# taz.de -- Brasilianischer Politiker im Exil: „Ich würde es wieder tun“ | |
> Der brasilianische Politiker Jean Wyllys spuckte einst Jair Bolsonaro ins | |
> Gesicht. Der taz erzählt er, wie dieser Tag sein Leben verändert hat. | |
Bild: Wyllys bei einer Konferenz über die Exilbewegung aus Brasilien im Februa… | |
Seit einem Jahr ist [1][Jair Bolsonaro] Präsident Brasiliens, seit einem | |
Jahr lebt Jean Wyllys im Exil. Die Geschichte des rechtsextremen | |
Präsidenten und die des linken Politikers sind eng miteinander verwoben: | |
Bolsonaro ist mitverantwortlich, dass Wyllys sich gezwungen sah, ins Exil | |
zu gehen. Dass Bolsonaro heute Präsident ist, das liegt auch an Wyllys. | |
Am 17. April 2016 ist es unübersichtlich im brasilianischen | |
Nationalkongress. Es ist der Tag, an dem [2][über die Amtsenthebung der | |
linken Präsidentin Dilma Rousseff abgestimmt] wird. Rousseff wird | |
vorgeworfen, Haushaltspläne zu ihren Gunsten manipuliert zu haben. Sie | |
spricht von politischer Verfolgung, von einem Putsch. Auf Leinwänden wird | |
die mehrstündige Sitzung übertragen, landesweit schauen Menschen dabei zu, | |
wie die stimmberechtigten Abgeordneten nacheinander an das Mikrofon treten. | |
Unter ihnen sind auch die Abgeordneten Jean Wyllys und Jair Bolsonaro. | |
Bolsonaro stimmt für die Amtsenthebung. Seine Stimme widmet er einem | |
mittlerweile verstorbenen Offizier, der während der brasilianischen | |
Militärdiktatur als Folterer bekannt wurde. Als Bolsonaro den Namen des | |
Folterers ausspricht, grölen einige Abgeordneten, um ihm zuzustimmen. Als | |
politische Gefangene war auch Rousseff während der Militärdiktatur | |
gefoltert worden. | |
Kurz darauf ist Wyllys an der Reihe. Er trägt einen roten Schal, schreit in | |
das Mikrofon, um neben all den Zwischenrufen gehört zu werden. Wyllys | |
stimmt gegen die Amtsenthebung. Nachdem er vom Pult tritt, läuft er an | |
Bolsonaro vorbei und spuckt dem heutigen Präsidenten ins Gesicht. „Ich | |
würde es sofort wieder tun“, sagt Wyllys rückblickend am Telefon. | |
Mittlerweile lebt er in den USA, auf Einladung lehrt und forscht er an der | |
Universität Harvard. Er ist gegangen, weil er sich in Brasilien nicht mehr | |
sicher fühlen konnte. Jean Wyllys ist der erste amtierende brasilianische | |
Politiker, der sich seit der Militärdiktatur gezwungen sah, ins Exil zu | |
gehen. | |
## Feindbild und Gefahr | |
Die ersten Morddrohungen kamen schon 2010 mit seinem Eintritt ins | |
Parlament, mit der Zeit wurden sie häufiger, brutaler, konkreter. Im | |
November 2016 erreicht ihn diese Nachricht: „Du kannst beschützt werden, | |
aber deine Familie nicht. Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie es | |
sich anfühlen wird, auf die enthaupteten, vergewaltigten Körper deiner | |
Angehörigen zu blicken?“ Wenige Tage später kommt eine Nachricht mit | |
Adressen von Familienangehörigen, den Nummernschildern ihrer Autos, | |
Einzelheiten über ihr Privatleben. | |
Als die Präsidentschaftswahlen näher rücken, werden aus Worten Taten. | |
Wyllys erzählt, dass er auf der Straße verunglimpft und bedrängt wurde. | |
Unbekannte nannten ihn am helllichten Tag einen Pädophilen, sagten, | |
Bolsonaro werde ihn bald fertigmachen. Trotzdem bittet der Abgeordnete erst | |
nach dem Mord an [3][Marielle Franco] um Polizeischutz. Die bisexuelle | |
Schwarze Stadträtin und ihr Fahrer wurden am 14. März 2018 im Zentrum Rio | |
de Janeiros mit mehreren Schüssen getötet. Franco und Wyllys waren eng | |
befreundet. | |
Als der Abgeordnete am Tag nach dem Mord dessen Aufklärung fordert, hat er | |
verquollene Augen. Später wird er sagen, er habe die ganze Nacht geweint. | |
Franco gehörte wie er selbst zu den vielversprechenden Stimmen unter den | |
blassen, heterosexuellen Gesichtern der brasilianischen Politik. Was | |
würde die Mörder von Marielle nun davon abhalten, auch ihn zu töten? | |
Der Polizeischutz teilte den Stadtplan in grüne, gelbe und rote Flächen | |
ein: Rote waren für Wyllys verboten, gelbe riskant, nur in grünen Gebieten | |
durfte er sich bewegen. Nach drei Monaten bekam er einen | |
Nervenzusammenbruch. Es ist der Abend der Mondfinsternis, des Blutmondes. | |
Weil seine Leibwächter bei Einbruch der Dunkelheit freihaben, kann Wyllys | |
