war. | |
| Anders als etwa Franziska Giffey (SPD), die klingende Namen für sperrige | |
| Gesetze erfand und tantenhaft-fürsorglich Betroffenheit performte, fällt es | |
| Paus schwer, Emotion zu transportieren. Man mag kritisieren, dass Politik | |
| Emotion und Inszenierung braucht. Ignorieren kann man es nicht. | |
| Bei einem Termin am Gedenkweg Buchenwaldbahn während der Sommerreise | |
| spricht Paus mit internationalen Freiwilligen. Gedenksteine für im | |
| Nationalsozialismus ermordete Kinder werden mit deren Namen bemalt, auch | |
| Paus zieht im stillen, lichtdurchfluteten Wald Buchstaben mit Farbe nach. | |
| Ein Mädchen erzählt von seinem Großvater, der im NS umkam – doch Paus | |
| reagiert kaum, sondern fragt nach den Rahmenbedingungen des Programms, mit | |
| dem die Jugendliche vor Ort ist. | |
| Im direkten Kontakt bleiben Gespräche oft spröde, vor Publikum hakt die | |
| Präsentation: Bei einem Kinderfest im wohlhabenden Berliner Südwesten | |
| Anfang Juni hält Paus eine Rede über Rechte von Kindern. Inmitten des | |
| idyllischen Geländes ist eine kleine Bühne aufgebaut, auf ein paar | |
| Holzbänken davor sitzen Eltern und Kinder. | |
| „Ja hallo, guten Tach“, beginnt Paus, „gefällt es euch hier?“. Aber das | |
| Fest ist laut, das Mikro zu leise und die Ministerin kaum zu hören. Die | |
| Kinder hampeln auf den Bänken herum, die Eltern schauen ratlos in die Luft. | |
| Die wenigsten registrieren, dass da gerade die amtierende | |
| Bundesfamilienministerin eine eigentlich schöne Rede hält. | |
| ## „Mancher sagt, ich sei keine Rampensau“ | |
| Termine wie diese könnten Selbstläufer sein für eine Familienministerin, | |
| die Wohlgesonnenen ihre Herzensprojekte präsentiert. Doch selten macht Paus | |
| bei öffentlichen Auftritten den Eindruck, als würde sie sich gänzlich wohl | |
| fühlen, als sei sie vollständig in ihrem Element. Auch Paus selbst ist das | |
| bewusst: „Mancher sagt, ich sei keine Rampensau“, sagt sie, „das kann man | |
| so sehen. Aber ich bringe meine Vorhaben in Verantwortung gegenüber den | |
| Bürgerinnen und Bürgern voran.“ | |
| Möglicherweise wäre das Projekt Kindergrundsicherung noch nicht einmal | |
| geglückt, wenn die Ministerin perfekt kommunizierte, das Geld sprudelte, | |
| die Koalition harmonierte. Selbst einstige Verfechter der | |
| Kindergrundsicherung gestehen mittlerweile ein, sie hätten „die Komplexität | |
| dieser Reform heillos unterschätzt“, wie Georg Cremer, Professor für | |
| Volkswirtschaftslehre und ehemaliger Generalsekretär des Deutschen | |
| Caritasverbands, bei einer Fachdebatte im Mai. Das Projekt sei mit | |
| „unrealistischen Erwartungen überfrachtet“. | |
| „Eine schöne Erzählung“ sei das Ganze, sagt auch eine Juristin, die tief … | |
| der Materie steckt. Doch niemals habe es ein auch nur annähernd umsetzbares | |
| Konzept dafür gegeben. Fraglich etwa sei, wenden Fachleute ein, ob die | |
| ursprünglich geplante automatische Auszahlung der Leistungen überhaupt | |
| möglich sei. Denn der größte Teil der Daten, die es dazu brauche, könne gar | |
| nicht automatisch abgefragt werden. Wie soll ein Amt wissen, ob eine | |
| Familie tatsächlich noch zusammen wohnt oder etwa der Vater nach einer | |
| Trennung schon ausgezogen ist? Ob die Tochter gerade BaföG beantragt hat? | |
| Mit einem Klick ist so etwas kaum zu machen. | |
| Auch die komplexe Architektur deutscher Sozialsysteme arbeitet gegen das | |
| Projekt. Wer wie bei der Kindergrundsicherung verschiedene Leistungen | |
| bündeln will, muss sich dafür erst mal mit Ministerien und Behörden | |
| unterschiedlicher Ebenen auseinandersetzen. Gewachsene Strukturen umbauen, | |
| also Geld und Macht von der einen Stelle zur anderen verschieben – kann das | |
