| # taz.de -- Antifa in Ostdeutschland: Der Frust darf nicht siegen | |
| > Es gibt vieles, was die Zivilgesellschaft schon geschafft hat. Sie ist | |
| > kreativer geworden, demonstriert weiter und ist wirksam. Ein | |
| > Gastkommentar. | |
| Bild: Es braucht Initiativen der Zivilgesellschaft so wie diese Großdemo in Je… | |
| Dieser Text ist zuerst [1][im Veto Magazin erschienen] und Teil einer | |
| Kooperation mit der taz nach den Kommunal- und vor den Landtagswahlen 2024. | |
| Nach einem langen Tag sitze ich im Zug nach Halle (Saale). Ich bin noch in | |
| Sachsen, kurz vor Leipzig, als ich meinen Augen nicht traue und eine | |
| Sprachnachricht aufnehme. Es ist 20:13 Uhr, als das Handy meines Kumpels | |
| vibriert und ich ihm Folgendes erzähle: | |
| „Moin, Tommy, sitze gerade in der Regionalbahn, zwei Kinder, so zwölf oder | |
| dreizehn Jahre, stehen neben dem Zug, grinsen und machen den Hitlergruß. | |
| Ich war kurz davor, ein Foto zu machen, aber genau dann ist der Zug | |
| weitergefahren. Na ja, das nur eine Alltagsanekdote, könnte ich jetzt | |
| wahrscheinlich twittern, aber ich weiß nicht …“ | |
| Die Szene am Bahnsteig spielt ein paar Tage vor der EU- und den | |
| Kommunalwahlen. Vor ein paar Jahren noch wäre ich schockiert gewesen, hätte | |
| unbedingt darauf aufmerksam machen wollen und sofort einen Tweet abgesetzt. | |
| Doch in diesem Moment hatte ich keinen Bock, diese ständige | |
| Social-Media-Empörungslogik zu füttern. Schließlich ist genau das der | |
| Grund, warum ich seit mehreren fucking Tagen den plärrenden Ohrwurm von | |
| [2][Gigi D’Agostinos „L'amour toujours“] in rassistischer Umdichtung noch | |
| immer nicht aus dem Kopf bekomme. | |
| ## Die sächsische Zivilgesellschaft erringt Erfolge | |
| Und auch heute geht es mir kaum anders: Die nicht wirklich überraschenden | |
| und trotzdem erschreckenden AfD-Zugewinne und auch die [3][Ergebnisse für | |
| die extremrechte Kleinstpartei „Freie Sachsen“] liegen mir im Magen. Doch | |
| ich will keine schockierten Worte zum Osten auf 280-Zeichen-Länge teilen. | |
| Was ich natürlich denke, ist: Scheiße! | |
| Die AfD hat die Europawahl in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, | |
| Sachsen-Anhalt und Thüringen gewonnen; auch aus den Kommunalwahlen geht sie | |
| im Osten mit [4][als stärkste Kraft] hervor. Das alles fühlt sich | |
| ernüchternd an, und trotzdem ist da ein Aber. Denn die letzten Tage vor der | |
| Wahl haben mir auch klargemacht: Die sächsische Zivilgesellschaft ist auf | |
| dem Weg, sie erringt Erfolge gegen antidemokratische Kräfte, sie vernetzt | |
| sich und baut Strukturen auf, die nachhaltig wirken können. | |
| Wenige Stunden vor den grinsenden Hitlergruß-Kids am Bahnsteig war ich zum | |
| Beispiel in Annaberg-Buchholz. Die erzgebirgische Traditionsstadt, in der | |
| etwa 22 000 Menschen leben, ist neben Folklore, Bergbau und dem | |
| Renaissance-Schloss Augustusburg außerdem für religiös-fundamentalistische | |
| Antiabtreibungsdemos bekannt, für eine breit aufgestellte rechte Szene und | |
| Nazi-Schwibbögen mit SS-Rune und Reichsadler. | |
| Doch bei meinem Besuch überwog diesmal ein anderes Bild – und auch ein | |
| anderes Gefühl: Es war die Freude, so kurz vor den Kommunal- und | |
| Europawahlen etliche Engagierte zu treffen. Eingeladen hatte die | |
| [5][Initiative „Zukunftsmusik Sachsen“], gegründet von vier Studierenden | |
| aus Dresden. Das Kollektiv tourt aktuell mit Musik durchs Land, um | |
| möglichst niederschwellig mit Menschen über Ängste, Politik, aber vor allem | |
| über Zukunftsvorstellungen zu sprechen. | |
| Deshalb sind an diesem Tag in der kleinen, ehrenamtlich betriebenen Kneipe | |
| ungefähr 30 Menschen aus Annaberg zusammengekommen. Der Nachmittag beginnt | |
| musikalisch. Die „Demokratiekapelle“ singt über die Wahlen, Zukunftsträume | |
| und von der Liebe zu Sachsen. Als ich das höre, muss ich schlucken. Denn | |
| das mit der Sachsenliebe fällt mir oft gar nicht so leicht. Und schon | |
| stellt mich die Moderatorin vor und bin ich dran, um aus meinem Buch zu | |
| lesen. Dabei fehlen mir gerade die Worte. | |
| Ich versuche deutlich zu machen, was die Liebe zu Sachsen für mich nur | |
| bedeuten kann: Ich möchte die unangenehmen Seiten nicht ausblenden. Ich | |
| möchte Orten wie Annaberg oder meiner Heimatstadt Zwickau nicht ihre | |
| traditionsreiche Automobil- oder Bergbaugeschichte absprechen oder diese | |
| geringschätzen. Aber: Wenn extrem rechte und antidemokratische Strömungen | |
