# taz.de -- Kampf gegen Wohnungsnot in São Paulo: Eine verhaften, alle einsch�… | |
> Die brasilianische Aktivistin Preta Ferreira wird vom Staat verfolgt. | |
> Ihre Verhaftung dient als Warnung für alle, die für ihre Rechte kämpfen. | |
Bild: Die Geschichte von Ferreira ist die vieler in São Paulo | |
SãO PAULO taz | Ein Wummern reißt Preta Ferreira aus dem Schlaf. Als sie | |
die Tür öffnet, guckt sie in den Lauf einer Pistole. Die Polizisten haben | |
keinen Durchsuchungsbefehl, wollen wissen, wo die Drogen und das Geld | |
versteckt sind. Auch Monate nach ihrer Festnahme bebt Ferreiras | |
Kratzstimme, als sie so von dem Morgen im Juni 2019 erzählt, der ihr Leben | |
auf den Kopf gestellt hat. | |
Anfang November, Innenstadt von São Paulo. Zum Interview im Gebäude der | |
Journalistengewerkschaft erscheint Ferreira verspätet, sie wirkt müde. Die | |
35-Jährige wird überwacht, darf keine sozialen Medien benutzen, traut sich | |
nicht mehr allein auf die Straße. „Ich werde wie eine Schwerverbrecherin | |
behandelt.“ Wie wurde aus der Aktivistin für die Rechte von Wohnungslosen | |
eine Staatsfeindin? | |
Die Geschichte von Ferreira ist die vieler in São Paulo. Ein großer Teil | |
der Bevölkerung stammt aus dem armen Nordosten, auch Ferreira kam mit 15 | |
Jahren zusammen mit ihren sieben Geschwistern aus dem Bundesstaat Bahia in | |
die größte Stadt Brasiliens. | |
Ihre Mutter war bereits für einige Jahre dort, lebte zwischenzeitlich auf | |
der Straße und in Obdachlosenunterkünften. Anfang der 1990er Jahre lernte | |
sie die Wohnungslosenbewegungen kennen und gründete bald selbst eine | |
Gruppe: Movimento Sem Teto do Centro (Bewegung der Obdachlosen im Zentrum, | |
MSTC). Seit dem Ende der Militärdiktatur Mitte der 1980er Jahre | |
[1][besetzen arme Vorstadtbewohner*innen, Migrant*innen und | |
Obdachlose Häuser]. Derzeit sind es rund 100, in einigen besetzten Gebäuden | |
leben mehr als 1.000 Bewohner*innen. | |
## Tausende Häuser stehen leer | |
Um zu verstehen, warum Menschen verfallene Hochhäuser, alte Kinos und | |
leerstehende Bürogebäude besetzen, genügt ein Blick auf die | |
himmelschreienden Ungleichheiten São Paulos. Während sich die Mittel- und | |
Oberschicht in schwerbewachten Wohnanlagen in den zentralen Gegenden | |
abschottet, umkreist die arme Peripherie São Paulo wie ein dichter Wald aus | |
rotem Backstein und Wellblech. | |
Und obwohl Hunderttausende Familien keinen Wohnraum haben, stehen Tausende | |
Häuser im Zentrum der Megametropole leer. Die Besetzungen klagen eine | |
verfehlte Stadtpolitik an, gleichzeitig bieten die Häuser ganz real | |
Tausenden armen Familien ein Dach über dem Kopf. „Wir besetzen, weil wir | |
keine andere Wahl haben“, sagt Ferreira. | |
Die besetzten Häuser gehören mittlerweile zum Stadtbild wie die | |
Verkehrsstaus und die vollgesprühten Wände. Fahnen und Transparente | |
markieren die Gebäude schon von Weitem. Die Eingänge sind oft | |
verbarrikadiert und werden rund um die Uhr von den Besetzer*innen bewacht. | |
Einlass erhält man nur mit Genehmigung. | |
Obwohl die Besetzungen durch die progressive Verfassung aus dem Jahr 1988 | |
formal legal sind, sind die Wohnungslosen dem Staat ein Dorn im Auge. Die | |
Verbindungen zwischen Justiz, Investor*innen und | |
Immobilienspekulant*innen sind ein offenes Geheimnis. Oft kommt es | |
zu gewaltsamen Räumungen. Auch Ferreira und ihre Mutter wurden mehrmals auf | |
die Straße gesetzt. | |
## Freiräume in der Stadt | |
Ferreira fing früh an zu arbeiten und finanzierte sich so ein Studium. | |
Nebenbei organisierte sie Kulturveranstaltungen, begann sich als Sängerin | |
und Schauspielerin einen Namen zu machen und half ihrer Mutter bei der | |
Koordination der Bewegung. Mitte der 1990er Jahre besetzte die Familie | |
zusammen mit rund 500 Menschen ein ehemaliges Luxusgebäude an einer stark | |
befahrenen Verkehrsader: die sogenannte Besetzung „9. Juli“. | |
Heute ist das 14-stöckige Haus eine der wichtigsten Freiräume in der Stadt, | |
regelmäßig finden dort Kulturveranstaltungen und Konzerte statt. Rund 500 | |
Menschen leben im „9. Juli“. Ferreira wohnt mittlerweile woanders. „Ich | |
will niemand den Platz wegnehmen“, meint sie. | |
Mit dem Leben in einem besetzten Haus verbindet Ferreira vor allem die | |
