# taz.de -- Olivia Jones zum 50. Geburtstag: Die Aufklärer:in | |
> St. Pauli ist das interessanteste Viertel Hamburgs. Und eines mit | |
> inoffizieller Königin: Olivia Jones. Am Donnerstag wird sie 50. Eine | |
> Huldigung. | |
Bild: Ihre eigene Marke: Olivia Jones vor der „Olivia Jones Bar“ auf der Re… | |
BERLIN taz | Dass ein Märchen wahr wird, hat immer ein paar | |
Voraussetzungen. Kommt ein junger Mensch aus tiefster Provinz in eine | |
Metropole, in eine Stadt wie Hamburg also, deren bester Vorzug aus der | |
Sicht dieser Ankommenden vor allem ist, nicht Kiel, nicht Osnabrück, | |
Magdeburg oder das in diesem Fall nahe Hannover zu sein, dann braucht es | |
den Willen zu energischer Arbeit. Um Ruhm und Schönheit abzusahnen. Ein:e | |
jede:r braucht eine innere Welt, die sich von nichts Abträglichem | |
beeindrucken lässt. Solche Menschen hat es in der Geschichte Hamburgs | |
Hunderttausende gegeben – vorsätzlich das Kleinere, Provinzielle, irgendwie | |
Beengte hinter sich lassen wollend. Hamburg war immer ein Melting Pot, und | |
das war die Chance so vieler. | |
In diese Riege der Gierigen, Aufstiegswilligen, Unerschütterlichen passt | |
eine Person wie keine andere momentan, und das ist ein Mann namens Oliver | |
Knöbel, den aber keiner so recht kennt, aber als Künstler:in sehr wohl: Und | |
das ist die Geschichte einer absolut flamboyanten Person – Tusch und | |
Tschingderassubum, bitte! –, die wir unter dem Namen Olivia Jones kennen. | |
Sie hat die ästhetische Regentschaft über St. Pauli längst übernommen, das | |
sogenannte Rotlichtviertel an der Elbe koloriert wie niemand in den | |
vergangenen Jahrzehnten sonst. | |
Olivia Jones – das ist Aufwachsen in Springe bei Hannover, schon in | |
Jugendjahren ein Baum von einem Kerl, über zwei Meter hoch, kräftige Beine, | |
die indes nicht fürs Bauernrugby ohne Regeln eignen, sondern von, eben, | |
Oliver Knöbel sehr früh mit schönen Strümpfen benetzt werden: Dieser junge | |
Mann wusste sehr früh, was er will – Travestie, das Spiel mit | |
Geschlechterrollen und ihren Klischees. Und, ja, so halten es Menschen mit | |
starkem Ehrgeiz, dies alles fern aller Dezenz. Olivia Jones ist die | |
Grellheit selbst, die Übertriebenheit als solche – aber das immer Stilecht. | |
Perücken, Kleider, Roben, Capes, Make-ups, falsche Wimpern und makellose | |
Zähne: Olivia Jones verblüfft mit ihrer Existenz, weil neben ihr alles | |
fadenscheinig, grau und halbseiden aussieht. | |
Die Karriere der Olivia Jones auf den Catwalks der lichterfrohen Metropole, | |
ganz im Sinne des alten Su-Kramer-Popsongs „Hier ist das Leben“, verlief | |
indes auch deshalb glanzvoll, weil die Umstände eben so waren, wie sie nur | |
erkämpft sein konnten. 1989 kam der junge Mann aus dem Deister in Corny | |
Littmanns und Ernie Reinhardts „Tivoli“ auf den Kiez, was zehn Jahre vorher | |
gar nicht gegangen wäre. Das Littmann’sche Kulturkleinimperium auf St. | |
Pauli war ja ein Resultat der alternativen, ja, schwulenbewegten Zeiten. | |
Littmann, 1980, Spitzenkandidat der Grünen zur Bundestagswahl und vorher | |
Impresario der schwulen Theatergruppe „Brühwarm“, nutzte mit Reinhardt | |
(selbst wenige Jahre zuvor Migrantin aus der Lüneburger Heide, später | |
TV-berühmt als Lilo Wanders), die kulturelle Krise des bürgerlichen | |
Hamburg, das mit seinem Hafenviertel eh nie etwas anzufangen wusste. | |
Littmann und Reinhardt, die waren alternative Kultur, wie es sie etwa im | |
Hamburger Abendblatt damals nie geben durfte, davon abgesehen, dass man – | |
außer in der taz – das Wort „schwul“ durch keine Schlussredaktion bekam. | |
Hinzu kam die Erschütterung St. Paulis selbst durch die Aidskrise: Das | |
Sexgeschäft lag am Boden. Das war die historische Situation, in der St. | |
Pauli zum Hamburger Ausgehviertel werden konnte: Hotspot der Touristen, der | |
Hamburger:innen selbst und aller, die das wahre Leben um sich haben | |
wollten, wenigstens nachts. In eben diese Atmosphäre kam Olivia Jones nach | |
Hamburg – und wurde durch beinharte Arbeit am eigenen Projekt selbst zur | |
Szenefigur. | |
Das „Tivoli“ und das später eröffnete „Schmidt-Theater“ sind ja läng… | |
Weltkulturerbstück, etabliert und wohlgelitten, Littmann ist nicht so sehr | |
präsent im Viertel, Reinhardt hat sich ins Ländliche wohnhaft verlegt – und | |
