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# taz.de -- Brasilianische Dragqueen Pabllo Vittar: Täglich Löwen töten
> Die Sängerin wird immer berühmter, während ihr Land unter Präsident
> Bolsonaro immer weiter nach rechts driftet. Über einen schwierigen Kampf.
Bild: „Allein als Drag auf einer Bühne zu sein, ist schon Aktivismus“, sag…
Es gibt Radiosender in Brasilien, die Pabllo Vittars Songs nicht mehr
spielen. Auch Beleidigungen, Hasskommentare und Desinformationen gehören
für die Dragqueen zum Alltag. Die vielleicht amüsanteste Falschnachricht
über Vittar besagt, sie habe einen Deal mit der brasilianischen
Nationalbank geschlossen und ihr Gesicht werde bald auf Geldscheine
gedruckt. Eine andere lautet, die Dragqueen werde angesichts der
erstarkenden Rechten bald das Land verlassen. Stimmt nicht, sagt Vittar:
Sie hat doch gerade erst richtig angefangen!
Schon seit einigen Jahren sorgt die Dragqueen Pabllo Vittar in Brasilien
für Aufruhr, spätestens im letzten Jahr hat auch der Rest der Welt sie
entdeckt. Vittar hat mehrere Alben aufgenommen, war die erste für einen
Latin Grammy nominierte Dragqueen. Die New York Times bezeichnet sie als
ein [1][„Emblem der Genderfluidität“], der Guardian nennt sie ein
[2][„Symbol des Widerstands“]. Und in der Tat: Es ist wohl kein Zufall,
dass mit Vittar eine nichtbinäre Dragqueen ausgerechnet in der Zeit zum
Star wird, da in Brasilien reaktionäre Kräfte erstarken. Ganz im Gegenteil.
Vittars Musik lässt sich nicht auf einen Stil festlegen: Auf ihrem neuen,
dreisprachigen Album kommen Samba-Elemente genauso vor wie britischer Pop.
Die Texte handeln meist von Partys, Liebe, Sex, alles geht, solang man dazu
tanzen kann. [3][„Parabéns“] etwa spielt mit der brasilianischen Version
von „Zum Geburtstag viel Glück“. „Ich werde deinen Kuchen essen“, singt
Vittar, während sie im glitzernden Netzoberteil aus einem Kuchen steigt.
Wegen solcher Texte wird ihr häufig vorgeworfen, nicht aktivistisch genug
zu sein. Vittar kann diese Kritik nicht nachvollziehen: „Allein als Drag
auf einer Bühne zu sein, ist schon Aktivismus.“ Anders als viele politische
Künstler*innen übersetzt sich bei Vittar dieser Aktivismus aber nicht in
die Songtexte. Der Grund: Mit ihrer Musik wolle sie allem voran denen
Freude bereiten, die unter den gesellschaftlichen Strukturen leiden müssen.
Unter dem Rassismus, dem Sexismus und der LGBTQ-Feindlichkeit.
## „Er“ oder „sie“? Beides okay
Selbstermächtigung bedeutet letztendlich auch, selbst zu entscheiden, wann
man über was sprechen möchte – und wann nicht.
Bei einem Interview bezeichnete sich die Dragqueen einmal als „schwulen
Jungen, der Drag macht“, gegenüber der taz nennt sie sich „eine feminine
Gay“. Vittar positioniert sich als nichtbinär, spricht fast ausschließlich
in der weiblichen Form, dekonstruiert und überzieht Geschlecht.
Sie selbst spricht über sich und andere im generischen Femininum, legt aber
wenig Wert darauf, mit welchen Pronomen sie angesprochen wird. Vor einiger
Zeit erklärte sie: „Wenn Leute ‚er‘ sagen, finde ich das wunderbar, wenn
Leute ‚sie‘ sagen, finde ich das großartig.“ Einzige Ausnahme: Wenn sie
geschminkt ist, dann wünscht sie sich das „sie“.
Aufgewachsen ist Vittar mit ihrer Mutter und ihren zwei Schwestern in der
nordbrasilianischen Provinz, ihren leiblichen Vater kennt sie nicht. Über
die Schulzeit spricht die Dragqueen ungern – schmerzhafte Erinnerungen.
Weil sie zu Hause umso herzlicher empfangen wurde, sagt Vittar, sie sei
privilegiert. Als sie ihrer Mutter von ihrer Homosexualität erzählte,
antwortete diese gelassen, das wisse sie doch schon längst.
Als Jugendliche beschließt Vittar, Sängerin zu werden. Seit sie klein ist,
singt sie, lädt Videos auf YouTube hoch, später bewirbt sie sich bei „Big
Brother“ und „The Voice“, zieht mit 16 in den brasilianischen Südosten b…
São Paulo, um durchzustarten – Hauptsache, ganz groß rauskommen, das wollte
sie damals schon.
Stattdessen arbeitet sie in Fast-Food-Ketten, einem Friseursalon und einem
Callcenter. Irgendwann muss sie zurück zu ihrer Mutter, die mittlerweile
ebenfalls im Südosten Brasiliens wohnt. Erst einige Jahre später, 2016,
gelingt der Durchbruch.
Über 350 Millionen Aufrufe hat eines von Vittars Musikvideos mittlerweile,
9,9 Millionen folgen ihr auf [4][Instagram]. Gemessen an den Followern in
sozialen Netzwerken ist Pabllo Vittar die reichweitenstärkste Dragqueen der
Welt – auch das ist Brasilien im Jahr 2020.
