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# taz.de -- Lisa Paus' Kindergrundsicherung: Was am Ende übrig bleibt
> Familienministerin Lisa Paus wollte mit der Kindergrundsicherung gegen
> Kindesarmut ankämpfen. Doch das Großprojekt schrumpfte. Und jetzt?
Bild: Familienministerin Lisa Paus im April im Familienministerium in Berlin
Es ist Montag früh um 8.41 Uhr, als das Stichwort Kindergrundsicherung zum
ersten Mal fällt. Der Reisebus von Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat
Berlin-Mitte hinter sich gelassen und ist auf der Autobahn in Richtung
Quedlinburg unterwegs. Es ist Ende Juli, eigentlich will Paus in den
kommenden Tagen Initiativen im Osten besuchen und andere Schwerpunkte stark
machen, den Kampf um die Demokratie und gegen Rechtsextremismus zum
Beispiel. Aber immer wieder, teils bis in die Nacht, geht es zwischen Paus
und den mitreisenden Journalist*innen um das zentrale Thema, an dem
Paus gemessen wird: die Kindergrundsicherung.
Die Familienministerin handle unüberlegt, dickköpfig und ungeschickt, so
der Tenor sowohl in Medien wie in Teilen der Ampelkoalition. Ihr
Kernprojekt habe sie damit in den Sand gesetzt. Die Sozialverbände
urteilen, was von den Plänen noch übrig sei, habe mit einer
Kindergrundsicherung „nichts zu tun“. Jenseits der Pressestelle heißt es
selbst aus Paus’ eigenem Ministerium seit Monaten: Bei der
Kindergrundsicherung gehe es nur noch um [1][„kontrolliertes Scheitern“].
Verlieren, aber nach Plan? Was bedeutet das für Kinder, von denen
hierzulande jedes siebte armutsgefährdet ist? Und was für die Ministerin?
Am ersten Abend ihrer Sommerreise sitzt Paus in Weimar bei einem Weißwein
mit den Journalist*innen am Tisch. Oft beginnt sie eine Frage zu
beantworten, hält inne, setzt nochmal neu an. Was ist jetzt also mit der
Kindergrundsicherung? „Noch bin ich nicht da, wo ich hinwollte“, sagt Paus.
„Aber wir werden einen Einstieg in die Kindergrundsicherung hinbekommen,
der das Leben von Familien verbessert.“
Im laufenden Betrieb die eigene Niederlage einzugestehen, kommt in der
Politik selten vor. Aber ein Jahr vor Ende der Legislatur hat Lisa Paus
erkennbar ihre Akzente verschoben. Vom „größten sozialpolitischen Vorhaben
der Bundesregierung“, als das die Kindergrundsicherung schon vor Paus’
Amtszeit von Spitzengrünen gelabelt wurde, ist nicht mehr die Rede. In der
Sache versucht die Ministerin im Kampf gegen Kinderarmut zumindest noch
kleine Erfolge ins Ziel zu bringen. In der Außendarstellung bemüht sie
sich, gegen das Image als Fehlbesetzung anzuarbeiten – für ein Spitzenamt
nicht geeignet und dem eigenen Großprojekt nicht gewachsen.
## Paus und die Kindergrundsicherung zu entkoppeln ist nicht einfach
Nicht mehr zu oft über dieses Großprojekt sprechen, scheint die Devise zu
lauten. Als ihr Pressechef erfährt, ein Porträt über Paus sei geplant, der
Schwerpunkt solle auf der Kindergrundsicherung liegen, bemüht er sich, den
Fokus zu verschieben. Er schickt ein vierseitiges Dokument – Überschrift
„Das haben wir erreicht“ –, in dem Erfolge des Ministeriums in anderen
Feldern aufgelistet und mit Häkchen versehen sind. Auf der Pressereise der
Ministerin ist kein einziger Programmpunkt zum Thema Kinderarmut
eingeplant; eine „Kinderchancen-Tour“ überlässt sie diesen Sommer ihrer
Staatssekretärin. Spricht man mit Grünen, die Paus wohlgesonnen sind,
mahnen auch die, auf die Kindergrundsicherung solle man sie auf keinen Fall
reduzieren.