nicht aus seiner Wohnung. Auf die Straße gehen, in den Himmel blicken: | |
Lebensgefahr. | |
## „Fora da Curva“ | |
Etwa zur selben Zeit denkt Wyllys erstmals darüber nach, sein Amt | |
niederzulegen, vielleicht das Land zu verlassen. Andererseits stehen die | |
Wahlen an, er fühlt sich als einziger offen homosexueller Abgeordneter der | |
LGBTQ-Gemeinde verpflichtet. Wer würde dafür sorgen, dass der Mord | |
aufgeklärt wird? Wer würde von seiner Abwesenheit profitieren? | |
Ein Blick zurück: 2010 gelingt Jean Wyllys unerwartet der Einzug in das | |
Parlament. Damals ist er aus „Big Brother“ bekannt, er hatte bei der | |
Sendung gewonnen. Als Abgeordneter macht er sich schnell einen Namen, setzt | |
sich für LGBTQ-Rechte ein, denkt rassismuskritisch und intersektional, | |
beherrscht den Umgang mit sozialen Netzwerken. Wyllys wird mehrfach | |
ausgezeichnet, zwei weitere Male gelingt ihm die Wiederwahl. Er sei „um | |
ponto fora da curva“, sagt Wyllys, jemand, der nicht in gesellschaftliche | |
Kategorien passt, der bisher in dieser Position nicht denkbar war. | |
Wohl auch deswegen kam der Hass von allen Seiten. Von Rechten, die sich | |
daran stören, wie er Rousseff verteidigte. Von alten Linken, die seine | |
Radikalität als bedrohlich empfanden. Von paramilitärischen Gruppen, die | |
seinem Engagement gegen Polizeigewalt ein Ende setzen wollten. Von | |
religiösen Fundamentalisten, die sich an seinem queeren Aktivismus stören. | |
Dass er für derart konträre Gruppen zur Zielscheibe wurde, führt Wyllys auf | |
seine Homosexualität zurück. | |
„Homosexuell zu sein bedeutet, dass du dich permanent in einem Kampf mit | |
der Welt um dich herum befindest“, sagt Wyllys. Das lässt sich ablesen, | |
wenn er von dem Tag erzählt, an dem er Bolsonaro ins Gesicht gespuckt hat. | |
Er spricht nicht von einem Angriff, sondern von einer Reaktion. „Auf | |
jahrelange Demütigungen, auf Fake News, auf Hass, auf Homophobie.“ Wenige | |
Augenblicke zuvor habe Bolsonaro ihn im Vorbeigehen beleidigt, betont | |
Wyllys. Darüber spreche aber kaum jemand. | |
## Ständig bedroht | |
Auch später, während seiner Kampagne, hat der heutige Präsident Wyllys’ | |
Sexualität instrumentalisiert, den Hass auf Homosexuelle bedient, um | |
konservative Gruppen zu mobilisieren. Obwohl Wyllys nie | |
Präsidentschaftskandidat war, konnte so zwischenzeitlich der Eindruck | |
entstehen, er sei Bolsonaros größter Gegner. Als Wyllys bekannt gab, | |
Brasilien zu verlassen, twitterte Bolsonaro „Grande dia“ – großer Tag. | |
„Ein LGBT geht, aber der nächste kommt“, kommentierte David Miranda | |
darunter. [4][Miranda ist der Nachfolger von Jean Wyllys.] Wie Wyllys war | |
auch Miranda ein Freund Francos, wie Wyllys ist auch er homosexuell, wie | |
Wyllys wurde auch er deswegen zur Zielscheibe. Als klar wird, dass Miranda | |
das Mandat übernehmen wird, teilen Bolsonaro und seine Söhne gezielt eine | |
Desinformation, wonach Miranda das Mandat gekauft habe. Etwa zur selben | |
Zeit erhält der neue Abgeordnete die erste Morddrohung. Seit Oktober steht | |
auch Miranda unter Polizeischutz. | |
Wyllys ist nicht der Einzige, der sich dieser Bedrohung [5][nicht mehr | |
länger aussetzen konnte.] Auch Debora Diniz lebt im Exil, eine | |
Anthropologin, die sich bis vor das oberste Gericht für das reproduktive | |
Selbstbestimmungsrecht insbesondere armer Frauen eingesetzt hatte. Oder der | |
Schriftsteller Anderson França, der über soziale Ungerechtigkeiten | |
schreibt. Und die feministische Philosophin Marcia Tiburi, deren Lesungen | |
von bewaffneten Männern gestürmt wurden. Der Guardian spricht von einer | |
neuen Generation politischer Exilierter in Brasilien. | |
Offiziell verkündet Jean Wyllys sein Exil am 24. Januar 2019. Mit | |
Bolsonaros Wahlsieg sei ihm klar geworden, dass er das Land würde verlassen | |
müssen. Bolsonaro steht für all das, was Franco zum Verhängnis wurde, was | |
Miranda nun verfolgt, was Wyllys, Tiburi, Diniz und França aus dem Land | |
getrieben hat: die Homophobie, die Misogynie, die toxische Männlichkeit, | |
der Rassismus und der Hass. Unter Bolsonaro wird die Opposition zum Feind. | |
Jean Wyllys aber möchte kein Märtyrer sein. | |
28 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Simon Sales Prado | |
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