# taz.de -- Brasiliens Landlosenbewegung MST: Der Anbau der Utopie | |
> Seit 40 Jahren kämpft Brasiliens Landlosenbewegung für eine faire | |
> Verteilung von Land – trotz mächtiger Feinde. Zu Besuch bei zwei Camps. | |
Bild: Grüne Oase der Nachhaltigkeit: Im Camp Jaci Rocha betreibt die Landlosen… | |
Júlia Cécilia ist eine zierliche Frau, die seit einer Krebserkrankung im | |
Rollstuhl sitzt. Doch wenn sie an den entscheidenden Moment im Jahr 2018 | |
zurückdenkt, als für sie ein neues Leben begann, richtet sie sich stolz | |
auf. „Als wir hier ankamen, waren die Polizei und der Präfekt bereits vor | |
Ort. Sie stoppten unsere Busse, aber wir gingen zu Fuß weiter“, erzählt | |
sie. „Ich war die erste Person, die die Flagge der Bewegung direkt vor den | |
Polizisten hisste.“ | |
Wir befinden uns im Camp Marielle Vive, einer Siedlung der brasilianischen | |
Landlosenbewegung MST („Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra“) im | |
hügeligen Hinterland von São Paulo. Das Camp trägt den Namen der 2018 | |
[1][ermordeten Politikerin Marielle Franco]. | |
Deren Tod schreiben viele dem rechtsextremen Lager um Ex-Präsident Jair | |
Bolsonaro zu – denn als linke Stadträtin von Rio de Janeiro kämpfte sie | |
gegen Polizeigewalt und Diskriminierung und wurde dadurch zur Zielscheibe | |
für rechtsextreme Milizen und ihre politischen Verbündeten. Hier im Camp | |
ist ihr Name ein Symbol des politischen Widerstands gegen die immense | |
wirtschaftliche Ungleichheit im Land. | |
Die großen roten Fahnen sind unübersehbar. Darauf abgebildet: Ein Mann, der | |
eine Machete schwingt. „Die Flagge leitet uns“, sagt Júlia. Seit der | |
Besetzung vor sechs Jahren leben rund 300 Familien auf einer 30 Hektar | |
großen Fläche, auf der ursprünglich Luxuswohnungen entstehen sollten. Doch | |
der Eigentümer ließ das Land jahrelang brachliegen. MST-Aktivisten | |
vermuteten Bodenspekulation und organisierten im April 2018 die Besetzung. | |
## Extreme Ungleichheit | |
Die Landlosenbewegung MST wurde vor 40 Jahren im Bundesstaat Paraná | |
gegründet und zählt heute schätzungsweise 1,5 Millionen Mitglieder, die auf | |
etwa 2.000 Siedlungen im ganzen Land verteilt leben. Ihre wichtigste | |
Forderung: eine umfassende [2][Agrarreform]. Wie in vielen Ländern | |
Lateinamerikas ist auch in Brasilien das Landeigentum extrem ungleich | |
verteilt. 10 Prozent der Landeigentümer besitzen etwa 75 Prozent der | |
Fläche, die meisten von ihnen Großgrundbesitzer und internationale | |
Agrarunternehmen. | |
Ihnen gegenüber stehen Millionen von Kleinbauern und Landarbeitern, die | |
keinen Zugang zu Anbauflächen haben. Viele von ihnen haben Armut und | |
Verelendung erlebt und sind mangels Alternativen in die großen | |
Ballungsgebiete gezogen. | |
Auch Júlia Cécilia hat schwere Zeiten hinter sich. Sie sitzt heute im | |
Rollstuhl, weil sie mit Pestiziden vergiftet wurde, erzählt sie. „Fast | |
meine ganze Familie ist daran gestorben.“ Ihr Vater sei Kleinbauer gewesen, | |
und ihre Familie habe in der Nähe von Sojaplantagen gelebt, auf denen | |
regelmäßig Pflanzengifte versprüht wurden. Es habe Jahre gedauert, bis sie | |
die Todesfälle mit dem Einsatz von Pestiziden in ihrer Umgebung in | |
Verbindung gebracht habe, sagt Júlia heute. Auch ihre eigene | |
Krebserkrankung führt sie darauf zurück. | |