Gemeinschaft. „Wenn wir etwas brauchten, haben wir beim Nachbar geklopft, | |
Streits wurden gemeinsam gelöst und sonntags wurde immer zusammen mit allen | |
gegessen. So was gibt es heute sonst kaum noch irgendwo.“ Vor allem habe | |
sie durch die Besetzung aber gelernt, [2][was es heißt, Rechte zu haben.] | |
Doch das Leben sei hart gewesen, die Angst vor der Räumung war ein | |
ständiger Begleiter, viele Anwohner*innen verachteten ihre armen | |
Nachbar*innen. | |
Zusammen mit ihrem Bruder und drei weiteren Angeklagten kam sie am 24. Juni | |
in Haft. Wenn Ferreira über diese Zeit spricht, kämpft sie mit den Tränen. | |
Als „Folter“ bezeichnet sie das, was sie in der Untersuchungshaft | |
durchmachen musste. Sie habe kein Essen bekommen, in der Kälte auf dem | |
Boden schlafen müssen, sei beleidigt und bedroht worden. Auch im Gefängnis | |
wurde es nicht besser, sie musste ihr Essen mit Ratten teilen. Mit Kunst | |
und Musik habe sie sich abgelenkt, viel mit den Mithäftlingen gesprochen. | |
„Ich wusste nur eins: Ich darf nicht aufgeben.“ Am 10. Oktober urteilte ein | |
Gericht, dass sie bis zum Prozessende vorläufig freikommt. 108 Tage saß | |
Ferreira im Gefängnis. | |
## Vorwurf der Erpressung | |
Die Anklage hat es in sich: Erpressung und Bildung einer kriminellen | |
Organisation. Ferreira und die anderen Angeklagten sollen illegale Mieten | |
in besetzten Häusern kassiert haben. Ferreira streitet nicht ab, faire – | |
wie sie betont – Mieten genommen zu haben. Das Geld sei notwendig, um die | |
besetzten Wohnungen in Stand zu halten, und dies sei so vom Kollektiv | |
entschieden worden. Die Bewohner*innen bekommen sogar | |
Zahlungsbescheinigungen. „Welche Erpresserin stellt Rechnungen aus?“ | |
Der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung ist in den letzten | |
Jahren häufiger erhoben worden. Einige Gruppen sollen auch in der Tat | |
Verbindungen zu kriminellen Organisationen haben, andere sollen ihre | |
Mitglieder schamlos ausbeuten. | |
Die MSTC stand allerdings niemals wegen illegaler Machenschaften im Fokus. | |
Ferreira und die weiteren Angeklagten werden auch mit dem Einsturz des | |
besetzten Hauses am Paissandu-Platz in Verbindung gebracht. Im Mai 2018 | |
hatte ein 24-stöckiges besetztes Hochhaus in der Innenstadt Feuer gefangen | |
und war danach eingestürzt. Mehrere Menschen starben, einige gelten immer | |
noch als vermisst. Allerdings: Die MSTC hatte nichts mit dieser Besetzung | |
zu tun. Die Justiz, so Ferreira, unterscheide nicht zwischen den | |
Wohnungslosenbewegungen. „Für die sind alle Armen gleich.“ | |
Die MSTC von Ferreira ist eine der bekanntesten Bewegungen in der Stadt. | |
Bei der Architekturbiennale in Chicago wurde sie 2019 für ihre Arbeit | |
ausgezeichnet. Und sogar rechte Politiker*innen lobten die Arbeit der | |
MSTC. | |
## Warnung an alle | |
Doch warum wurden gerade Ferreira und ihre Bewegung zum Ziel der Justiz? | |
Sie sieht sich als Opfer einer politischen Kampagne. „Ich kam in Haft, weil | |
ich für meine Rechte kämpfe.“ Die Justiz in Brasilien agiere zunehmend | |
politisch. Auch gegen ihre Mutter war zuvor die gleiche Anklage erhoben | |
worden, doch das Verfahren musste eingestellt werden. Ihre Zeit im | |
Gefängnis sei eine Warnung an alle Wohnungslosen. | |
[3][„Wir leben bereits in einer Diktatur“,] sagt Ferreira. Mit „wir“ me… | |
sie nicht alle Brasilianer*innen – sondern die arme, Schwarze | |
Bevölkerung. Der sogenannte Krieg gegen die Drogen hat ganze Stadtteile in | |
Schlachtfelder verwandelt. „Was mit mir passiert ist, geschieht täglich mit | |
Tausenden Schwarzen in Brasilien. Während ich frei bin, sind viele meiner | |
Brüder und Schwestern weiterhin in Haft.“ | |
Seit ihrer Festnahme kann Ferreira nicht mehr arbeiten, wird überwacht, ihr | |
Telefon wird abgehört. Die Angst ist ihr ständiger Begleiter geworden. | |
Angst davor, dass die Polizei ihr Drogen zusteckt. Angst, dass sie wieder | |
verhaftet wird. Angst, dass ihr plötzlich etwas geschieht. „Ich bin frei, | |
aber immer noch in Haft.“ | |
24 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.rioonwatch.org/?p=28556 | |
[2] /Brasilianische-Dragqueen-Pabllo-Vittar/!5652531 | |
[3] /Aus-der-Favela-ins-Parlament/!5649897/ | |
## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
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