# taz.de -- Familienberaterin über Ohnmachtsgefühle: „Die Eltern ackern und… | |
> Grundgefühl Ohnmacht: Die Bremer Familienberaterin Ini Friedrichs sieht | |
> sich zunehmend mit überforderten Eltern und Jugendlichen konfrontiert. | |
Bild: Viele Jugendliche fühlen sich angesichts gesellschaftlicher Krisen ohnm�… | |
taz: Warum ist für Sie als Erziehungsberaterin Ohnmacht so ein wichtiges | |
Thema, Frau Friedrichs? | |
Ini Friedrichs: Weil wir sie zunehmend feststellen als ein Phänomen bei | |
Kindern, Jugendlichen und Eltern: Die Kräfte reichen nicht aus, um die | |
ganzen Herausforderungen, die auf sie einprasseln, zu bewältigen. | |
taz: Was sind das für Herausforderungen? | |
Friedrichs: Wir merken, dass die gesellschaftlichen Krisen der letzten | |
Jahre ihre Spuren hinterlassen haben und dass die Anforderungen an die | |
einzelnen groß sind, durch Trennung in der Familie, psychische | |
Erkrankungen. Natürlich gibt es viele Familien, Kinder und Jugendliche, die | |
eigenständig Wege der Bewältigung finden. Aber einige unserer | |
Klient:innen scheinen zunehmend gar nicht mehr zu wissen, wo sie | |
anfangen und was sie machen sollen. Deshalb haben wir gesagt, dass wir es | |
zum Thema unserer Jahrestagung machen. | |
taz: Ist dieses Gefühl von Ohnmacht nicht oft realistisch? | |
Friedrichs: Das ist gleich etwas, womit man in der Beratung arbeiten kann, | |
indem man schaut: Worauf habe ich keinen Einfluss und kann vielleicht auch | |
aufhören, mich daran abzuarbeiten – und auf der anderen Seite die Bereiche | |
sucht, wo man durchaus Einfluss hat und einen anderen Umgang finden oder | |
Familie anders gestalten kann. Diese Schritte sieht man eben manchmal nicht | |
in dem Gefühl von Überforderung. | |
Wie können Sie dabei helfen? | |
Friedrichs: [1][Wir versuchen zu schauen, wer zur Lösung beitragen kann, | |
wen wir beteiligen müssen], damit sich eine Dynamik wirklich verändern | |
lässt. Das können die Eltern oder Geschwister sein, aber auch die beste | |
Freundin oder die Oma oder die Vertrauenslehrerin, denn manchmal braucht | |
man mehr als eine Person, um wirklich einen Unterschied zu machen. Wir | |
versuchen immer, eine ermutigende Botschaft in unseren Gesprächen zu haben. | |
Etwa wenn wir fragen: „Mensch, wie kommst du eigentlich damit klar, was du | |
da alles auf den Schultern hast?“ | |
taz: Gehen Erwachsene und Kinder unterschiedlich mit Ohnmachtsgefühlen um? | |
Friedrichs: Kinder bleiben ja selten lange in einem Gefühl stecken. Sie | |
können auch mit sehr, sehr schwierigen Situationen so umgehen, dass die | |
auftauchen, groß und mächtig wirken, und eine halbe Stunde später können | |
sie schon wieder vergnügt spielen. Wir Erwachsene und auch teilweise die | |
Jugendlichen werden eher von langen Stimmungsveränderungen geplagt. Wir | |
haben hier Jugendliche, die stark in den Rückzug gehen, die Schule meiden | |
und sich den Entwicklungsaufgaben, etwa im Bereich Autonomie oder | |
Identitätsfindung, gar nicht mehr stellen. Wir haben aber auch Jugendliche, | |
die die Ohnmacht überlagern mit einem Gefühl von „Ich nehme mir, was ich | |
brauche“, das aber nicht unbedingt auf eine gesunde und gesellschaftlich | |
verträgliche Art und Weise tun. | |
taz: Und die Eltern? | |
Friedrichs: Die ackern und rackern, gerade die mit den kleinen Kindern, die | |
keine gesicherte Kinderbetreuung haben und immer mehr finanzielle Sorgen. | |
Sie sind auch durch die Weltlage gedrückt in ihrer Stimmung, haben | |
Schwierigkeiten bei der Vereinbarung von Job und Familie und merken | |
überhaupt nicht, wenn ihr Akku leer ist. | |
taz: In der Theorie, würde ich denken, gibt es ein großes Bewusstsein für | |