Brasilien ist der weltweit [3][größte Importeur von Pestiziden]. Es sind | |
auch Stoffe zugelassen, produziert von deutschen Unternehmen wie Bayer, die | |
wegen ihrer Gefahr für die menschliche Gesundheit in der EU längst verboten | |
sind. Deshalb wirkt Júlias Geschichte plausibel, auch wenn sie sich nicht | |
nachprüfen lässt. „Deshalb kämpfe ich nicht nur für Agrarreform, sondern | |
auch gegen Pestizide und für eine gesunde Ernährung.“ | |
## Biologische Selbstversorgung | |
Das MST-Camp bietet Júlia eine gelebte Alternative: biologische Standards, | |
Selbstversorgung, Basisdemokratie. Ein kollektiver Gegenentwurf zu | |
Privateigentum, dass sich in den Händen einiger weniger konzentriert. Wie | |
Júlia haben auch viele andere Bewohner Armut und Verelendung erlebt. Das | |
Camp ist für sie ein Neuanfang, eine zweite Chance. | |
Es gibt gute Gründe für eine Landreform in Brasilien, und dennoch löst der | |
Begriff bei vielen Alarmglocken aus. Es klingt nach Umsturz und Revolution, | |
nach einem massiven Eingriff des Staates in die Eigentumsrechte. Doch in | |
Wirklichkeit beruft sich das MST mit seinen Besetzungen auf die | |
brasilianische Verfassung von 1988. | |
In Artikel 184 heißt es: Ländereien, die nicht landwirtschaftlich genutzt | |
werden und keine soziale Funktion erfüllen, dürfen enteignet werden – wobei | |
die soziale Funktion bedeutet, dass das Land produktiv genutzt wird, | |
Umwelt- und Arbeitnehmergesetze einhält und zur sozialen und | |
wirtschaftlichen Entwicklung der Gemeinschaft beiträgt. | |
Und dieser Verfassungsgrundsatz wird auch angewandt. Seit 30 Jahren findet | |
in Brasilien eine Landreform statt. Zwar keine | |
revolutionär-umstürzlerische, sondern eine stetige, langsame. Es gibt sogar | |
eine eigene nationale Behörde für die Umsetzung der Landreform, die Incra. | |
## Ein qäulend langsamer Prozess | |
Doch Brasilien ist ein riesiges Land, und es ist unmöglich, alle | |
unproduktiven Ländereien zu überprüfen. Deshalb sei die Incra auf die | |
Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen wie dem MST angewiesen, erklärt | |
Maria Rosilene, Direktorin für ländliche Entwicklung bei der Incra. „Die | |
Kleinbauern, die Landarbeiter brauchen Anbauflächen. Sie können nicht | |
abwarten, bis der Staat gegen unrechtmäßige Besitzverhältnisse | |
einschreitet.“ | |
Was vielversprechend klingt, ist in Wahrheit oft ein quälend langer | |
Prozess. Bis die Prüfung durch die Incra abgeschlossen ist und besetzte | |
Flächen legalisiert werden, vergehen meist einige Jahre. Erst dann wird der | |
ursprüngliche Besitzer entschädigt, erst dann haben die Bewohner der Camps | |
die Sicherheit, dass sie auch dort wohnen und arbeiten dürfen, wo sie sich | |
eingerichtet haben. | |
Bei Marielle Vive ist dies noch nicht geschehen. „Hier gab es kein | |
Trinkwasser“, erzählt Cíntia, die sich im Leitungskreis engagiert. „Wir | |
haben die Stadtverwaltung immer wieder aufgefordert, uns Zugang zu Wasser | |
zu ermöglichen.“ Bei einer Demonstration, die die Campbewohner organisiert | |
hatten, fuhr ein Auto in die Menge, ein Mensch starb. „Erst danach hat die | |
Verwaltung eingelenkt und schickt uns seitdem vier Wassertankwagen pro | |
Woche.“ | |
Solange das Camp nicht legalisiert ist, gehört das Land den Bewohnern | |
nicht. Sie dürfen keine Genossenschaften gründen, um ihre Produkte zu | |