| eine Ministerin innerhalb einer Legislatur vollbringen? | |
| Waren es also illusorische Erwartungen, mit denen Paus an den Start ging? | |
| Denn dazu kommt ja auch noch: den Behörden Digitalisierung zu verordnen, | |
| ganze Tanker also mit eigener IT zukunftsfähig zu machen. | |
| Verfassungsbedenken auszuräumen, weil Bund-Länder-Zuständigkeiten strittig | |
| sind. | |
| ## Den Entwurf entgegen besseren Rates durchs Kabinett gepeitscht | |
| Paus selbst jedenfalls gelangte nicht zu dieser Einschätzung, als es in den | |
| Monaten nach ihrem Amtsantritt an die Umsetzung des Projekts ging. Sie | |
| trieb es voran, legte Eckpunkte vor, brachte einen Gesetzesentwurf durchs | |
| Kabinett. Seit bald einem Jahr hängt dieser nun im Bundestag fest. Die | |
| einhellige Meinung schon während einer ersten Anhörung von Sachverständigen | |
| im Parlament: Er trägt nicht. Statt das System zu vereinfachen, würde er es | |
| für alle komplizierter machen. Eltern und Ämter hätten nicht weniger, | |
| sondern mehr Arbeit. Und viele Kinder am Ende nicht mehr Geld. | |
| Immer unverhohlener hieß es von Fachpolitiker*innen aus SPD und FDP: | |
| Mit diesem Entwurf [2][könne man nicht arbeiten]. Seit Monaten beschäftigen | |
| sich Verhandler*innen der Fraktionen damit, das Gesetz grundlegend zu | |
| überarbeiten – bislang ohne finale Einigung. Allein die fachlichen | |
| Nachfragen ans Ministerium und dessen Antworten füllen in Bundestagsbüros | |
| ganze Aktenordner. | |
| Die Ministerin selbst, die doch so viel auf ihre Genauigkeit gibt, | |
| verteidigt sich. „Der Gesetzentwurf wurde sorgfältig in der Bundesregierung | |
| abgestimmt, insbesondere mit dem Bundeskanzler, dem Finanzminister und dem | |
| Arbeitsminister. Es ist der gemeinsame Entwurf der Bundesregierung“, sagt | |
| sie. „Das hinzubekommen war ein erster Erfolg bei der Komplexität des | |
| Vorhabens. Ob es da Schwachstellen gibt, ist immer auch eine politische | |
| Einschätzung.“ | |
| Viele Abgeordnete der Ampel wollen das aber nicht gelten lassen. Paus habe | |
| den Entwurf entgegen besseren Rates durchs Kabinett gepeitscht. Damit trage | |
| sie auch die Verantwortung. | |
| So oder so: Die Probleme sind da. Eine Mehrheit für Paus’ ursprünglichen | |
| Entwurf wird es in diesem Bundestag nicht geben. Ein Stück weit hat sich | |
| mittlerweile sogar sie selbst vom großen Wurf verabschiedet – auch wenn sie | |
| es anders formuliert. | |
| ## Die Revolution des Systems? | |
| Ein Gespräch mit der Ministerin Anfang Juli in ihrem Berliner Büro. Sie | |
| wirkt gelassen und gut gelaunt, trotz allem. Wenige Tage zuvor haben sich | |
| die Koalitionsspitzen auf die [3][Grundzüge des Haushalts] verständigt. Von | |
| der Kindergrundsicherung ist nur noch am Rande die Rede, etwas Geld für | |
| Kinder aber steckt immerhin drin. „Die Kindergrundsicherung wird es geben“, | |
| beharrt Paus nun. Der neue Spin seit Juli: „Wir führen sie in zwei Stufen | |
| ein.“ | |
| Zusammen mit der Grünen-Fraktion habe sie diese Idee entworfen. Statt das | |
| System zu ändern, sind vorerst Verbesserungen im bestehenden System das | |
| Ziel, zum Beispiel beim Kinderzuschlag. Diesen Aufschlag aufs Kindergeld in | |
| Höhe von bis zu 292 Euro gibt es schon – für Familien, die wenig verdienen, | |
| aber zu viel fürs Bürgergeld. Doch die weitaus meisten, die den Zuschlag | |
| bekommen könnten, wissen nichts davon und beantragen ihn deshalb erst gar | |
| nicht. | |
| Beantragt eine Familie Kindergeld, soll das Amt künftig unverbindlich | |
| errechnen, ob ein Anrecht auch auf den Zuschlag bestehen könnte. Mit | |
| Erlaubnis der Familie würden manche dafür nötigen Daten von anderen | |
| Behörden abgerufen. Eine Schnittstelle zur Rentenversicherung etwa ist | |