| sich hier weiter hartnäckig ihren Weg bahnen, wenn die Landtagswahlen im | |
| Herbst dem Osttrend der Europa- und Kommunalwahlen folgen, werden sie genau | |
| dieses Erbe überschatten und überstrahlen. | |
| ## Ein Akt der Liebe | |
| Deshalb heißt Liebe für mich, offen und ehrlich Kritik an meiner Heimat zu | |
| üben. Gerade weil sie mir etwas wert ist. Weil Entwicklungen nicht | |
| umkommentiert stehengelassen oder aus vermeintlicher Ahnungslosigkeit | |
| toleriert werden dürfen. Denn der Fakt, dass es mir und vielen anderen eben | |
| nicht egal ist, was vor Ort passiert, bedeutet einen Akt der Liebe. Und | |
| das, obwohl mir Rückwärtsgewandte immer wieder vorwerfen, ich sei ein | |
| Nestbeschmutzer. | |
| Was für mich in Annaberg erneut deutlich wird, ist, wie viele diesen | |
| Zwiespalt in sich tragen. Dieses Gefühl zwischen Hass und Liebe, das Wissen | |
| darum, dass wir zivilgesellschaftliche Arbeit nur leisten, weil uns die | |
| Region am Herzen liegt. Und ja, die Region hat ein verdammt hartes | |
| Nazi-Problem, aber es gibt genauso schöne, subkulturelle und demokratische | |
| Seiten, die wir stärker zum Vorschein bringen müssen. Es gibt viel, was wir | |
| schaffen können. Und viel, was wir verteidigen müssen. | |
| In den letzten Wochen war „Zukunftsmusik Sachsen“ in verschiedenen Orten | |
| unterwegs. In Zwickau, Meißen, Torgau, Bautzen – und überall gab es viel | |
| Zuspruch für das Programm. Was mich daran besonders beeindruckt? Wie es die | |
| Initiative schafft, Menschen zum Mitmachen zu animieren, diverse Gruppen | |
| zusammenzubringen und hoffentlich viel Mut und auch viel Rückenstärkung zu | |
| hinterlassen. Denn vielleicht ist es genau das, was den Protest nach den | |
| Correctiv-Recherchen so auszeichnet: Wir sind kreativer geworden, wir | |
| demonstrieren weiter und lassen uns gerade jetzt nicht unterkriegen. | |
| ## Wir haben immer noch uns | |
| Denn wenn wir als aktive Zivilgesellschaft eines feststellen können, dann, | |
| dass es durchaus auch Erfolge zu verzeichnen gibt. Natürlich geht es uns | |
| nach den Wahlergebnissen scheiße und das ist auch okay. Aber wir haben | |
| immer noch uns und das, was wir seit Anfang dieses Jahres aufgebaut haben – | |
| und das kann uns keiner nehmen: | |
| Erstens: Im sächsischen Döbeln gründete sich innerhalb weniger Wochen eine | |
| „Omas gegen Rechts“-Gruppe mit mittlerweile dutzenden Aktiven! Und auch in | |
| Orten, in denen jahrelang nicht demonstriert wurde, haben sich neue | |
| Organisationen, Bündnisse, Allianzen gefunden, die eine wehrhafte | |
| Demokratie erarbeiten wollen. | |
| Zweitens: Viele Menschen haben inzwischen verstanden, dass blindes | |
| Institutionen- oder Parteienvertrauen allein das Problem mit dem | |
| Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft nicht lösen wird – und das ist | |
| ein gutes Zeichen! Reden gegen AfD und Neonazis sind ein guter Anfang. | |
| Langfristig braucht es aber mehr, um Menschen zusammenzuhalten und nicht | |
| denen, die spalten wollen, die Bühne zu überlassen. Zum Beispiel, dass | |
| Perspektiven für ländliche Räume im Osten entwickelt und wirksam werden. | |
| Dass gerechter Klimaschutz konsequent verfolgt wird. Dass wir im Zweifel | |
| versuchen, es selbst in die Hand zu nehmen. | |
| Und drittens: In den bundesweiten Ergebnissen zur Europawahl erreichte die | |
| AfD nicht die Werte, die ihr zu Beginn des Jahres noch prognostiziert | |
| wurden! Das ist kein Selbstläufer und keine Entwarnung, aber das ist auch | |
| unser Verdienst. Wir sind wirksam und müssen jetzt alles dafür tun, das | |
| auch zu bleiben. Indem wir unsere Geschichten erzählen. Ich spreche und | |
| schreibe über Ängste im Alltag, über Hass und rechte Strukturen. Aber auch | |
| über das, was mir Auftrieb gibt und mich bei meiner Arbeit inspiriert: | |
| tolle Initiativen, unermüdliches Engagement und standhafte Menschen. | |
| Veto gibt den vielen Engagierten im Land eine Stimme. Hier geht's zum | |
| Magazin: [6][veto-mag.de] | |
| 12 Jun 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://veto-mag.de/jakob-osten/ | |
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| [3] /Freie-Sachsen-bei-Kommunalwahl-Sachsen/!6016578 | |
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| [5] https://www.instagram.com/zukunftsmusik_sachsen/ | |
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| ## AUTOREN | |
| Jakob Springfeld | |
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