| # taz.de -- Brasilianische Aktivistin Franco: Symbol des Widerstands | |
| > Vor zwei Jahren wurde Marielle Franco ermordet. Doch mit ihrem Einsatz | |
| > für Schwarze, Frauen und LGBTQ-Rechte hat sie eine neue Generation | |
| > politisiert. | |
| Bild: Ein Banner in São Paolo zeigt die Aktivistin und Politikerin Marielle Fr… | |
| Belo Horizonte taz | Als [1][Marielle Franco] zum ersten Mal im | |
| Stadtparlament von Rio de Janeiro spricht, wird auf den Zuschauerrängen | |
| gejubelt, da hat sie noch kein Wort gesagt. Große Regenbogenfahnen hängen | |
| von den Tribünen. Die frisch gewählte Stadträtin trägt Schwarz, den Afro | |
| hat sie nach hinten gebunden. Den Jubel erhält sie einfach, [2][weil sie | |
| dort steht]. | |
| Es ist 2017, ein Jahr später wird Marielle Franco ermordet. Bis zu ihrem | |
| Tod war Franco außerhalb Rio de Janeiros weitgehend unbekannt, danach wurde | |
| sie zu einem landesweiten Symbol für Widerstand. Am Samstag jährt sich ihr | |
| Todestag zum zweiten Mal. | |
| Wer sich die Geschichte von Marielle Franco anschaut, lernt viel über | |
| Brasilien und die Machtverhältnisse im Land. Franco kam in einer Zeit in | |
| die Politik, in der sich ein immer tieferer Riss durch die Gesellschaft | |
| zog. Und mittendrin diese charismatische Stadträtin mit tiefer, warmer, | |
| eindringlicher Stimme. Die abwägte. Eine, die Polizeigewalt scharf | |
| verurteilte und sich gleichzeitig um die Belange der Einsatzkräfte | |
| kümmerte. Eine, so erzählt es eine Freundin, bei der man wusste, dass sie | |
| im Raum war, [3][noch bevor man sie sah]. | |
| Menschen wie Marielle Franco sind selten in brasilianischen Parlamenten. | |
| Franco stammt aus der Favela, sie ist Schwarz, bisexuell, Soziologin, | |
| Sozialistin. Sie wurde nicht trotz ihrer Biografie gewählt, sondern wegen. | |
| Wie zwei rote Fäden ziehen sich Gewalt und Widerstand durch Marielle | |
| Francos Leben: Sie politisiert sich jung, nachdem eine Freundin bei einem | |
| Schusswechsel tödlich verletzt wird. Später spricht sie über Polizeigewalt | |
| in Favelas, über sexualisierte Gewalt, Rassismus, LGBTQ-Feindlichkeit. | |
| Aggressionen, denen sie ausgesetzt war. Als ein 23-Jähriger durch einen | |
| Polizeischuss getötet wird, twittert sie: „Wie viele werden noch sterben | |
| müssen, damit dieser Krieg endet?“ Am Tag darauf wird sie selbst Opfer der | |
| Gewalt. | |
| ## 13 Schüsse | |
| Am Abend des 14. März 2018, auf dem Rückweg von einer Podiumsdiskussion, | |
| werden Marielle Franco und ihr Fahrer Anderson Gomes im fahrenden Auto im | |
| Zentrum Rio de Janeiros getötet. 13 Schüsse, beide sterben am Unfallort. | |
| Binnen weniger Tage kommt es zu Protesten im ganzen Land, allein in Rio | |
| sind Zehntausende auf der Straße. Es werden lila Sticker verteilt, darauf | |
| steht: „Marielle vive“, Marielle lebt. Eine Mischung aus Wut, Solidarität, | |
| Angst und Trauer liegt über diesen ersten Kundgebungen. Nicht wenige, die | |
| da auf die Straße gehen, haben bis zu diesem Tag noch nie von Marielle | |
| Franco gehört. | |
| Kann man um einen Menschen trauern, den man nicht kannte? Oder andersrum: | |
