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# taz.de -- Häusliche Gewalt gegen Kinder: Nur weg von zu Hause
> Was tun, wenn die Eltern schlagen? Wie ausziehen, ohne 18 zu sein? Wen
> solche Fragen beschäftigen, bekommt Hilfe. Doch Jugendämter sind
> überlastet.
Bild: Die Zahl der Jugendlichen, die Hilfe brauchen, ist zuletzt deutlich gesti…
Berlin taz | Von außen sieht Judiths Familie aus wie eine typische, heile
Familie. Doch so ist es nicht. Judith fühlt sich nicht mehr sicher zu
Hause. Seit vier Jahren wird sie von beiden Eltern geschlagen. Das will sie
nicht mehr hinnehmen. Judith will weg von zu Hause. Doch das ist gar nicht
so einfach. Denn Judith ist noch nicht volljährig.
Soll sie zum Jugendamt? Judith ist sich nicht sicher. Eigentlich möchte sie
nur, dass das alles aufhört, ihre Familie eine ist wie alle anderen. Oder
ausziehen, ohne dass daraus „eine große Sache“ wird, ohne Hilfe anderer,
vor allem ohne Jugendamt oder Gerichtsverhandlung. Sie hat Angst, dass sie
etwas lostreten könnte, von dem sie nicht weiß, welche Folgen es haben
könnte. Wird man ihr überhaupt glauben? Müsste sie ihre Eltern anzeigen?
Wie würden diese reagieren?
Judith ist kein Einzelfall in Berlin. Schon 2022 melden Jugendämter in
Berlin und Brandenburg mehr als 28.000 Verfahren wegen
Kindeswohlgefährdung, seitdem sind die Fälle weiter gestiegen. In der
letzten Kriminalstatistik für 2023 erfasst die Berliner Polizei einen
Anstieg von bis zu 17 Prozent, wobei die meisten Übergriffe nicht erfasst
bleiben, da sie nicht angezeigt werden. Viele Jugendliche nämlich leiden
unter häuslicher Gewalt und melden sie nicht. Aus Unsicherheit, Unwissen
und Angst. Und schon der erste Schritt, ob man Hilfe sucht, ist für sie
sehr belastend. Genau so geht es Judith.
Aber sind ihre Befürchtungen berechtigt? [1][Jugendstadträtin Carolina Böhm
(SPD) aus Steglitz-Zehlendorf] erklärt, dass das Jugendamt viele
Möglichkeiten hat, Familien in schwierigen Situationen zu helfen, zum
Beispiel durch Familientherapie oder aufsuchende Familienhilfe. Gewaltopfer
können in der Gewaltschutzambulanz der Charité ihre Verletzungen kostenfrei
rechtsmedizinisch untersuchen und dokumentieren lassen, ganz gleich, ob sie
sich für oder gegen eine Anzeige bei der Polizei entscheiden.
„Das Jugendamt ist nicht für die Strafverfolgung zuständig, sondern nur für
Unterstützungsmaßnahmen für die Kinder und deren Familien“, sagt Böhm.
„Selbst wenn ein Kind in Obhut genommen wird, werden weitere Gespräche mit
den Eltern geführt und Unterstützungsmaßnahmen angeboten.“ Die
Strafverfolgungsbehörden würden nur dann tätig, wenn sie Kenntnis von
Straftaten erlangen. „Wenn der/die Minderjährige eine Weitergabe dieser
Informationen nicht möchte, unterliegt das Jugendamt dem besonders starken
Sozialdatenschutz.“ Und bei Kinderschutzverfahren würden natürlich alle
Familienmitglieder einbezogen und ermutigt, sich zu äußern, auch getrennt
voneinander.
## Kinder können in Obhut genommen werden
Eine Anzeige ist also keine Voraussetzung für ein familiengerichtliches
Verfahren. Was aber, wenn der Konflikt nicht gelöst werden kann? „Die
Minderjährigen werden dann entweder in stationären
Jugendhilfeeinrichtungen, in betreuten Wohngemeinschaften oder im betreuten
Einzelwohnen untergebracht“, sagt Carolina Böhm. Und für sehr kleine Kinder
stünden in der Regel Pflegefamilien bereit.
Und Judith? Könnte sie nicht einfach ausziehen? Die rechtliche Situation
ist klar. Wer 18 Jahre ist, ist ohnehin volljährig und kann tun und lassen,
was er oder sie will. Aber auch schon mit 16 ist es möglich, aus dem
Elternhaus auszuziehen. Vorausgesetzt, es gibt eine Genehmigung und
Unterstützung der Eltern.
Das hat Judith versucht, doch ihre Eltern haben Nein gesagt. Will sie
wirklich weg von zu Hause, bleibt ihr tatsächlich nur der Gang zum
Jugendamt. Das kann sie um eine sogenannte Inobhutnahme bitten. „Das kommt
immer wieder vor“, erzählt Carolina Böhm. Kinderschutzmeldungen würden
unverzüglich bearbeitet. Je nach Schwere des Vorwurfes findet ein
Hausbesuch statt. Auch beteiligte Fachkräfte wie zum Beispiel Lehrerinnen,
Erzieher und Ärzte würden befragt. „Wenn sich der Verdacht erhärtet“, so
Böhm, „kommt es zu einer Inobhutnahme.“
Aber der Gang zum Jugendamt ist nicht die einzige Möglichkeit, Hilfe zu
finden. Von Freund*innen hat Judith gehört, dass es auch andere
Hilfsangebote gibt. Zum Beispiel beim Kinderschutzbund Berlin oder der
„Nummer gegen Kummer“.