Allerdings: Paus und die Kindergrundsicherung kommunikativ zu entkoppeln,
ihr andere Schwerpunkte zuzuschreiben, ist nicht einfach. Im ersten
Interview nach ihrem Amtsantritt im April 2022 hatte der Spiegel sie
gefragt, was ihr gelingen müsse, damit sie ihre Amtszeit am Ende als
erfolgreich bewerten werde. „Auf jeden Fall eine Kindergrundsicherung, die
diesen Namen verdient“, sagte Paus. Nichts weiter.
Tatsächlich hatten die Grünen sie wegen der Kindergrundsicherung überhaupt
ins Amt gehievt. Begonnen hatte die Legislatur mit Familienministerin Anne
Spiegel, die nach gerade einmal vier Monaten zurücktreten musste. Eine
andere Frau aus dem linken Flügel sollte her. Geholt wurde Paus, eine
öffentlich wenig bekannte, in der Politik aber anerkannte
Finanzpolitikerin.
Eine ideale Besetzung, so schien es im April 2022: Feministisch, direkt,
zahlenaffin, Erfahrung als Abgeordnete im Land Berlin und im Bund. Und mit
echtem Interesse an Verteilungsgerechtigkeit. Aufgewachsen im Emsland in
einem katholischen Umfeld mit zwei Brüdern, der Vater stellte Baumaschinen
her, interessierte sie sich als Jugendliche für die lateinamerikanische
Befreiungstheologie, die bedingungslos für Arme eintritt. Während ihres
Freiwilligen Sozialen Jahrs nach dem Abitur erlebte sie in einem
Kinderheim, was Armut in der Praxis bedeutet.
Aus der Kirche ist sie längst ausgetreten, soziale Gerechtigkeit blieb ihr
Thema. Als junge Landespolitikerin, Schwerpunkt Bildung, war Paus
erbitterte Gegnerin von Studiengebühren. Als sie 2009 in den Bundestag
einzog, schnappte sie sich direkt einen Platz im Finanzausschuss; stieg
intensiv in die komplexe Materie um Kindergeld, Kinderfreibetrag und andere
Leistungen für Familien ein. „Da habe ich das zum ersten Mal wirklich
verstanden. Seitdem habe ich intensiv daran gearbeitet“, sagt sie.
Die Idee einer Kindergrundsicherung kursierte auch damals schon, in der
Zivilgesellschaft wie in der Partei. Ein detailliertes Konzept schrieben
die Grünen ab 2013, nachdem sie mal wieder eine Bundestagswahl verloren
hatten und ihre Sozialpolitik besser untermauern wollten. Paus war in der
zuständigen Arbeitsgruppe federführend.
## Ein Fehler, alles auf eine Karte zu setzen
Jahre später war das ein entscheidendes Argument für den Posten in der
Regierung. Andererseits: Das Portfolio des Familienministeriums ist breit.
Mit vielen der übrigen Themengebiete verband Paus beim Amtsantritt deutlich
weniger. Heute heißt es in Teilen des Ministeriums, es sei ein Fehler von
Paus gewesen, damals alles auf eine Karte zu setzen. Andere Projekte habe
die Ministerin jetzt „nicht mehr in der Pipeline“.
Und die Erfolgsliste ihres Pressesprechers? Abgehakt etwa ist das
Selbstbestimmungsgesetz, mit dem trans, inter und nonbinäre Personen ihren
Geschlechtseintrag einfacher ändern können. Zudem wurde der Paragraf 219a
gestrichen, der es Ärzt*innen verboten hatte, auf ihren Websites über
Schwangerschaftsabbrüche zu informieren.