| denkbar, wodurch zumindest das vergangene Einkommen vorliegt. Die Höhe der | |
| Miete könnte durch die Eingabe der Postleitzahl zudem geschätzt werden. | |
| Wenn schließlich die Chancen auf den Zuschlag gut stehen, bekäme die | |
| Familie Post – mit einem vorausgefüllten Formular, das nur noch ergänzt | |
| werden muss. | |
| Einigt sich die Ampel nach der Sommerpause auf die Grundlagen für diesen | |
| sogenannten Kindergrundsicherungscheck, und schaffen es die Behörden, ihn | |
| umzusetzen, ginge es Hunderttausenden Kindern tatsächlich besser. Die Summe | |
| der Leistungen, die abgerufen würden und qua Gesetz ausgezahlt werden | |
| müssten, könnte dann rapide steigen. Statt bei den 2,4 Milliarden Euro | |
| Mehrkosten, die voriges Jahr für die Kindergrundsicherung bewilligt wurden, | |
| läge sie möglicherweise nahe der zwölf Milliarden, die Paus ursprünglich | |
| gefordert hatte. Zudem hat die Koalition [4][für die ärmsten Familien] im | |
| Bürgergeld und ohne Anrecht auf den Zuschlag schon zu Beginn der Legislatur | |
| eine kleine Verbesserung in Höhe von 20 Euro beschlossen, die nun | |
| verstetigt und um weitere 5 Euro erhöht wird – was angesichts der Inflation | |
| aber gerade mal ein Ausgleich sein kann. | |
| Und die große Reform, die Revolution des Systems? Offiziell schließt Paus | |
| nicht aus, dass die Zusammenlegung der verschiedenen Leistungen und deren | |
| Auszahlung durch eine einzige Stelle im Herbst noch beschlossen, wenn auch | |
| in dieser Legislatur nicht mehr umgesetzt wird. Nahezu unmöglich ist es | |
| trotzdem. | |
| ## „Man könnte auch sagen, ich bin eine toughe Verhandlerin“ | |
| Was nach dem Sommer also noch drin ist, ist beileibe nicht Nichts. Das | |
| Problem aber: Mit dem Versprechen einer großen Sozialreform, die das Ende | |
| von Kinderarmut hätte einleiten sollen, hatten die Grünen die Latte weit | |
| höher gehängt. So ist die Geschichte der Kindergrundsicherung auch eine | |
| über Erwartungsmanagement in der Politik: Wer zu hoch pokert, kann die | |
| Erfolge später kaum noch verkaufen. Doch auch diese Perspektive gibt es | |
| unter Grünen: Mit Kuschelkurs und ohne Paus’ Poker wären in dieser | |
| Koalition nicht einmal kleine Schritte möglich gewesen. | |
| Für Paus geht es nun auch um ihr Image. Was ihr medial oft zugeschrieben | |
| werde – konfrontativ, dickköpfig – erlebe sie zumindest in Teilen als | |
| geschlechterkonnotierte Debatte, sagt sie. „Über Kollege Lindner heißt es, | |
| dass er hart verhandelt – von Starrsinnigkeit ist da nicht die Rede. Man | |
| könnte auch sagen, ich bin eine toughe Verhandlerin.“ | |
| Tatsache ist, Konflikten geht Paus nicht aus dem Weg. Im Sommer 2023 | |
| blockierte sie öffentlichkeitswirksam eines von Lindners Gesetzen, um Geld | |
| für die Kindergrundsicherung herauszuschlagen. Medial prägte nicht zuletzt | |
| diese Aktion das Image der Ministerin, die mit dem Kopf durch die Wand will | |
| und das nicht schafft. | |
| Im Bundestag gibt es auch eine andere Perspektive. Die SPD-Abgeordnete Leni | |
| Breymaier etwa sagt, dass sich Paus auch durch Konfrontationen wie diese | |
| ein Standing in der Koalition erarbeitet habe. „Lisa Paus ist nicht so | |
| leicht zu erschüttern“, bestätigt Andreas Audretsch, der als | |
| Grünen-Fraktionsvize mit in den Verhandlungen sitzt und wie die Ministerin | |
| aus dem linken Parteiflügel kommt. „Genau das ist es, was wir im Kampf | |
| gegen Kinderarmut brauchen: eine Person, die nicht beim ersten Windstoß | |
| umfällt.“ Zu glauben, dass die Bekämpfung von Armut ohne Widerstände | |
| funktioniere, wäre naiv. Dank Paus sei es zuletzt trotz hartem Gegenwind | |
| gelungen, im Haushalt die Grundlagen für den Start der Kindergrundsicherung | |
