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# taz.de -- Erinnerungsarbeit in Sachsen: Dagegenhalten
> Im sächsischen Pirna regiert der erste AfD-Oberbürgermeister –
> mittlerweile mit einer Mehrheit im Stadtrat. Wie geht dort noch
> politische Bildung?
Bild: Alina Gündel will für die Schrecken des Nationalsozialismus sensibilisi…
Dieser Text ist zuerst [1][im Veto Magazin erschienen] und Teil einer
Kooperation mit der taz nach den Kommunal- und vor den Landtagswahlen 2024.
Pirna scheint zu schlafen. Die Kleinstadt vor den Toren Dresdens macht
einen friedlichen Eindruck. In der Mittagssonne sitzen am Rand des
pitoresken Marktplatzes ein paar ältere Herrschaften zusammen, sonst sind
die Straßen weitgehend leer. Zwei Menschen, die Arme ineinander gehakt,
schlendern vorbei und begutachten das Rathaus. Der Renaissance-Bau wirkt
heute selten unauffällig, produzierte er doch vor wenigen Wochen noch
etliche [2][Schlagzeilen in überregionalen Medien].
Rund 800 Menschen positionierten sich hier Ende März für eine offene
Gesellschaft. Neben Regenbogenfahnen hielten sie Schilder in die Luft:
„Menschenrechte statt rechte Menschen“. Oder: „Der Unterschied zwischen
1933 und 2024? Bist Du“. Der Grund für ihren Protest war und ist der neue
Oberbürgermeister der Stadt. [3][Tim Lochner], Kandidat der AfD. Seine
Vereidigung nach einem knappen Erfolg im zweiten Wahlgang hat die
sächsische Kleinstadt wieder einmal über die Landesgrenzen hinaus sichtbar
gemacht – und gezeigt: Pirna kämpft mit inneren Widersprüchen.
Das neue AfD-Stadtoberhaupt sorgt gegenwärtig für Widerstand – und schon
früher bestimmten hier rechte Kräfte die Stimmung. Alina Gündel beobachtet
das alles ganz aus der Nähe. Sie leistet Bildungsarbeit in der Stadt. Wie
sich dieser Job aktuell anfühlt? „Nazis sind schon lange nicht mehr an
Springerstiefeln und Glatze zu erkennen. Die Sichtbarkeit dieser Personen
ist im Alltag begrenzt.“
Aber sie sind da. Das zeigt die hohe Zustimmung zu einer Partei, die in
Sachsen als gesichert rechtsextrem gilt. Bei den Kommunalwahlen Anfang Juni
konnte die AfD in Pirna ihre Sitze im Stadtrat mehr als verdoppeln: von
vier auf neun. Die Partei ist damit stärkste Kraft und spürt den Rückhalt.
## Wachsender AfD-Einfluss
Was konkret diese Stimmenmehrheit unter einem AfD-Oberbürgermeister für den
politischen Alltag bedeutet, bleibt ungewiss. Zwar ist die wachsende
politische Gestaltungsmacht in den Händen der AfD ein Novum, besondere
Dynamiken zwischen rechten und linken Kräften habe es im sächsischen
ländlichen Raum jedoch schon immer gegeben, erzählt Alina Gündel.
Zum Beispiel in ihrer Jugend: „Es gab Hegemonien, in die ich als nicht
rechte Person nicht reingepasst habe. Ich wurde regelmäßig als Zecke
beschimpft, mir wurde Gewalt angedroht. Zum Glück ist nie wirklich was
passiert, bei anderen sah das anders aus. Rassistische Sprüche blieben oft
unwidersprochen stehen, das fand ich schlimm.“
Erfahrungen wie diese waren für sie damals ein Grund zu gehen. Heute sind
sie der [4][Grund zum Bleiben]. Alina Gründel will aufklären, politisch
arbeiten – gerade im ländlichen Raum, um einen Gegenentwurf zu rechten
Narrativen zu schaffen. Wie ernüchternd das aber mitunter sein kann, zeigen
die Ergebnisse der Europa- und [5][Kommunalwahlen].
Außerdem zeigt eine [6][Studie der Universität Leipzig] deutlich, in welch
kritischer Lage sich die Demokratie besonders in Ostdeutschland befindet.
Eine hohe Zustimmung gibt es etwa zu rechtsextremen Aussagen; unter anderem
in Sachsen befürwortet zudem rund ein Drittel der Befragten eine Diktatur.