Doch einiges irritiert: Ein Haken am Demokratiefördergesetz, weil es vom
Kabinett beschlossen wurde? Im Bundestag hängt es fest. Ein Haken an der
Umsetzung der Konvention des Europarats gegen Gewalt gegen Frauen? Einzelne
Punkte sind zwar erledigt, Tausende Frauenhausplätze aber fehlen, der
entsprechende Gesetzentwurf liegt noch nicht einmal vor. Ein Haken hinter
der Regierungskommission, die prüfen sollte, ob Schwangerschaftsabbrüche
aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden können? Eine Empfehlung der
Kommission gibt es inzwischen – mit ihr passiert aber nichts.
Nichts, was die Ministerin vorzuweisen hätte, ist groß genug, um den Fokus
vom zentralen Projekt abzulenken. Tatsache ist aber, dass seit der
Bundestagswahl immer kleiner und kleiner wurde, was die Grünen als
Kindergrundsicherung im Sinn hatten. Ursprünglich, so deren Plan, sollten
alle bisherigen Leistungen für Familien in einer neuen gebündelt werden. Es
ging um die Bürgergeldsätze für Kinder, das Kindergeld und den
Kinderfreibetrag, von dem Gutverdiener*innen profitieren. Die künftige
Leistung sollte aus einem Garantiebetrag für alle und einem Zusatzbetrag
für Bedürftige bestehen, dessen Höhe deutlich über dem aktuellen Niveau
liegen sollte. Die Auszahlung des Geldes sollte automatisch passieren.
Seit den Koalitionsverhandlungen aber bröckelte die Idee. Fürs erste wurde
der Kinderfreibetrag ausgeklammert, sodass Gutverdienende weiter
bessergestellt bleiben. Bald war auch keine Rede mehr davon, dass das
Existenzminimum neu berechnet, die Gelder deshalb deutlich erhöht werden
sollten. Die automatische Auszahlung wird es so nicht geben. Dass die
ärmsten Kinder aus dem stigmatisierten Bürgergeld in die
Kindergrundsicherung wandern, hat sich vorläufig auch erledigt.
Gründe dafür, das Großprojekt auf Kleinformat zu schrumpfen, gibt es viele.
Weil sich die Grünen mit der Kindergrundsicherung sozialpolitisch
Glaubwürdigkeit erarbeiten wollten, wälzte die SPD die Verantwortung auf
den kleineren Koalitionspartner ab. Und mit der FDP ist ein Sozialprojekt
dieser Größenordnung kaum umzusetzen.
## Möglich, dass die Botschaft zu blass blieb
Das Geld war schon zu Beginn knapp. „Ich kam ins Ministerium, und das
erste, was ich festgestellt habe, war: Für die Kindergrundsicherung war
keine finanzielle Vorsorge getroffen“, sagt Lisa Paus heute über die Tage
nach ihrem Amtsantritt. Der Krieg in der Ukraine strapazierte die Finanzen
weiter.
Möglich, dass auch die Botschaft zu blass blieb, um das Vorhaben zu
vermitteln – seit nicht mehr die Rede davon war, „Kinder aus der Armut“
holen zu wollen und in der Öffentlichkeit vor allem mit bürokratischen
Begrifflichkeiten operiert wurde, wusste kaum jemand, was gemeint war.
Anders als etwa Franziska Giffey (SPD), die klingende Namen für sperrige
Gesetze erfand und tantenhaft-fürsorglich Betroffenheit performte, fällt es
Paus schwer, Emotion zu transportieren. Man mag kritisieren, dass Politik
Emotion und Inszenierung braucht. Ignorieren kann man es nicht.
Bei einem Termin am Gedenkweg Buchenwaldbahn während der Sommerreise
spricht Paus mit internationalen Freiwilligen. Gedenksteine für im
Nationalsozialismus ermordete Kinder werden mit deren Namen bemalt, auch
Paus zieht im stillen, lichtdurchfluteten Wald Buchstaben mit Farbe nach.