| zu legen. | |
| ## Weg vom Konflikt, hin zum Kompromiss | |
| Fragt man Vertreter*innen der Grünen-Realos nach ihrer Meinung zu Paus, | |
| wollen diese selten zitiert werden, rollen aber oft mit den Augen. Die | |
| offene Konfrontation helfe nicht beim Versuch, in neue Milieus | |
| vorzudringen. In der Sache habe Paus das Kräftemessen mit Lindner auch | |
| nicht so weit gebracht. | |
| Folgt man Erzählungen aus FDP-Kreisen, hat sich die Ministerin mit ihrer | |
| Konfliktführung tatsächlich nicht immer einen Gefallen getan. Einen starken | |
| Willen brauche man im politischen Geschäft, sagt ein Fraktionsmitglied. | |
| „Wenn man nicht bereit ist zu kämpfen, kann man es sein lassen. Sie findet | |
| nur nicht die richtigen Momente für konstruktive Kompromisse.“ Es sei | |
| ärgerlich gewesen, dass sich Paus immer wieder öffentlich in die laufenden | |
| Verhandlungen eingemischt habe; dass Antworten des Ministeriums auf | |
| Prüfaufträge der Abgeordneten erst in der Presse landeten und dann im | |
| Bundestag. Die Kompromissbereitschaft der Koalitionspartner habe das nicht | |
| erhöht. | |
| So gereizt war irgendwann die Stimmung auch in der Ampel, dass selbst | |
| Kleinigkeiten zu Krisen führten. Zuletzt zeigte das die Debatte um | |
| [5][5.000 zusätzliche Stellen] für die Kindergrundsicherung im April. Wie | |
| nebenbei hatte Paus die Zahl in einem Interview erwähnt. Schon Monate zuvor | |
| hatte die Bundesagentur für Arbeit diesen Bedarf ermittelt, er war allen | |
| Beteiligten bekannt. Aber ein System mit mehr Personal zu verschlanken ist | |
| öffentlich schwer vermittelbar und die Zahl neu aufzuwärmen, während die | |
| Abgeordneten doch gerade über grundlegende Änderungen an den Plänen | |
| verhandelten, kam in der Koalition nicht gut an. Paus [6][ruderte zurück]. | |
| Ein Wendepunkt für die Kommunikation: weg vom Konflikt, hin zum Kompromiss. | |
| Als Paus kurz darauf zur Regierungsbefragung im Bundestag erscheinen muss, | |
| grillen die Abgeordneten der Opposition sie mit Fragen zur | |
| Kindergrundsicherung. In ihren Antworten geht Paus nicht tief in die | |
| Materie. Sobald es kritisch wird, wiederholt sie in Varianten immer wieder | |
| einen Satz: Wie das Gesetz am Ende aussehen wird, obliege den Beratungen | |
| des Parlaments. Auch in Interviews verweist sie von nun an auf den | |
| Bundestag, vermeidet damit neue Spannung und versucht die Verantwortung für | |
| die Kindergrundsicherung gleichzeitig ein Stück weit von sich zu schieben. | |
| Paus sei nicht nur standhaft, sagen wohlgesinnte Grüne jetzt. Pragmatisch | |
| sei sie auch. | |
| Obwohl Lisa Paus und die Kindergrundsicherung von vielen für gescheitert | |
| erklärt werden, obwohl sie wenn, dann nur einen Teilerfolg erringt, obwohl | |
| Bündnispartner wie die [7][Sozialverbände vom Ergebnis enttäuscht] sind: | |
| Anders als Habeck oder Baerbock wird Paus nicht der Vorwurf gemacht, in der | |
| Sache klein beigegeben zu haben. Gekämpft und bei sich geblieben: Das | |
| Kernklientel könnte das schätzen. Aber im großen Stil [8][Kinder aus der | |
| Armut] zu holen – das hat Lisa Paus nicht geschafft. | |
| 10 Aug 2024 | |
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| [1] /Haushalt-2025/!6021057 | |
| [2] /Lindner-findet-Kindergrundsicherung-doof/!6023230 | |
| [3] /Neuer-Streit-um-Bundeshaushalt/!6025199 | |
| [4] /Studie-ueber-Alleinerziehende/!6019021 | |
| [5] /Streit-ueber-Kindergrundsicherung/!5999767 | |
| [6] /Streit-in-der-Ampel-Koalition/!6000426 | |
| [7] /Regierungsplaene-zur-Kindergrundsicherung/!6024685 | |
| [8] /Sozialverband-stellt-Bericht-vor/!5997824 | |
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| Luisa Neubauer | |
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