# taz.de -- Männer und Make-up: Ein paar sanfte Pinselstriche | |
> Unser Autor hat sich gefragt, wieso er sich nicht schminkt. Eine | |
> Überlegung zu Geschlecht, gesellschaftlichen Konventionen und Gewalt. | |
Bild: Ein junger Mann schminkt sich in der Öffentlichkeit. Unser Autor traut s… | |
Die Utensilien wären ja da. In einer Schublade, neben Schuhen und | |
Schnürsenkeln, liegen eine Konturpalette, zwei Kästchen mit vielen | |
verschiedenen Lidschatten. Burgunder, Glitter in verschiedenen Tönen, ein | |
wenig Blau, Grün, Rot, Gold. Öffne ich die Schublade, rollen mir zwei | |
Lipliner entgegen. Lipgloss ist auch da, Eyeliner, Primer, Concealer, | |
Foundation. Ein rosa Beautysponge und Pinsel, mit denen ich die ganze | |
Schmiere auf mein Gesicht auftragen kann. Könnte. Denn auf meinem Gesicht | |
ist nichts davon. Kein Make-up, keine überzeichneten Lippen. Die Augen ohne | |
Farben – ich traue mich nicht. | |
Klar, mir ist bewusst, dass viele Frauen Make-up als ein tägliches | |
Gefängnis empfinden: Die gesellschaftliche Pflicht, das Aussehen zu | |
verändern, das Gesicht vermeintlich zu verschönern. Frauen ohne Make-up | |
sind in vielen Berufen und Situationen eine Sonderbarkeit. Männer mit | |
Make-up sind es immer. Dabei könnte diese Auseinandersetzung mit dem | |
Selbst, die Ästhetisierung des Gesichts, eine Tür öffnen: Einen Ausweg aus | |
diesem Männlichkeitsbild, das noch immer so viele Männer prägt. | |
Ich [1][interessiere mich für Drag]. Schaue nicht [2][nur „RuPaul’s Drag | |
Race“,] sondern besuche auch Dragshows in Berlin, beschäftige mich [3][mit | |
der Subkultur]. Die Idee, Geschlecht mit Schminke dekonstruieren zu können, | |
ist für mich einleuchtend und interessant. Gleichzeitig kann die Farbe im | |
Gesicht auch ein Ausdruck des inneren Gefühls sein, einer Empfindsamkeit, | |
die sonst vielleicht verborgen bleibt. | |
Auf meinem Körper habe ich im Laufe der Jahre viele Tattoos angesammelt. | |
Hier treffen sich Motive, Muster, Farben, erzählen Geschichten von mir und | |
von den Menschen, die sie erstellt haben. Aber mit Make-up im Gesicht aus | |
dem Haus gehen, diesen Schritt kann ich noch nicht machen. Bis Oktober 2019 | |
hat die Polizei 261 Fälle homo- und transfeindlicher Gewalt gezählt – | |
allein in Berlin. Ich habe in der U-Bahn schon erlebt, wie ein Mann | |
beleidigt und körperlich bedroht wurde, weil er zu „feminin“ aussah. Das | |
macht mir Angst. | |
## Kein „Frauending“ | |
Ich identifiziere mich als Mann, nicht als Frau. Aber Make-up und, | |
dazugehörig, High Heels sind für mich kein „Frauending“. Zumindest in der | |
Theorie. Da stelle ich mir vor, dass sich Männer ebenso wie Frauen mit Mode | |
und Make-up ausdrücken können, wie sie wollen. Ohne an den Grenzen zu | |
scheitern, von denen die Gesellschaft entschieden hat, dass sie der Graben | |
zwischen „Mann“ und „Frau“ sind. | |
Wieso sind rote Wangen „weiblich“, dunkle Augenringe aber „männlich“? … | |
löst die Idee, Farbe in ihr Gesicht zu bringen, für viele Männer eine | |
Identitätskrise aus, die dann oft in Spott, Hass, Gewalt endet? Wieso diese | |
große Angst vor einem Riss in der Männlichkeits-Panzerung, in die sie von | |
Kind an gezwängt wurden? Was könnte aus diesem Riss hervortreten? | |
Diese ganzen Utensilien, ich habe sie freilich im Internet bestellt. Zwar | |
bin ich vorher schon durch den ein oder anderen Drogeriemarkt gelaufen und | |
habe verstohlen auf das Make-up geschaut. Habe die Frauen dabei beobachtet, | |
wie sie Tester öffneten, daran rochen, sie auftrugen, sich dabei mit ihren | |
Freundinnen unterhielten, verglichen. Sie schienen sich und ihre Farben zu | |
verstehen. | |
Es hat mich gefreut, das zu sehen. Ein emotionaler Austausch, den es unter | |
Männern nur sehr selten gibt. Derweil schlich ich zum Männer-Duschgel, das | |
eigentlich immer blau ist und nach den Duschen in öffentlichen | |
Badeanstalten riecht. | |
Welche Produkte ich für ein komplett geschminktes Gesicht bräuchte, habe | |
ich in diversen Videotutorials auf YouTube nachgeschaut. Da gibt es | |
Hunderttausende Videos von Menschen, die Schminktipps geben – viele davon | |
sind Männer. | |