Ein Mädchen erzählt von seinem Großvater, der im NS umkam – doch Paus
reagiert kaum, sondern fragt nach den Rahmenbedingungen des Programms, mit
dem die Jugendliche vor Ort ist.
Im direkten Kontakt bleiben Gespräche oft spröde, vor Publikum hakt die
Präsentation: Bei einem Kinderfest im wohlhabenden Berliner Südwesten
Anfang Juni hält Paus eine Rede über Rechte von Kindern. Inmitten des
idyllischen Geländes ist eine kleine Bühne aufgebaut, auf ein paar
Holzbänken davor sitzen Eltern und Kinder.
„Ja hallo, guten Tach“, beginnt Paus, „gefällt es euch hier?“. Aber das
Fest ist laut, das Mikro zu leise und die Ministerin kaum zu hören. Die
Kinder hampeln auf den Bänken herum, die Eltern schauen ratlos in die Luft.
Die wenigsten registrieren, dass da gerade die amtierende
Bundesfamilienministerin eine eigentlich schöne Rede hält.
## „Mancher sagt, ich sei keine Rampensau“
Termine wie diese könnten Selbstläufer sein für eine Familienministerin,
die Wohlgesonnenen ihre Herzensprojekte präsentiert. Doch selten macht Paus
bei öffentlichen Auftritten den Eindruck, als würde sie sich gänzlich wohl
fühlen, als sei sie vollständig in ihrem Element. Auch Paus selbst ist das
bewusst: „Mancher sagt, ich sei keine Rampensau“, sagt sie, „das kann man
so sehen. Aber ich bringe meine Vorhaben in Verantwortung gegenüber den
Bürgerinnen und Bürgern voran.“
Möglicherweise wäre das Projekt Kindergrundsicherung noch nicht einmal
geglückt, wenn die Ministerin perfekt kommunizierte, das Geld sprudelte,
die Koalition harmonierte. Selbst einstige Verfechter der
Kindergrundsicherung gestehen mittlerweile ein, sie hätten „die Komplexität
dieser Reform heillos unterschätzt“, wie Georg Cremer, Professor für
Volkswirtschaftslehre und ehemaliger Generalsekretär des Deutschen
Caritasverbands, bei einer Fachdebatte im Mai. Das Projekt sei mit
„unrealistischen Erwartungen überfrachtet“.
„Eine schöne Erzählung“ sei das Ganze, sagt auch eine Juristin, die tief …
der Materie steckt. Doch niemals habe es ein auch nur annähernd umsetzbares
Konzept dafür gegeben. Fraglich etwa sei, wenden Fachleute ein, ob die
ursprünglich geplante automatische Auszahlung der Leistungen überhaupt
möglich sei. Denn der größte Teil der Daten, die es dazu brauche, könne gar
nicht automatisch abgefragt werden. Wie soll ein Amt wissen, ob eine
Familie tatsächlich noch zusammen wohnt oder etwa der Vater nach einer
Trennung schon ausgezogen ist? Ob die Tochter gerade BaföG beantragt hat?
Mit einem Klick ist so etwas kaum zu machen.
Auch die komplexe Architektur deutscher Sozialsysteme arbeitet gegen das
Projekt. Wer wie bei der Kindergrundsicherung verschiedene Leistungen
bündeln will, muss sich dafür erst mal mit Ministerien und Behörden
unterschiedlicher Ebenen auseinandersetzen. Gewachsene Strukturen umbauen,
also Geld und Macht von der einen Stelle zur anderen verschieben – kann das
eine Ministerin innerhalb einer Legislatur vollbringen?
Waren es also illusorische Erwartungen, mit denen Paus an den Start ging?
Denn dazu kommt ja auch noch: den Behörden Digitalisierung zu verordnen,
ganze Tanker also mit eigener IT zukunftsfähig zu machen.
Verfassungsbedenken auszuräumen, weil Bund-Länder-Zuständigkeiten strittig
sind.