nun regiert eben Olivia Jones. Und die hat das Prinzip, das die alternative | |
Kultur hat siegen lassen, noch zu steigern gewusst. | |
Geld konnte man auf St. Pauli immer schon verdienen, mit den Theatern | |
gelang das auch – und warum auch nicht? Ohne Moos nix los – insofern | |
verboten sich linke Kapitalismuserörterungen von allein: Man muss ja von | |
dem, was man arbeitet, auch leben können. Olivia Jones, so oder so, hat aus | |
sich eine eigene Marke gemacht – Lehrling bei Littmanns und Reinhardts | |
einst, nun eine Meisterin der sanktpaulianischen Darstellungskunst. | |
Hatten schon Littmann und Reinhardt keine Scheu – das war für Linke meist | |
ja ein Graus –, mit den sogenannt bürgerlichen Kreisen zu kooperieren, war | |
und ist Olivia Jones von den Sorgen, womöglich mit den falschen Leuten sich | |
gemein zu machen, völlig unangekränkelt: Ms. Jones, darin ihren Schwestern | |
in den USA und Österreich verwandt, etwa mit der Drag-Legende RuPaul in | |
Amerika und Conchita Wurst in Wien, war immer davon überzeugt, dass kein | |
Mensch gegen sie etwas haben könnte. | |
Alle drei, Olivia Jones natürlich nicht minder, eint diese gewisse Scheu | |
vor Jammerei und duckmäuserischem Opfergetue. Jones versteht sich wie alle | |
Dragqueens von Ehre als politisch, hasst alle Nazis und Rechten sowieso, | |
ist für Diversität und jedwedes Othering, denn alle sind anders und | |
interessant – insofern ist man selbst anders, weil alle es sind. Sie ist, | |
kurz, eben vor allem dies: Eine von uns, eine Art ideale Gesamtnachbar:in, | |
Aufklärer:in obendrein, vor allem mit ihrer beharrlichen Predigt für | |
Respekt und Wertschätzung, außer für Rechte, natürlich. | |
## Beliebteste Volxdarstellerin | |
Olivia Jones hat sich nie als Nischenschrulle gesehen: Wo ich bin, sind | |
alle okay – und der Mainstream ist ein prima Fluss, in dem es tolle | |
Badestellen gibt. Diese Figur genießt fetteste Sympathien, sonst wären ihre | |
Stadtrundgänge nicht so beliebt, würde sie nicht in TV-Shows eingeladen, | |
hätte sie nicht beim TV-Wort zum Sonntag mit einer Pastorin auftreten | |
können – 2016 fünf Minuten, ehe aus Stockholm der Eurovision Song Contest | |
übertragen werden sollte –, wäre nicht für „Extra 3“ vom NDR zu einer | |
NPD-Wahlkampfveranstaltung geschickt worden und hätte nicht eine nachgerade | |
päpstliche Autorität in der LGBTI*-Community, dass es nur so flimmert und | |
wimmert. | |
Olivia Jones ist, klare Sache, nicht bei allen beliebt auf dem Kiez. Manche | |
Kneipenwirte munkeln, sie könne andere Gastronomen nicht lassen und kaufe | |
lieber deren Lizenzen und Areale auf, um das eigene Imperium zu vergrößern, | |
aber das sind kaufmännische Nickeligkeiten, denn es steht ja nirgendwo | |
geschrieben, dass eine politische Ikone wie Olivia Jones gleichzeitig eine | |
karitative Mutter Teresa im Kommerziellen sein muss. | |
## Geliebt von Millionen | |
Ein gewisser Kollateralschaden ist gleichfalls in der Hinsicht zu | |
registrieren, dass mit Olivia Jones (und vielen ihrer Vorgängerinnen von | |
einst) nun alle Welt glaubt, dass schwule Männer alle auf Travestie stehen, | |
was stimmt – aber auch zur Folge hat, dass Heteros Dragqueens gegenüber | |
gemütlich gestimmt werden, weil sie glauben dürfen, Homos seien eigentlich | |
im Kern Frauen – was erwiesenermaßen nicht triftig ist. | |
Doch das sind diffizile Begleiterscheinungen der Liebe von Millionen zu | |
Olivia Jones und anderen Dragqueens. Anders formuliert: Wenn Ms. Jones, die | |
in Springe bei Hannover vom NDR eine eigene Sitzbank geschenkt bekommen | |
hat, wenn dieser Bürger aus der Provinz nun 50 Jahre jung wird, ist ganz | |
schon viel in dessen Leben passiert. Nichts weist darauf hin, dass es nun | |
langsamer weitergehen wird, kleiner, nein, nur im orthopädischen Sinne – | |
Jones hat sich die Beine etwas kürzer machen lassen. | |
Olivia Jones ist auf dem Weg, Hamburgs beliebteste Volxdarstellerin zu | |
werden: eine Heidi Kabel des ja noch jungen Jahrhunderts, nun aber als | |
Dragqueen sondergleichen. Wer das nicht als Fortschritt nimmt, hat kein | |
Herz. Herzlichen Glückwunsch einer, die aus der Provinz kommend das steife | |
Hamburg aufgemischt hat – was denn sonst? | |
20 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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