| Kann man sich Trauer aneignen? Die Suche nach Antworten beginnt bei einer, | |
| die Marielle Franco gut kannte. Talíria Petrone, 34, eine Parteikollegin. | |
| Franco habe etwas repräsentiert, erklärt sie sich die Reaktionen auf ihren | |
| Tod. „Sie verkörperte Menschen, die sonst von der Politik vergessen wurden. | |
| Arbeiter*innen, LGBTQs, Menschen aus der Favela, Frauen, Schwarze, Mütter. | |
| Und sie wurde auf eine brutale Weise in einer der größten Städte des Landes | |
| ermordet, einer Stadt, die auf der ganzen Welt bekannt ist.“ | |
| Bei den Wahlen nach dem Mord treten in Rio de Janeiro mehr als doppelt so | |
| viele Schwarze Frauen an als zuvor. Auch vier Wegbegleiterinnen Francos | |
| werden gewählt: ihre Stabschefin und zwei ihrer Beraterinnen kommen in den | |
| Landtag von Rio de Janeiro. Talíria Petrone sogar in die Abgeordnetenkammer | |
| in der Hauptstadt Brasilia. „Herdeiras de Marielle“ werden sie genannt, die | |
| Erbinnen von Marielle. | |
| Talíria Petrone mag so nicht genannt werden. „Das macht nicht nur den Mord | |
| unsichtbar, sondern auch meine eigene politische Laufbahn. Und man ersetzt | |
| nicht einfach so eine ermordete Frau, eine ermordete Parlamentarierin.“ | |
| Petrone und Franco haben sich 2010 in Rios Favela Maré kennengelernt. | |
| Franco wohnte dort, Petrone unterrichtete dort. Als Franco für den Stadtrat | |
| in Rio de Janeiro kandidierte, kandidierte Petrone für das gleiche Gremium | |
| in der Nachbarstadt Niterói. Die beiden Freundinnen gewannen. | |
| Nach dem Mord beschließt Talíria Petrone für die nationale | |
| Abgeordnetenkammer zu kandidieren. An ihrem ersten Tag hätten | |
| Sicherheitsleute sie nicht in das Gebäude lassen wollen, hätten gefragt, zu | |
| welchem Abgeordneten sie gehöre. Von den 513 Sitzen sind dort nur 13 von | |
| Schwarzen Frauen besetzt. „Nach 500 Jahren Kolonialzeit ist das zu wenig“, | |
| sagt Petrone, Tochter einer Lehrerin und eines Künstlers. Den Kongress, das | |
| Parlament, überhaupt die Politik beschreibt sie als gewaltvolle Orte. „Es | |
| verwundert die Leute, dort Frauen wie uns zu sehen, mit unseren Haaren, | |
| unseren Hautfarben, unserer Art.“ Sie sagt aber auch: „Der Mord hat vielen | |
| Menschen gezeigt, wie wichtig es ist, mehr von uns in diesen Räumen zu | |
| haben.“ | |
| Angriffe wie die auf Marielle Franco verletzen vielleicht ein ganzes Land, | |
| sie treffen aber vor allem ganz bestimmte Menschen. Und das sind in diesem | |
| Fall: die Schwarzen, die Frauen, die LGBTQ. Die drei Gruppen also, die in | |
| den Gewaltstatistiken auffallen, die Behörden [4][zufolge einem besonders | |
| hohen Risiko ausgesetzt sind]. Franco war die Schnittmenge, und sie lebte | |
| zwischen Favela, Universität und Stadtrat, zwischen der Welt der | |
| Aktivist*innen und der der Regierenden. Zwischen der Straße am Frauentag, | |
| den sie mitorganisierte, und Sektempfängen im Rathaus. | |
| Seit dem Mord ist der 14. März in Rio de Janeiro offizieller Tag des | |
| [5][Genozid an Schwarzen Frauen]. Jedes Jahr werden in Brasilien | |
| zehntausende Schwarze Menschen ermordet, die Zahl wächst jährlich. Weil | |