## Den Entwurf entgegen besseren Rates durchs Kabinett gepeitscht
Paus selbst jedenfalls gelangte nicht zu dieser Einschätzung, als es in den
Monaten nach ihrem Amtsantritt an die Umsetzung des Projekts ging. Sie
trieb es voran, legte Eckpunkte vor, brachte einen Gesetzesentwurf durchs
Kabinett. Seit bald einem Jahr hängt dieser nun im Bundestag fest. Die
einhellige Meinung schon während einer ersten Anhörung von Sachverständigen
im Parlament: Er trägt nicht. Statt das System zu vereinfachen, würde er es
für alle komplizierter machen. Eltern und Ämter hätten nicht weniger,
sondern mehr Arbeit. Und viele Kinder am Ende nicht mehr Geld.
Immer unverhohlener hieß es von Fachpolitiker*innen aus SPD und FDP:
Mit diesem Entwurf [2][könne man nicht arbeiten]. Seit Monaten beschäftigen
sich Verhandler*innen der Fraktionen damit, das Gesetz grundlegend zu
überarbeiten – bislang ohne finale Einigung. Allein die fachlichen
Nachfragen ans Ministerium und dessen Antworten füllen in Bundestagsbüros
ganze Aktenordner.
Die Ministerin selbst, die doch so viel auf ihre Genauigkeit gibt,
verteidigt sich. „Der Gesetzentwurf wurde sorgfältig in der Bundesregierung
abgestimmt, insbesondere mit dem Bundeskanzler, dem Finanzminister und dem
Arbeitsminister. Es ist der gemeinsame Entwurf der Bundesregierung“, sagt
sie. „Das hinzubekommen war ein erster Erfolg bei der Komplexität des
Vorhabens. Ob es da Schwachstellen gibt, ist immer auch eine politische
Einschätzung.“
Viele Abgeordnete der Ampel wollen das aber nicht gelten lassen. Paus habe
den Entwurf entgegen besseren Rates durchs Kabinett gepeitscht. Damit trage
sie auch die Verantwortung.
So oder so: Die Probleme sind da. Eine Mehrheit für Paus’ ursprünglichen
Entwurf wird es in diesem Bundestag nicht geben. Ein Stück weit hat sich
mittlerweile sogar sie selbst vom großen Wurf verabschiedet – auch wenn sie
es anders formuliert.
## Die Revolution des Systems?
Ein Gespräch mit der Ministerin Anfang Juli in ihrem Berliner Büro. Sie
wirkt gelassen und gut gelaunt, trotz allem. Wenige Tage zuvor haben sich
die Koalitionsspitzen auf die [3][Grundzüge des Haushalts] verständigt. Von
der Kindergrundsicherung ist nur noch am Rande die Rede, etwas Geld für
Kinder aber steckt immerhin drin. „Die Kindergrundsicherung wird es geben“,
beharrt Paus nun. Der neue Spin seit Juli: „Wir führen sie in zwei Stufen
ein.“
Zusammen mit der Grünen-Fraktion habe sie diese Idee entworfen. Statt das
System zu ändern, sind vorerst Verbesserungen im bestehenden System das
Ziel, zum Beispiel beim Kinderzuschlag. Diesen Aufschlag aufs Kindergeld in
Höhe von bis zu 292 Euro gibt es schon – für Familien, die wenig verdienen,
aber zu viel fürs Bürgergeld. Doch die weitaus meisten, die den Zuschlag
bekommen könnten, wissen nichts davon und beantragen ihn deshalb erst gar
nicht.
Beantragt eine Familie Kindergeld, soll das Amt künftig unverbindlich
errechnen, ob ein Anrecht auch auf den Zuschlag bestehen könnte. Mit
Erlaubnis der Familie würden manche dafür nötigen Daten von anderen
Behörden abgerufen. Eine Schnittstelle zur Rentenversicherung etwa ist
denkbar, wodurch zumindest das vergangene Einkommen vorliegt. Die Höhe der
Miete könnte durch die Eingabe der Postleitzahl zudem geschätzt werden.
