# taz.de -- Krise der sozialen Infrastruktur: Auf dem Weg in die Dystopie | |
> Der Kinder- und Jugendnotdienst steht vor dem Kollaps – genau wie Kitas, | |
> Sozialhilfe und Schulen. Anstatt zu investieren, spart der Senat weiter. | |
Bild: Zunehmend dem Verfall preisgegeben: Der Mehringplatz | |
Es ist das Rezept für das perfekte Desaster: Eine jahrzehntelang kaputt | |
gesparte soziale Infrastruktur trifft auf eine sich anbahnende | |
Haushaltskrise. Statt massiv mit Investitionen gegenzusteuern, dreht der | |
Senat jeden Posten nach Einsparmöglichkeiten um. Warnungen vor dem | |
drohenden Kollaps verhallen ungehört, wie zuletzt wieder am Dienstag vor | |
dem Roten Rathaus. [1][150 Sozialarbeiter:innen wiesen darauf hin, | |
dass das System der Kinder- und Jugendnothilfe kaum noch funktionsfähig | |
ist.] | |
Nach einer selbst gestellten Überlastungsanzeige herrscht seit Juni ein | |
Aufnahmestopp im Berliner Notdienst Kinderschutz (BNK). Die Institution ist | |
den Jugendämter angegliedert und stellt die erste Anlaufstelle für Kinder- | |
und Jugendliche in Not dar. Falls Eltern gewalttätig werden oder massiv | |
überfordert sind, kümmert sich der BNK um eine Unterbringung. | |
Doch Berlins Jugendämter sind seit Jahren überlastet, bis zu einem Punkt, | |
an dem sie ihre Kernaufgaben nicht mehr erfüllen können. Beschäftigte | |
klagen über steigende Belastung bei schwindendem Personal. In der Folge | |
steigen die Krankheitsstände oder Kolleg:innen kehren dem Bereich ganz | |
den Rücken zu. In Neukölln musste im vergangenen November eine Sektion des | |
regionalen sozialpädagogischen Dienstes nach einer Kündigungswelle komplett | |
schließen. | |
## Der Senat guckt zu | |
Besonders Kinder und Jugendliche längerfristig unterzubringen, wird | |
zunehmend schwieriger. Für Heranwachsende aus problematischen Verhältnissen | |
schwinden damit die Chancen auf ein normales, selbstständiges Leben ohne | |
Obdachlosigkeit, Drogen und psychische Probleme. Stattdessen landen sie | |
immer häufiger auf der Straße, weil es keine bezahlbaren Wohnungen mehr | |
gibt. | |
Die Situation im Kinder- und Jugendnotdienst ist aber kein isoliertes | |
Problem. Erst vergangene Woche [2][versuchten Erzieher:innen mit ihrem | |
Streik mitzuteilen, dass es um die Kitas nicht besser steht.] Auch in den | |
Schulen verschlechtert sich die Situation zunehmend: Lehrer:innen | |
fehlen, Angebote für bedarfsintensive Kinder werden gekürzt. Jugendklubs, | |
von denen vor allem Kinder aus einkommensschwachen Familien profitieren, | |
verfallen oder müssen schließen. | |
Der Senat aber tut nichts, um diesen Kollaps der sozialen Infrastruktur | |
aufzuhalten. Stattdessen soll noch mehr gespart werden, wie zuletzt in | |
Neukölln. [3][Dort hätten Schüler:innen angeblich zu viel Platz und | |
seien im Vergleich mit anderen Bezirken zu teuer.] Die geniale Lösung: Sie | |
sollen Räume abgeben, beispielsweise für die Volkshochschule. | |
## Einfach abgeschrieben | |
Trotz Haushaltskrise ist das Handeln des Senats keineswegs „alternativlos“, | |
sondern lediglich eine Frage der Prioritätensetzung. Für Wahlgeschenke wie | |
das 29-Euro-Ticket oder EM-Rollrasen ist ja auch noch genug Geld da. | |
Vielmehr verfolgt Schwarz-Rot eine konsequente Klientelpolitik. Denn vom | |
Kollaps sind vor allem jene betroffen, die nicht auf eine funktionierende | |
Familie, ein Eigenheim oder finanzielle Polster zurückgreifen können. | |
Die Folge: Ganze Milieus und Stadtquartiere, [4][wie das am Kreuzberger | |
Mehringplatz], drohen abgeschrieben zu werden. Für Jugendliche, die dort | |
aufwachsen, gäbe es dann kaum noch Chancen für den sozialen Aufstieg. Die | |
Ausmaße an Drogenkriminalität, Obdachlosigkeit und Verwahrlosung, mit denen | |
die Kieze schon jetzt kämpfen, sind nur ein Vorgeschmack auf das, was die | |
Stadtgesellschaft erwartet. Aber keine Sorge, mehr Überwachung, mehr | |
Polizei und höhere Zäune werden's schon richten. | |
19 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
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