## Bildungsarbeit im AKuBiZ
Dabei zeigt die Vergangenheit, wie schnell eine Demokratie Geschichte sein
kann. Alina Gündel will für die Schrecken des Nationalsozialismus
sensibilisieren. Das tut sie gemeinsam mit anderen beim Alternativen
Kultur- und Bildungszentrum, kurz AKuBiZ.
Die Initiative entstand 2001 als Gegenbewegung zur rechten Präsenz, auch
als Reaktion auf An- und Übergriffe. Als Jugendliche seien die
Gründungsmitglieder von Gewalt betroffen gewesen, sagt Gündel. Daraufhin
hätten sie sich vernetzt und Räume gesucht und gefunden.
Die Idee war es, ein Jugendzentrum aufzubauen und sich gegen rechts zu
organisieren. Heute liegt ein Schwerpunkt des Vereins auf historischer
politischer Bildung – und auf der Geschichte des Nationalsozialismus. Mit
Vorträgen, Workshops, Ausstellungen, Publikationen, Wanderungen und einer
digitalen Geschichtskarte machen die Engagierten Vergangenes zugänglich.
„Der Widerstand gegen Nazis gerät in Vergessenheit und rechte Kräfte
versuchen hartnäckig, die Geschichte zu verfälschen“, sagt Alina Gündel.
Ähnlich drastisch äußern sich Holocaust-Überlebende wie Ivar
Buterfas-Frankenthal, der die AfD für „brandgefährlich“ hält – auch
deshalb, weil Thüringens AfD-Chef Björn Höcke einst eine
„erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ propagierte und heute
[7][verbotene SA-Parolen zitiert].
## Erbe des Nationalsozialismus
Damit die viel beschworene Parole „Nie wieder“ nicht einfach verpufft,
klärt das AKuBiZ über die [8][Verbrechen des Nationalsozialismus in der
Region] auf. Dazu gehört unter anderem die Tötungsanstalt
Pirna-Sonnenstein. Hier wurden von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt
zwischen 1940 und 1941 mehr als 14.700 Menschen ermordet. Das letzte
Zeitzeugnis, eine übriggebliebene Busgarage, soll nun einem Neubau weichen.
Weiter draußen liegt zudem die Burg Hohnstein, die in der NS-Zeit als
Konzentrationslager, Reichsjugendherberge und Kriegsgefangenenlager diente.
Wegen eines Umbaus waren hier der Ausstellungs- und Gedenkraum im
ehemaligen Frauenbunker kurzzeitig gefährdet.
Bei solchen Entscheidungen, erklärt Alina Gündel, sollte immer dieselbe
Frage gestellt werden: „Wie bleiben solche Orte als Erinnerungsorte
erhalten?“ Denn: „Die meisten Zeitbezeugenden sterben und können nichts
mehr darüber erzählen. Ein Zugang über die historischen Orte wird deswegen
immer wichtiger.“
Und auch die neuere Regionalgeschichte müsse weiter kritisch aufgearbeitet
werden. In den Neunzigern beispielsweise dominierten die „Skinheads
Sächsische Schweiz“ Pirna und das Umland, eine der brutalsten
Neonazi-Kameradschaften Deutschlands. Die Organisation wurde 2001 verboten,
Übergriffe und Anfeindungen fanden damit jedoch auch kein Ende. Noch 2005
reihten sich Straftaten und Einschüchterungsversuche der Neonazi-Szene
aneinander.
## Lange Tradition als Hotspot
Und heute? In Sichtweite zu den Vereinsräumen des AKuBiZ steht das Pirnaer
Rathaus. Von hier aus entscheidet AfD-Oberbürgermeister Tim Lochner. Mit
seiner Wahl Mitte Dezember 2023 scheint sich eine traurige Traditionslinie
rechter Einflussnahme aufzutun: Pirna als Stereotyp einer „braunen Stadt im
Osten“.
Das jedoch werde den vielen Engagierten und progressiven Kräften nicht
gerecht. Auch mit Blick in die Geschichte widerspricht Gündel der
verkürzten, vorschnellen These: „Pirna war eine normale Stadt, wie viele
andere auch. Das macht es aber nicht weniger erschreckend.“
In Pirna zeige sich vielmehr ein schleichender Prozess, der auch in anderen
Städten und Bundesländern zunehmend an die Oberfläche tritt. Denn bis
hinein in politische Ämter und Entscheidungsebenen reichen gegenwärtig
radikale und extremistische Weltanschauungen, die vor Jahrzehnten noch
gesellschaftliche Randerscheinungen waren.