vermarkten, und das bedroht ihre Existenz. Während der Amtszeit von | |
Ex-Präsident Jair Bolsonaro wurde das Budget der Incra heruntergefahren und | |
die Legalisierung von MST-Camps gestoppt. Seit dem Amtsantritt des linken | |
Präsidenten Lula da Silva Anfang 2023 hat sich die Lage etwas verbessert. | |
Die Bewohner von Marielle Vive sind mittlerweile zumindest bei der Incra | |
registriert. | |
## Ein Leben ohne Gift | |
Am Ende eines staubigen Weges, an dessen Rand sich Wellblechhütten säumen, | |
liegt der Gemüsegarten des Camps. Die Mittagssonne brennt unerbittlich, nur | |
im Schatten der Bäume ist es auszuhalten. Edilei, ein freundlicher Mann | |
Ende 40, ist einer der Gärtner hier. „Wir hatten schon über 2.000 | |
Maniokpflanzen. Aber wir bauen auch Heilmittel und fast jede Art von Gemüse | |
an.“ | |
Auch Edilei ist auf die konventionelle Landwirtschaft nicht besonders gut | |
zu sprechen. „Ihnen geht es nur um Profit, Profit und wieder Profit.“ | |
Welche Auswirkungen der Einsatz von „Gift“, wie alle hier sagen, also von | |
Herbiziden und Pestiziden, auf die Gesundheit der Menschen habe, sei den | |
großen Agrarunternehmen herzlich egal, meint er. | |
Brasilien ist in den letzten Jahrzehnten zu einem [4][Eldorado für | |
nationale und internationale Agrarkonzerne] geworden, vor allem beim Anbau | |
von Cash Crops wie Soja oder Mais, angebaut in riesigen Monokulturen, | |
winken hohe Gewinne. Heute ist Brasilien bei vielen Agrarprodukten der | |
größte Exporteur weltweit. Die kleinteilige Subsistenzwirtschaft wie hier | |
im MST-Camp ist dazu ein starker Kontrast. „Wir wollen Produkte ohne Gift | |
liefern“, sagt Edilei. Und: Das Wissen über ökologische Anbaumethoden soll | |
sowohl an Campbewohner als auch die angrenzenden Communitys weitergegeben | |
werden. | |
Das sind ambitionierte Pläne. Bislang können sich die Bewohner von Marielle | |
Vive noch nicht vollständig selbst versorgen und haben oft Jobs in der | |
nahegelegenen Stadt Campinas. In Zukunft wolle man aber sogar umliegende | |
Gemeinden mit gesunden Lebensmitteln beliefern, sagt Edilei selbstbewusst. | |
## Säen, ernten, Capoeira tanzen | |
Einer, der Edilei regelmäßig beim Gärtnern unterstützt, ist Gilmar. Er lebt | |
einen Steinwurf vom Gemüsegarten entfernt mit seiner Familie in einer | |
Wellblechhütte. Drinnen ist es zur Mittagszeit noch heißer als draußen, ein | |
klappriger Ventilator sorgt für etwas Wind. Gilmar, ein warmherziger Mann | |
um die 50, lässt sich davon nicht beeindrucken, holt einen Berimbau, ein | |
traditionelles Saiteninstrument, aus einer Ecke und beginnt ein Lied über | |
die Vorzüge der Landlosenbewegung zu singen: „Land zum Arbeiten, Früchte | |
zum Ernten, das Volk arbeitet für den MST.“ | |
In der Stadt habe er ständig mit hohen Mietkosten zu kämpfen gehabt, | |
erzählt er später. „Überleben war eine tägliche Herausforderung. Ich habe | |
manchmal auf Dinge verzichtet, die ich dringend brauchte, nur um die Miete | |
bezahlen zu können.“ Als er vom Camp Marielle Vive hörte, sei er einfach | |
mal vorbeigekommen. „Und dann haben sie mich tatsächlich aufgenommen“, | |
erinnert er sich. | |
Ein Wendepunkt in Gilmars Leben, so sieht er das heute. Miete muss er keine | |
mehr bezahlen, dafür hilft er bei der Selbstversorgung, hat ein eigenes | |
Häuschen und eine kleine Solaranlage auf dem Dach, die seine Familie rund | |