## Das leichte Kitzeln | |
Als die Lieferung in meiner Wohnung ankam, schenkte ich mir ein Glas Wein | |
ein und legte los. Strich mit dem Beautysponge, einem Schwamm in Eiform, | |
über mein Gesicht. Ich trug Foundation auf, die sogar einigermaßen meiner | |
Hautfarbe entsprach. Bedeckte die Augenlider mit verschiedenen Farben. Ich | |
spürte eine gewisse Euphorie – die sanften Pinselstriche, das leichte | |
Kitzeln. | |
Es war für mich eine bisher unbekannte Freude, mein Gesicht nicht nur zu | |
sehen, sondern es eingehend zu studieren und so die Stellen zu finden, die | |
geschminkt werden könnten. Mir ist vorher nie aufgefallen, dass meine | |
Augenbrauen ziemlich tief über meinen Augen sitzen. | |
Vor etwa zehn Jahren begann ich mein Studium der Literatur- und | |
Geschichtswissenschaft, schnell entdeckte ich die Genderstudies. Ich las | |
die Bücher von Michel Foucault und Judith Butler. Setzte mich, sehr | |
theoretisch, mit den Ideen von Geschlecht – Sex und Gender – auseinander. | |
Mit dem Gedanken, dass es sich bei Gender um ein performatives Konstrukt | |
handelt, das also immer und immer wieder aufgeführt wird, bis wir es für | |
gegeben, für „natürlich“ halten. Für mich einleuchtend. | |
## Ein Ausdruck der Gefühlswelt | |
An dem Abend, als ich mit dem nun schon zweiten Glas Wein vor dem Spiegel | |
saß und mir Schminke ins Gesicht schmierte, wurde mir klar, dass ich mich | |
nie trauen würde, so vor die Tür zu treten. Freilich, das Ergebnis sah auch | |
furchtbar aus, aber es war mein erstes Mal, und diesen Makel wollte ich mir | |
gerne verzeihen. Es war und ist die Angst, die mich abhält, geschminkt das | |
Haus zu verlassen. | |
In meiner Vorstellung wäre Make-up für mich eine Fortsetzung meiner | |
Tattoos. Ein Ausdruck dessen, wie ich mich an dem Tag fühle. Auch ein wenig | |
Schauspiel, Camp, um auf die absurde Fassade zu deuten, die unser Leben | |
doch zu großen Teilen ist. In meiner Vorstellung würde ich Farbe auf meinen | |
Lippen haben, ein wenig Rot über meinen Augen, vielleicht auch | |
Wimperntusche. Aber diese Vorstellung bleibt in meinem Kopf. Denn, und | |
damit endet dieser kleine leuchtende Traum, würde ich so auf die Straße | |
gehen, wären die Chancen nicht gering, dass ich Probleme bekomme. | |
Diese vermeintlich offene und liberale Gesellschaft, in der wir leben, sie | |
kann sehr brutal werden, wenn sie ihre Konventionen angegriffen fühlt. Wenn | |
diese ganzen Schubladen, in der sie sich so schön eingerichtet hat. Wenn | |
die vielen Begriffe, die wir uns und anderen geben haben. | |
Wenn die Kategorien, die wir uns geschaffen haben, um nichts unerkannt zu | |
lassen – wenn das alles sich als große Konstruktion offenbarte. Und die | |
größte, wichtigste und bedeutendste dieser Konstruktionen ist noch immer | |
das Geschlecht. Diese Binarität von Frau und Mann, die angeblich nicht | |
aufgegeben werden darf. Es scheint einfach viel daran zu hängen. | |
## Andere sind mutiger | |
Ich weiß, dass es Männer gibt, die geschminkt das Haus verlassen. Sie sind | |
mutiger als ich, darum applaudiere ich ihnen. Ich weiß, dass Männer und | |
[4][trans Frauen deswegen Gewalt erleben]. Angespuckt, beleidigt, | |
verprügelt, ausgeraubt werden. | |
In der Theorie lässt sich sehr viel ausmalen. Das Internet mit seinen | |
Videos und Blogs ist ein schöner Raum, diese Ideen zu formulieren und zu | |
leben. Die Utensilien habe ich und mir gefällt der Gedanke daran. Aber ich | |
habe Angst vor der Vorstellung, welche Gewalt diese Produkte auslösen | |
können. | |
Wegen ein bisschen Farbe. Vielleicht ist genau jetzt die Zeit, es zu | |
probieren. Die Gesellschaft scheint momentan so weit weg zu sein. In der | |
Isolation werden die anderen Menschen und ihre Regeln immer verschwommener. | |
So schade es ist, diese Nähe nicht mehr zu haben – vielleicht können wir | |
diese Distanz auch nutzen, um die Konventionen zu überdenken, die mit der | |
Gesellschaft kommen. Auch ich kann damit beginnen, in meiner Isolation, | |
abseits dieser Zwänge – Pinselstrich für Pinselstrich. | |
29 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Matthias Kreienbrink | |
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