So nannte der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland die Zeit des
Nationalsozialismus einen „Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher
deutscher Geschichte“. Dass Tim Lochner das Aufhängen der Regenbogenfahne
in Pirna mit dem Hissen der Hakenkreuzfahne verglich, zeige ähnliche
Tendenzen, verdeutlicht Alina Gündel.
## Sichere Finanzierung
Konkreten Einfluss auf die Arbeit des AKuBiZ nähmen diese Entwicklungen
noch nicht. Doch Alina Gündel schränkt ein: Tim Lochner sei noch nicht
lange im Amt. Der Verein befände sich gegenüber anderen Initiativen in
Pirna zudem in einer komfortableren Lage, was etwa die Finanzierung angeht.
„Wir sind nicht abhängig von städtischen Geldern oder Räumen.“
Andere würden da eher mit ihrer Positionierung hadern. Außerdem gebe es
durchaus Stimmen, die das Amt des Oberbürgermeisters als rein repräsentativ
und damit unabhängig von der AfD begreifen. Das offenbare eine potenzielle
Offenheit gegenüber Lochners Inhalten, so Gündel. Dinge würden sagbarer,
was wiederum zur Normalisierung nicht-demokratischer Werte führe.
Dass das AKuBiZ in Zukunft und gemeinsam mit der Stadt weitere
Stolpersteine verlegen oder Erinnerungstafeln aufstellen wird, ist aktuell
schwer vorstellbar. Alina Gündel beschreibt das entstehende
Spannungsverhältnis deutlich: „Für uns ist klar: Wir werden keine
Veranstaltung bewerben oder besuchen, bei der Tim Lochner anwesend oder
irgendwie involviert ist.“
Er sei zwar Oberbürgermeister, aber nicht „alleiniger Herrscher in der
Stadt“. Gündel bleibt deshalb zuversichtlich: „Wenn uns Hürden in den Weg
gestellt werden, finden wir andere Lösungen.“
## Zivilgesellschaft rückt zusammen
Dabei fühlt sie sich in ihrem Engagement gegen rechts gegenwärtig sogar
weniger alleine. Lochners Wahl habe die Zivilgesellschaft zusammenrücken
lassen. Das zeige zum Beispiel das Bündnis „Solidarisches Pirna“, das sich
zu Jahresbeginn zusammengefunden und die Demo vor dem Rathaus organisiert
hat. Auch das AKuBiZ ist Teil dieses Zusammenschlusses.
Diese Vernetzung sei nötig, findet Gündel, da der Einsatz gegen rechte
Kräfte und Strukturen gerade in kleineren Städten schnell an die Substanz
gehen könne. So dominiere häufig die Angst, ausgegrenzt und abgestempelt zu
werden oder unter Beobachtung von Rechtsaußen zu stehen.
„In kleinen Gemeinden, in denen sich die meisten Leute kennen, ist das auf
jeden Fall mutiger, als sich mit 20.000 Leuten in Dresden auf die Straße zu
stellen.“ Mut machen Alina Gündel die Bilder der letzten Monate aber
allemal, die vielen Menschen auf den Straßen überall im Land.
„Es ist wichtig, dass Rechte merken, dass sie nicht die Einzigen sind, die
bestimmen können, worüber und mit wem gesprochen wird“, sagt sie und
betont, dass der Protest gerade jetzt weitergehen müsse. „Meine Hoffnung
ist, dass dieses Gefühl wirklich genutzt wird, um sich verbal zu wehren –
und im Alltag Haltung zu zeigen.“
29 Jun 2024
## LINKS
[1] https://veto-mag.de/akubiz/
[2] /AfD-Buergermeister-in-Pirna/!5980670
[3] /AfD-Kandidat-wird-Oberbuergermeister/!5977811
[4] /Ergebnisse-der-Kommunalwahlen/!6013298
[5] /Kommunalwahlen-in-Ostdeutschland/!6013280
[6] https://www.uni-leipzig.de/newsdetail/artikel/befragung-viele-ostdeutsche-f…
[7] /Hoecke-wieder-vor-Gericht/!6018998
[8] /Gedenkstaetten-Chef-ueber-AfD/!5980446
## AUTOREN
Jule Merx
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