um die Uhr mit Strom versorgt. Besonders stolz ist Gilmar auf seine Arbeit | |
als Capoeira-Lehrer mit den Jugendlichen im Camp. „Capoeira bietet Kultur, | |
Kunst, Freizeit und körperliche Erziehung in einem. Es ist eine umfassende | |
Ausbildung für die Jugendlichen.“ | |
Marielle Vive ist für Gilmar mehr als nur ein Wohnort. Es ist eine | |
Gemeinschaft, die ihm Sicherheit und die Möglichkeit zur | |
Selbstverwirklichung bietet. „Es ist ein großes Gefühl von Freiheit“, sagt | |
er. | |
## Den Rechten ein Dorn im Auge | |
Mit dieser Mischung aus nachhaltiger Landwirtschaft und gemeinschaftlichem | |
Leben hat sich die Landlosenbewegung MST viele Feinde gemacht. Besonders | |
für die extreme Rechte und die Agrarindustrie ist der MST ein rotes Tuch. | |
Immer wieder werden Aktivisten gewaltsam angegriffen. | |
„[5][De Olho nos Ruralistas]“, eine unabhängige | |
Nichtregierungsorganisation, hat in einer Studie die Verbindungen zwischen | |
bewaffneten Gruppen, großen Agrarunternehmern und der politischen Rechten | |
analysiert. Besonders im Fokus: Die „[6][Frente Parlamentar da | |
Agropecuária]“ (FPA), auch bekannt als „Agrar-Fraktion“ – ein | |
parteiübergreifender rechter Zusammenschluss, der mehr als die Hälfte der | |
Abgeordneten im Bundesparlament hinter sich vereint. | |
Führende Mitglieder der FPA erhielten direkte finanzielle Unterstützung | |
durch Agrarunternehmen, so die NGO. Im Gegenzug profitierten die | |
Unternehmen von gelockerten Umweltauflagen oder vereinfachtem Zugang zu | |
landwirtschaftlichen Krediten. | |
Was die Agrar-Fraktion vereint, ist der Hass auf die Landlosenbewegung. Im | |
vergangenen Jahr wurde von rechten Abgeordneten ein parlamentarischer | |
Untersuchungsausschuss initiiert, um den kriminellen Charakter des MST zu | |
beweisen. Einer, der als Experte geladen war, ist Xico Graziano. Publizist | |
und Ideengeber im konservativen Lager. | |
## No Hunger, no Klimawandel | |
Er argumentiert, der MST habe zum Zeitpunkt seiner Gründung vor 40 Jahren | |
tatsächlich viele Missstände angesprochen, doch sei das lange her. | |
Angesichts der Entwicklungen in der Agrarwirtschaft habe der MST längst | |
seinen Sinn verloren. „Inzwischen hat sich der Großgrundbesitz gewandelt. | |
Riesige Flächen, die früher brachlagen, werden heute landwirtschaftlich | |
genutzt.“ High-Tech-Landwirtschaft brauche keine Landreform. | |
Bernardo Mançano, Professor für Geografie an der staatlichen Universität | |
São Paulo, sieht das anders. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem | |
MST und hält ihren Ansatz, Subsistenzwirtschaft zu betreiben, für alles | |
andere als rückständig. Denn während große Agrarkonzerne in erster Linie | |
für den Export produzierten, landeten die Erträge von Kleinbauern auf dem | |
Teller der Brasilianer. „Bäuerliche Landwirtschaft, das | |
Sich-selbst-versorgen, löst das Hungerproblem und das Klimaproblem“, ist | |
sich Mançano sicher. | |
In jedem Fall ist die Fläche, um die es hier geht, enorm: Im Zuge der | |
Landreform wurden in Brasilien 80 Millionen Hektar Land umverteilt, das | |
entspricht knapp 10 Prozent der Gesamtfläche des Landes. Der konservative | |
Graziano kritisiert, dass die Regierung viel Geld ausgebe, ohne ausreichend | |
zu prüfen, was in den MST-Siedlungen tatsächlich passiere, ob überhaupt | |