Wenn schließlich die Chancen auf den Zuschlag gut stehen, bekäme die
Familie Post – mit einem vorausgefüllten Formular, das nur noch ergänzt
werden muss.
Einigt sich die Ampel nach der Sommerpause auf die Grundlagen für diesen
sogenannten Kindergrundsicherungscheck, und schaffen es die Behörden, ihn
umzusetzen, ginge es Hunderttausenden Kindern tatsächlich besser. Die Summe
der Leistungen, die abgerufen würden und qua Gesetz ausgezahlt werden
müssten, könnte dann rapide steigen. Statt bei den 2,4 Milliarden Euro
Mehrkosten, die voriges Jahr für die Kindergrundsicherung bewilligt wurden,
läge sie möglicherweise nahe der zwölf Milliarden, die Paus ursprünglich
gefordert hatte. Zudem hat die Koalition [4][für die ärmsten Familien] im
Bürgergeld und ohne Anrecht auf den Zuschlag schon zu Beginn der Legislatur
eine kleine Verbesserung in Höhe von 20 Euro beschlossen, die nun
verstetigt und um weitere 5 Euro erhöht wird – was angesichts der Inflation
aber gerade mal ein Ausgleich sein kann.
Und die große Reform, die Revolution des Systems? Offiziell schließt Paus
nicht aus, dass die Zusammenlegung der verschiedenen Leistungen und deren
Auszahlung durch eine einzige Stelle im Herbst noch beschlossen, wenn auch
in dieser Legislatur nicht mehr umgesetzt wird. Nahezu unmöglich ist es
trotzdem.
## „Man könnte auch sagen, ich bin eine toughe Verhandlerin“
Was nach dem Sommer also noch drin ist, ist beileibe nicht Nichts. Das
Problem aber: Mit dem Versprechen einer großen Sozialreform, die das Ende
von Kinderarmut hätte einleiten sollen, hatten die Grünen die Latte weit
höher gehängt. So ist die Geschichte der Kindergrundsicherung auch eine
über Erwartungsmanagement in der Politik: Wer zu hoch pokert, kann die
Erfolge später kaum noch verkaufen. Doch auch diese Perspektive gibt es
unter Grünen: Mit Kuschelkurs und ohne Paus’ Poker wären in dieser
Koalition nicht einmal kleine Schritte möglich gewesen.
Für Paus geht es nun auch um ihr Image. Was ihr medial oft zugeschrieben
werde – konfrontativ, dickköpfig – erlebe sie zumindest in Teilen als
geschlechterkonnotierte Debatte, sagt sie. „Über Kollege Lindner heißt es,
dass er hart verhandelt – von Starrsinnigkeit ist da nicht die Rede. Man
könnte auch sagen, ich bin eine toughe Verhandlerin.“
Tatsache ist, Konflikten geht Paus nicht aus dem Weg. Im Sommer 2023
blockierte sie öffentlichkeitswirksam eines von Lindners Gesetzen, um Geld
für die Kindergrundsicherung herauszuschlagen. Medial prägte nicht zuletzt
diese Aktion das Image der Ministerin, die mit dem Kopf durch die Wand will
und das nicht schafft.
Im Bundestag gibt es auch eine andere Perspektive. Die SPD-Abgeordnete Leni
Breymaier etwa sagt, dass sich Paus auch durch Konfrontationen wie diese
ein Standing in der Koalition erarbeitet habe. „Lisa Paus ist nicht so
leicht zu erschüttern“, bestätigt Andreas Audretsch, der als
Grünen-Fraktionsvize mit in den Verhandlungen sitzt und wie die Ministerin
aus dem linken Parteiflügel kommt. „Genau das ist es, was wir im Kampf
gegen Kinderarmut brauchen: eine Person, die nicht beim ersten Windstoß
umfällt.“ Zu glauben, dass die Bekämpfung von Armut ohne Widerstände
funktioniere, wäre naiv. Dank Paus sei es zuletzt trotz hartem Gegenwind
gelungen, im Haushalt die Grundlagen für den Start der Kindergrundsicherung
zu legen.