die Belastungen von Jugendlichen. Setzt sich das nicht in die Praxis um? | |
Friedrichs: Die Jugendlichen nehmen wahnsinnig viel wahr, was | |
gesellschaftspolitisch um sie herum passiert. Ich glaube, dass der | |
Zeitpunkt immer früher kommt, an dem sie anfangen, sich damit | |
auseinanderzusetzen; es gibt Kinder, die abends nicht einschlafen können, | |
weil sie sich ums Klima Sorgen machen oder den Rechtsruck. Da gibt es | |
Jugendliche, die total alarmiert sind davon, und solche, die aktiv werden | |
können. Und zu den Anforderungen der Schule: Wir haben auch Jugendliche, | |
die versuchen, alles perfekt und ihren Eltern alles recht zu machen und | |
dabei den Kontakt zu sich und den eigenen Bedürfnissen verloren haben. Das | |
zeigt sich dann manchmal in Ängsten, Zwangsverhalten oder Essstörungen. | |
taz: Auf der Tagung werden Sie auch die eigene Ohnmacht als Beratende – | |
inhaltlich und von den Ressourcen her – in den Blick nehmen. | |
Friedrichs: Wir hatten immer schon mit schwierigen Themen zu tun: mit | |
traumatisierten Familien, mit Gewalt in der Familie, mit psychischen | |
Erkrankungen. Aber jetzt wirken auf einzelne Familien so viele | |
Belastungsereignisse, dass die Fälle komplexer werden. Wir merken, dass wir | |
von der Ausstattung her an unsere Grenzen kommen, nicht von der | |
Fachlichkeit, und dass [2][das psychosoziale Hilfesystem insgesamt leider | |
relativ erschöpft ist]. | |
taz: Wie wirkt sich das konkret aus? | |
Friedrichs: Wenn wir zum Beispiel hier in Bremen jemanden haben, bei dem | |
sich herausstellt, dass es Traumaerfahrungen gibt und eine Therapie | |
notwendig ist, dann wartet die Person bis zu einem Jahr auf den | |
Therapieplatz. Und die Wartezeiten steigen nicht nur im | |
psychotherapeutischen Bereich, sondern auch, wenn es um Diagnostik für | |
Kinder mit Auffälligkeiten geht. Wir überbrücken das. Aber wöchentliche | |
Termine über einen langen Zeitraum sind bei uns nicht möglich. Unsere | |
Arbeit ist eher so gedacht, dass wir reingehen, bevor die Probleme | |
riesengroß werden. Es schafft natürlich ein Gefühl von Ohnmacht, wenn man | |
weiß, eigentlich ist es unsere Aufgabe, und wir sind auch dafür | |
ausgebildet, aber wir haben einfach nicht die Ausstattung dafür, eine | |
niedrigschwellige Versorgung anbieten zu können. | |
taz: Ist es ein Mangel, weil keine Stellen dafür geschaffen werden oder | |
weil zu wenige, diese Arbeit machen wollen? | |
Friedrichs: Das ist ein echt schöner Job und wir haben das Glück, dass wir | |
immer noch Menschen finden würden. Aber es ist kommunalpolitisch immer die | |
Frage: Wie viel Personal wollen wir in welchen Bereich stecken – und | |
überall ist es schwierig. Aber es fällt schon auf, dass in den Kommunen, wo | |
die Erziehungsberatung relativ stark gemacht wurde, relativ wenig für | |
Inobhutnahmen und Familienhilfen ausgegeben wird. | |
taz: Sie sagen: Es ist ein schöner Beruf. Ist das in der Außenwahrnehmung | |
verloren gegangen über die Strukturprobleme? | |
Friedrichs: Deswegen ist uns dieses zweite Wort Ermutigung im Tagungstitel | |
so wichtig. Wenn man guckt, was wir in unseren Beratungsräumen den ganzen | |
Tag machen, dann ist das Ermutigung. Und es ist schon ein schöner Job, | |
Menschen zu ermutigen und sie dabei begleiten zu können, ihre Situation zu | |
verbessern. Da hat man auch wahnsinnig berührende, schöne Momente, wo man | |
sehen kann, wie Probleme gelöst werden, wie Familien sich beruhigen, wie | |
Kinder und Jugendliche sich entwickeln. | |
25 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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