Ackerbau betrieben würde und die Ländereien nicht längst vererbt worden | |
seien. | |
„Brasilien hat in den letzten 30 Jahren fast 100 Milliarden Dollar für das | |
Agrarreformprojekt ausgegeben. Doch mit welchem Ergebnis?“ Die Regierung | |
solle lieber die Agrarwirtschaft stärker unterstützen, die fast ein Viertel | |
des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. | |
## Land ist keine Ware | |
Maria Rosilene von der Incra kann diese Argumente nicht nachvollziehen. | |
„Land ist keine Ware wie jede andere. Und Produktivität ist nicht das | |
wichtigste Kriterium“, sagt sie. Die Landreform sei in der brasilianischen | |
Verfassung verankert, und jeder habe das Recht, sich auf der Grundlage der | |
Agrarreform anzusiedeln. | |
Verfassungsfragen sind das eine, die Realität das andere. Und die ist in | |
Brasilien immer stärker vom Klimawandel geprägt. Dürren und | |
Überschwemmungen häufen sich, zuletzt im Süden des Landes mit vielen | |
Todesopfern. Die riesigen Monokulturen, auf denen Cash Crops wie Mais oder | |
Soja industriell angebaut werden, sind besonders anfällig. Sie entziehen | |
den Böden viel Wasser und sind nur mit viel Dünger und Pestiziden | |
ertragreich. | |
Der MST will gegensteuern. Landreform gleich Umweltschutz, so die Devise | |
der Aktivisten. Was das konkret bedeutet, lässt sich im Bundesstaat Bahía | |
besichtigen, im Nordosten Brasiliens. Zwischen vertrocknetem Weideland und | |
endlos wirkenden Eukalyptusmonokulturen ist die MST-Siedlung Jaci Rocha | |
schon von Weitem erkennbar – als grüne Oase. | |
Die Landlosenbewegung experimentiert hier mit nachhaltigen Anbaumethoden | |
und Agroforst, also der gleichzeitigen Kultivierung von Nutzpflanzen und | |
Bäumen, die Schatten spenden und die Bodengesundheit stärken. Zwischen | |
einheimischen Bäumen wachsen Kaffee, Pfeffer und Maniok. | |
## Aufnahmestopp im Camp | |
30.000 Hektar umfasst die Siedlung. Das MST hat sie 2009 besetzt, und schon | |
seit Jahren ist sie von der Incra legalisiert. Verglichen mit dem Camp | |
Marielle Vive sieht die Siedlung hier völlig anders aus: Die gut 200 | |
Familien, die hier leben, wohnen in befestigten Wohnhäusern, haben eigene | |
Flächen, die sie bewirtschaften, können sich mit den Erträgen selbst | |
versorgen. Platz für neue Familien ist rar, wie in den meisten MST-Camps | |
gibt es auch hier schon lange einen Aufnahmestopp. | |
Ein paar Hundert Meter einen Hügel hinab steht der Neubau der Schule für | |
Agrarökologie „Egidio Brunetto“, die die Bewegung hier betreibt. Camilo, | |
ein Mittdreißiger, der eigentlich aus Argentinien stammt, hat hier eine | |
Ausbildung als Techniker für Agrarökologie und Agroforst durchlaufen. „Die | |
Bewegung hat in mich investiert, die Ausbildung war völlig kostenfrei. Ich | |
bin sehr dankbar dafür“, erzählt er. | |
Camilo wuchs in Bariloche in Patagonien auf, entdeckte schon früh seine | |
Liebe zur Natur. Mit Mitte 20 kam er nach Rio de Janeiro, und erst während | |
der Pandemie zog er mit seiner damaligen Ehefrau nach Bahía aufs Land. Als | |
die Beziehung zerbrach, lud ihn einer seiner Freunde in die MST-Siedlung | |
ein. „Camilo, auch du bist ein Landloser, du weißt es nur nicht“, habe sein | |
Freund ihm damals lachend zugerufen, so erinnert sich Camilo heute. | |
Camilo beschäftigt sich intensiv mit Agrarökologie, mit nachhaltigen | |
Anbaumethoden, aber auch mit der Landfrage und Privateigentum generell. „Es | |