„Unsere Beratung steht allen Menschen zur Verfügung, die sich Sorgen um
Kinder machen und eben auch Kindern, denen es nicht gut geht und die sich
Hilfe wünschen“, [2][sagt Sabine Bresche, die für den Kinderschutzbund
Berlin arbeite]t. Auf Wunsch gäbe es die Möglichkeit, die Gespräche anonym
zu führen, am Telefon oder bei einem persönlichen oder einem Online-Termin.
Im Mittelpunkt stehe immer das betroffene Kind, das aktiv mit einbezogen
würde, um die Situation zu verstehen und dann gemeinsam eine Lösung zu
finden.
Auch [3][Nummer gegen Kummer] ist ein kostenloses telefonisches
Beratungsangebot für Kinder, Jugendliche und Eltern. Nora Malmedie
beschreibt es so: „Für viele Ratsuchende geht es lediglich darum, in einem
geschützten Rahmen über ihre Erlebnisse zu sprechen.“ Deshalb wolle man den
Ratsuchenden Raum geben, um sich zu öffnen. Gerade wenn es um
Gewalterfahrungen geht, ist oft die Wahrung der Anonymität für viele Kinder
und Jugendliche wichtig. So auch für Judith.
Es gebe auch die Möglichkeit, dass Jugendliche von Gleichaltrigen beraten
werden. Geholfen wird dabei, Personen im Umfeld anzusprechen oder
Anlaufstellen in der Umgebung zu finden. „Die Beratung erfolgt immer nach
dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe: Ratsuchende werden in einer
Krisensituation ermutigt, eigenständig nächste Schritte zu gehen“, sagt
Malmedie.
## Jugendeinrichtungen am Limit
Doch nicht nur viele Jugendliche befinden sich in einer Krisensituation,
sondern auch die Berliner Jugendeinrichtungen. Oft sind sie mit ihrer
Arbeit am Limit. Bereits 2023 teilte der [4][Deutsche Berufsverband für
Soziale Arbeit (DBSH)] mit: „Die Situation in den Jugendämtern ist
unverändert katastrophal! Seit über 10 Jahren weisen Berlins Fachkräfte,
Jugendamtsleiter*innen, Mitglieder der Jugendhilfeausschüsse und
Fachverbände auf akute Missstände im Bereich der Berliner Kinder- und
Jugendhilfe hin. Sie rufen um Hilfe.“
Seitdem hat sich die Situation eher verschlechtert.
Das bestätigen zahlreiche Einrichtungen der Jugendhilfe. „Wir haben in den
letzten Jahren mit steigenden Zahlen zu tun“, sagt Sabine Bresche, „sind
aber mit unseren Kapazitäten schon lange an der Grenze.“ Verena Bieler vom
DBSH fasst die Situation so zusammen: Aktuell seien 136 Vollzeitstellen in
den Berliner Jugendämtern unbesetzt. Hinzu komme die hohe Fluktuation des
Personals, denn die Belastung sei enorm. Viele der Fälle würden immer
komplizierter, weil präventive Angebote kaum noch möglich seien oder
weggekürzt würden. Daher seien Familien lange ohne Hilfe und Probleme
spitzten sich zu.
Hinzu käme, dass es zu wenig stationäre Unterbringungsmöglichkeiten in
Berlin gäbe. Viele Wohngruppen müssten schließen. Das läge nicht nur an zu
wenig Personal bei den freien Trägern, sondern auch an zu hohen Mieten, die
eine Anmietung von Immobilien erschwerten. Auch wenn der Senat an
langfristigen Strukturen arbeite, dauere das zu lange und komme in der
Praxis nicht unmittelbar an.
Auch Jugendstadträtin Carolina Böhm sieht die Situation kritisch. Obwohl in
ihrem Amt die Mittel nicht gekürzt wurden, wäre eine größere Zuwendung
wünschenswert. „Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels fällt es Eltern,
unabhängig von ihrem sozialen Status oder Einkommen, immer schwerer, die
Erziehung allein zu bewältigen“, sagt sie. „Selbst bei einer
gleichbleibenden Fallzahl wäre die Belastung für unsere Mitarbeiter/-innen
im Vergleich zu früher wesentlich höher, weil die Problemlagen komplexer
geworden sind.“
Der DBSH warnt, „dass radikale Gruppierungen an Stelle der
Sozialarbeiter*innen treten und sich der Jugend annehmen“, und weist
dabei auf den Rechtsruck in Deutschland hin, der besonders bei jungen
Menschen zu beobachten sei.
„Jugendliche werden alleine gelassen mit ihren Problemen und haben keine
Orte mehr für einen geschützten Austausch oder niedrigschwellige
Unterstützung“, meint Verena Bieler. Dadurch würden die Probleme eher
größer und kämen später wieder: In Form von Kriminalität, Arbeitslosigkeit
oder psychischen Krankheiten. Auch die Kosten für den Staat würden damit
steigen. Doch bei den derzeitigen Kürzungen im Berliner Haushalt gibt es
nicht viel Hoffnung auf eine Verbesserung.
Judith weiß nicht, was als nächstes kommt. Doch sie weiß, sie wird sich
Hilfe suchen.
Die Autorin ist 14 Jahre alt und war Schülerpraktikantin im Berlinteil der
taz.
13 Feb 2025
## LINKS
[1] https://www.berlin.de/ba-steglitz-zehlendorf/politik-und-verwaltung/bezirks…
[2] https://kinderschutzbund-berlin.de/
[3] https://www.nummergegenkummer.de/
[4] https://www.dbsh.de/index.html
## AUTOREN
Noa Albrecht
## TAGS
Jugendhilfe
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