## Weg vom Konflikt, hin zum Kompromiss
Fragt man Vertreter*innen der Grünen-Realos nach ihrer Meinung zu Paus,
wollen diese selten zitiert werden, rollen aber oft mit den Augen. Die
offene Konfrontation helfe nicht beim Versuch, in neue Milieus
vorzudringen. In der Sache habe Paus das Kräftemessen mit Lindner auch
nicht so weit gebracht.
Folgt man Erzählungen aus FDP-Kreisen, hat sich die Ministerin mit ihrer
Konfliktführung tatsächlich nicht immer einen Gefallen getan. Einen starken
Willen brauche man im politischen Geschäft, sagt ein Fraktionsmitglied.
„Wenn man nicht bereit ist zu kämpfen, kann man es sein lassen. Sie findet
nur nicht die richtigen Momente für konstruktive Kompromisse.“ Es sei
ärgerlich gewesen, dass sich Paus immer wieder öffentlich in die laufenden
Verhandlungen eingemischt habe; dass Antworten des Ministeriums auf
Prüfaufträge der Abgeordneten erst in der Presse landeten und dann im
Bundestag. Die Kompromissbereitschaft der Koalitionspartner habe das nicht
erhöht.
So gereizt war irgendwann die Stimmung auch in der Ampel, dass selbst
Kleinigkeiten zu Krisen führten. Zuletzt zeigte das die Debatte um
[5][5.000 zusätzliche Stellen] für die Kindergrundsicherung im April. Wie
nebenbei hatte Paus die Zahl in einem Interview erwähnt. Schon Monate zuvor
hatte die Bundesagentur für Arbeit diesen Bedarf ermittelt, er war allen
Beteiligten bekannt. Aber ein System mit mehr Personal zu verschlanken ist
öffentlich schwer vermittelbar und die Zahl neu aufzuwärmen, während die
Abgeordneten doch gerade über grundlegende Änderungen an den Plänen
verhandelten, kam in der Koalition nicht gut an. Paus [6][ruderte zurück].
Ein Wendepunkt für die Kommunikation: weg vom Konflikt, hin zum Kompromiss.
Als Paus kurz darauf zur Regierungsbefragung im Bundestag erscheinen muss,
grillen die Abgeordneten der Opposition sie mit Fragen zur
Kindergrundsicherung. In ihren Antworten geht Paus nicht tief in die
Materie. Sobald es kritisch wird, wiederholt sie in Varianten immer wieder
einen Satz: Wie das Gesetz am Ende aussehen wird, obliege den Beratungen
des Parlaments. Auch in Interviews verweist sie von nun an auf den
Bundestag, vermeidet damit neue Spannung und versucht die Verantwortung für
die Kindergrundsicherung gleichzeitig ein Stück weit von sich zu schieben.
Paus sei nicht nur standhaft, sagen wohlgesinnte Grüne jetzt. Pragmatisch
sei sie auch.
Obwohl Lisa Paus und die Kindergrundsicherung von vielen für gescheitert
erklärt werden, obwohl sie wenn, dann nur einen Teilerfolg erringt, obwohl
Bündnispartner wie die [7][Sozialverbände vom Ergebnis enttäuscht] sind:
Anders als Habeck oder Baerbock wird Paus nicht der Vorwurf gemacht, in der
Sache klein beigegeben zu haben. Gekämpft und bei sich geblieben: Das
Kernklientel könnte das schätzen. Aber im großen Stil [8][Kinder aus der
Armut] zu holen – das hat Lisa Paus nicht geschafft.
10 Aug 2024
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Patricia Hecht
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Luisa Neubauer
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