| Rassismus in Brasilien, der ehemaligen Kolonie Portugals, tief verwurzelt | |
| ist. Aber auch, weil der Hass wächst. Und weil die weißen politischen | |
| Eliten das zulassen. Die schleppenden Ermittlungen im Fall Marielle Franco | |
| zeigen das. | |
| Wer sich Bilder von den vielen Demonstrationen in Erinnerung an Marielle | |
| Franco anschaut, wird hauptsächlich Schwarze Menschen sehen, Frauen, | |
| Menschen aus der LGBTQ-Gemeinde. Man wird aber auch weiße Menschen sehen. | |
| Und vor allem: junge Menschen. Marielle Franco hat eine Generation | |
| politisiert. | |
| Blenda Paulino ist 21, eine Schwarze Frau aus einer Favela in Rio, | |
| Aktivistin und Studentin. „Die Jugend organisiert sich, darin sehe ich ein | |
| enormes Potenzial“, sagt sie. Paulino besetzte als Schülerin ihre Schule, | |
| um gegen Bildungsreformen zu protestieren, die vor allem die weiße | |
| Mittelschicht privilegiert hätten. Später, als sie volljährig wurde, wählte | |
| sie Marielle Franco. Damals, bei ihren ersten Wahlen, erzählt sie, habe sie | |
| sich in der Stadträtin wiedergefunden. „Mir ging es um Sichtbarkeit, eine | |
| Frau wie ich, die an erster Stelle kämpft.“ | |
| ## Spuren führen zu Bolsonaro | |
| Der Mord hat zwei Gefühle in Blenda Paulino ausgelöst. Erstens: Angst, die | |
| bis heute anhält. Und zweitens: Das dringende Bedürfnis, weiterzumachen, | |
| sich zu bewegen, etwas zu bewegen. Kurz nach dem Mord gründet Paulino mit | |
| Jugendlichen aus angrenzenden Favelas ein Kollektiv, um über Politik zu | |
| diskutieren. Sie sprechen über weiße Politiker aus der wohlhabenden | |
| Südstadt, die über Favelas schwadronieren. Über all die vermeintlich | |
| öffentlichen Räume, aus denen sie ausgeschlossen werden. Über Themen, bei | |
| denen Privilegierte wegschauen können. Mittlerweile organisieren sie | |
| kostenlose Kurse, die Jugendliche in Favelas für Aufnahmeprüfungen an | |
| brasilianischen Universitäten vorbereiten. Franco hatte selbst einen | |
| solchen Kurs besucht, bevor sie studierte. | |
| Und wie fühlt Blenda Paulino sich jetzt, zwei Jahre später? „Als Schwarze | |
| Frau fühle ich mich angesichts der Ermittlungen absolut nicht | |
| ernstgenommen“, sagt Paulino. Sie will Antworten. Etwa ein Jahr nach der | |
| Tat werden ein pensionierter und ein ehemaliger Militärpolizist | |
| festgenommen. Sie sollen Franco und ihren Fahrer erschossen haben. Seitdem | |
| gab es Razzien, Prozesse, Anhörungen, Spuren, die bis zur Familie des | |
| Präsidenten Bolsonaro reichten – ohne klare Antworten. Wer hat angeordnet, | |
| Marielle Franco zu töten, und warum? Was zwei Jahre nach dem Mord bleibt, | |
| sind offene Fragen wie diese. Und ohrenbetäubende Stille. | |
| 14 Mar 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Verdacht-gegen-Brasiliens-Praesidenten/!5635393 | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=1evzi9vAgWw | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=ZbThhzA0rNQ | |
| [4] /Hassverbrechen-gegen-TransPersonen/!5383706 | |
| [5] /Mord-an-brasilianischer-Lokalpolitikerin/!5500651 | |
| ## AUTOREN | |
| Simon Sales Prado | |
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