Herzlich und gut gelaunt wirkt sie in den sozialen Netzwerken, wenn sie
etwa ungeschminkt ihre Perücke vor einem Auftritt im Waschbecken eines
Hotelbadezimmers wäscht. Vittars Geburtsname ist übrigens Phabullo
Rodrigues da Silva. Gefragt, woher der ungewöhnliche Vorname Phabullo
stamme, spaßte sie während einer Talkshow: vom englischen Adjektiv
„fabulous“.
Vergangenes Jahr war Vittar in Sevilla bei den European Music Awards, in
Los Angeles, um als Jurorin bei Queen of Drags dabei zu sein. Sie war in
Großbritannien, Mexiko, Portugal, bei den Prides in New York und Toronto,
in zahlreichen brasilianischen Städten sowieso. Und auch 2020 wird sie
wieder in Kalifornien bei Coachella auftreten, einem der größten
Musikfestivals der Welt.
## Subkultur wird Mainstream
Vittar hat weltweit Fans, oder wie die Queen sie liebevoll nennt:
Vittarlovers. Wenn sie heute auf die Bühne tritt, kreischt also längst
nicht mehr nur die queere Szene. Dass die Dragqueen Subkultur damit zum
Mainstream macht, kann man schade finden. Aber Vittar will das so. Und
ihretwegen erfahren viele, was Drag ist. Dass es Drag überhaupt gibt.
Um zu verstehen, wie viel das bedeutet, genügt ein kurzer Blick nach
Brasilien: Allein im Jahr 2018 wurden in dem Land 320 Menschen aus der
LGBTQ-Gemeinde [5][ermordet]. Seit einem Jahr regiert der rechtsextreme
Präsident Jair Bolsonaro, der seinen Wahlerfolg auch auf Tiraden auf Kosten
der queeren Bevölkerung aufgebaut hat.
Wird Vittar interviewt, geht es dementsprechend häufig um Bolsonaro und
Homophobie, um die Gewalt, die sie erfahren hat und erfährt. Oder darum,
was Drag überhaupt ist, wieso sie einen vermeintlich männlich klingenden
Vornamen gewählt hat oder ob sie trans ist. Am Umgang mit Vittar lässt sich
auch ablesen, wie wenig Wissen über queeres Leben in der breiten
brasilianischen Gesellschaft verankert ist.
Die Dragqueen nimmt das gelassen: „Ich hoffe, dass manche dieser Fragen
bald nicht mehr nötig sein werden“, sagt sie, „aber es ist völlig
natürlich, dass sie aufkommen, schließlich waren wir nicht immer in dieser
exponierten Position.“
## Der Pabllo-Vittar-Effekt
Wie wichtig das ist, zeigt auch Vittars eigene Geschichte. Ursprünglich
wollte sie keine Dragqueen sein. Erst als sie durch die US-Sendung
„RuPaul’s Drag Race“ verstand, wie vielfältig Drag sein kann, fand sie s…
darin wieder. So wie RuPaul für Vittar ein Vorbild war, ist sie nun selbst
ein Vorbild.
Das brasilianische Medienhaus Globo spricht vom [6][Pabllo-Vittar-Effekt]:
Zahlreiche brasilianische Künstler*innen aus der Dragszene wurden in
letzter Zeit bekannt, nachdem Vittar Sichtbarkeit erlangt hatte. Zu Globo
sagt eine der Queens: „Wenn Körper wie unsere plötzlich auf Werbetafeln
eines 50 Meter hohen Gebäudes gezeigt werden, legitimiert das unser
Dasein.“
Was bedeutet es, das bekannteste Gesicht aus queeren Kreisen zu sein in
einem Land, in dem so viele Menschen aus diesen Kreisen getötet werden wie
in keinem anderen? Es sei, wie jeden Tag einen Löwen zu töten, antwortet
Vittar dann immer.
Zumal sie ihre Haltung nicht versteckt: Vittar spricht über den Genozid an
der Schwarzen Bevölkerung, Femizide, LGBTQ-Rechte. Als sich während des
letzten Wahlkampfs herausstellte, dass einer ihrer Sponsoren auch die
Kampagne Bolsonaros öffentlich unterstützt hatte, kündigte sie
Werbeverträge auf und [7][distanzierte] sich über Instagram vor ihren
Millionen Fans von besagten Firmen. Dem US-Magazin Time sagte die
Dragqueen, sie [8][schäme sich] gelegentlich, Brasilianerin zu sein. Wegen
Bolsonaro, den Vittar übrigens dezidiert einen rassistischen, homophoben
Präsidenten nennt.
15 Jan 2020
## LINKS
[1] https://www.nytimes.com/2017/10/07/world/americas/brazil-transgender-pabllo…
[2] https://www.theguardian.com/world/2017/oct/20/pabllo-vittar-brazil-gay-drag…
[3] https://www.youtube.com/watch?v=RAQmKOsonhc
[4] https://www.instagram.com/pabllovittar/?hl=de
[5] https://grupogaydabahia.files.wordpress.com/2019/01/relat%C3%B3rio-de-crime…
[6] https://g1.globo.com/pop-arte/musica/noticia/efeito-pabllo-vittar-apos-esto…
[7] https://exame.abril.com.br/marketing/pabllo-vittar-rompe-com-marca-de-sapat…
[8] https://time.com/collection-post/5692972/pabllo-vittar-next-generation-lead…
## AUTOREN
Simon Sales Prado
## TAGS
Drag
Jair Bolsonaro
Brasilien
Schwerpunkt LGBTQIA
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Schwerpunkt Rassismus
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Wohnungsnot
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Olivia Jones
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