geht nicht nur um Brasilien oder Argentinien. Es ist ein Problem in ganz | |
Lateinamerika“, erklärt er. Die Ungleichheit im Land sei eine strukturelle | |
Fortsetzung des Kolonialismus, meint er. | |
## Die indigenden Kulturen bewahren | |
„Und dabei geht es nicht nur um die Landwirtschaft, sondern darum, wie | |
lokale und indigene Kulturen überleben können.“ Kulturen, die viel über das | |
Zusammenleben mit der Natur wüssten und die wir für die Lösung unserer | |
ökologischen Krisen dringend bräuchten. „Land sollte kein Privateigentum | |
sein, sondern ein Gemeingut, um das wir uns zusammen kümmern können.“ | |
Die MST-Siedlungen sind für Camilo, ähnlich wie die indigenen Schutzgebiete | |
Brasiliens, ein Gegenentwurf zu Privateigentum und damit auch ein Weg, die | |
langen Schatten des Kolonialismus zu überwinden. | |
Mit schnellen Schritten überquert Camilo das Gelände der Schule. In wenigen | |
Tagen wird er hier seinen ersten Kurs als Dozent halten. „Ich bin schon ein | |
bisschen nervös“, erzählt er lachend. | |
In einem der Klassenräume haben sich 30 Studenten versammelt. Erst tragen | |
einige ein kleines Theaterstück vor, dann beginnen alle gemeinsam zu | |
singen. Die Stimmung ist ausgelassen. „Jeder Morgen beginnt so“, erklärt | |
Camilo. Es ist ein gemeinsames Ritual, die mística. „Einer der Ursprünge | |
des MST ist die Befreiungstheologie. Das sieht man hier. So beginnt unser | |
Tag. Wir erinnern uns daran, wo wir herkommen und warum wir hier sind. Es | |
ist ein kollektiver Moment, und für mich hat es etwas Magisches“, meint | |
Camilo. | |
## Der Weg der Bäume | |
Ein paar Hundert Meter weiter lebt Valdedi, eine freundliche Frau in ihren | |
Fünfzigern. Sie ist Lehrerin an der Schule für Agrarökologie und | |
bewirtschaftet gemeinsam mit ihrem Mann eine Parzelle Land. Seit 2017 lebt | |
sie in der MST-Siedlung und kann sich kein anderes Leben mehr vorstellen. | |
„Hier habe ich Platz. Alles ist offen und frei. Die Tatsache, dass ich | |
Menschen in der Nähe habe, denen ich vertraue, gibt mir ein Gefühl von | |
Sicherheit“, sagt sie. | |
Stolz zeigt Valdedi die Obstbäume und einheimischen Gemüsesorten, die sie | |
hier anbaut – alles ohne Pestizide. Es ist ihr Beitrag zum „Nationalen | |
Plan“, den das MST ausgerufen hat. Bis 2030 sollen 100 Millionen Bäume | |
gepflanzt werden, 25 Millionen sind es schon heute. Der MST hat sich damit | |
recht geräuschlos an die Spitze der ökologischen Bewegung in Brasilien | |
gesetzt. | |
Valdedi ist überzeugt davon, dass das der richtige Weg ist. „Ich glaube | |
sehr daran, dass wir Agrarökosysteme schaffen müssen. Produzieren ja, aber | |
innerhalb von Ökosystemen. Wir müssen der Natur ihren Platz einräumen. Und | |
der Agroforst ist unser Weg, um diesen Wandel zu erreichen.“ | |
30 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Brasilianische-Aktivistin-Franco/!5667640 | |
[2] https://www.kas.de/de/web/brasilien/laenderberichte/detail/-/content/zum-de… | |
[3] https://www.boell.de/de/2024/01/11/pestizide-das-gift-das-durch-brasiliens-… | |
[4] https://www.boell.de/de/2022/12/02/brasilien-warum-agro-nicht-pop-ist | |
[5] https://deolhonosruralistas.com.br/ | |
[6] /Nach-der-Parlamentswahl-in-Brasilien/!5031045 | |
## AUTOREN | |
Philipp Lemmerich | |
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