| # taz.de -- Forscher über Bildungsbericht 2024: „Das beste Programm seit Lan… | |
| > Das Startchancen-Programm kann gegen die Chancenungleichheit helfen, sagt | |
| > Bildungsforscher Kai Maaz. Für die Kitas bräuchte es nun ähnliche | |
| > Ansätze. | |
| Bild: Immer mehr Grundschüler:innen verfehlen die Mindeststandards, stellt die… | |
| taz: Herr Maaz, Sie haben den Nationalen Bildungsbericht mitverfasst, der | |
| diese Woche vorgestellt wurde. Die Ergebnisse geben wenig Anlass zu | |
| Optimismus: Es fehlen auf Jahre Fachkräfte an Schulen und Kitas, die | |
| Chancenungleichheit ist anhaltend hoch und die Schulabbrecherzahlen steigen | |
| wieder. Wie schlimm ist es um die Bildung bestellt? | |
| Kai Maaz: Wir sehen in dem Bericht die Probleme, die unser Bildungssystem | |
| bereits in den vergangenen Jahren vor große Herausforderungen gestellt und | |
| die sich zum Teil jetzt noch verstärkt haben. Neben den Punkten, die Sie | |
| genannt haben, sind das die nicht hinreichenden schulischen Leistungen. Die | |
| Gruppe der leistungsschwachen Schüler:innen wird immer größer, die der | |
| leistungsstarken immer kleiner. Das ist vor allem bei den Basiskompetenzen | |
| in der Grundschule ein drängendes Problem, weil sich dieses Defizit dann | |
| möglicherweise durch die ganze Bildungsbiografie zieht. Diese Befunde | |
| müssen wir uns zu Herzen nehmen. Gleichwohl gibt es aber auch positive | |
| Entwicklungen. | |
| Welche sind das? | |
| Im Bereich der frühen Bildung erleben wir eine starke Expansion. In den | |
| letzten Jahren sind mehr als 10.000 Kitas neu entstanden. Positiv ist auch, | |
| dass viele junge Menschen nicht bei ihrem ersten Abschluss stehen bleiben, | |
| sondern sich weiterbilden. Unser System erlaubt, dass die Bildungskarrieren | |
| nicht in Stein gemeißelt sind und Abschlüsse zu einem späteren Zeitpunkt | |
| nachgeholt oder aufgewertet werden können. | |
| Ihr Bericht bestätigt den Trend, dass [1][immer mehr Grundschüler:innen | |
| die Mindeststandards beim Lesen] verfehlen. Die Kultusministerkonferenz | |
| (KMK) hat sich zuletzt auf mehr Deutsch- und Mathestunden an Grundschulen | |
| geeinigt. Wie viel versprechen Sie sich von dieser Maßnahme? | |
| Im Grundsatz halte ich es für richtig, die Lernzeit derjenigen Fächer zu | |
| stärken, die wir als besonders wichtig ansehen und die uns vor | |
| Herausforderungen stellen. Die Skepsis, dass sich Schulen dann nur noch auf | |
| Deutsch und Mathe beschränkten, kann ich so nicht teilen. Ich sehe darin | |
| eher die Möglichkeit, über einen vertiefenden Unterricht auch besser auf | |
| die verschiedenen Leistungsstände der Kinder eingehen zu können. Wir wissen | |
| aus Studien, dass das kontinuierliche Trainieren positive Effekte auf | |
| Spracherwerb, Lesegeschwindigkeit und Sprachverständnis hat. Insofern gehe | |
| ich davon aus, dass diese Maßnahme wirkt. | |
| Lehrkräfte beklagen, dass die Leistungsunterschiede schon riesig sind, wenn | |
| Kinder an die Grundschulen kommen. | |
| Es stimmt: Wenn wir mit der Förderung erst in Grundschule anfangen, ist es | |
| zu spät. Wir haben gute Ansätze in den Bildungsplänen der einzelnen Kitas. | |
| Wir müssen aber das Personal noch stärker sensibilisieren und | |
| qualifizieren, damit sie den Bildungsauftrag stärker wahrnehmen können. Das | |
| ist kein Selbstläufer, nur Kitaplätze allein reichen nicht. | |
| Eine Studie vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LifBi) zeigt, dass | |
| Kitas sogar [2][in der Lage wären, die soziale Ungleichheit teilweise | |
| auszugleichen]. Allerdings bekommen sozial benachteiligte Familien deutlich | |
| seltener einen Kitaplatz. Haben wir ein Problem mit struktureller | |
| Diskriminierung? | |
| Es reicht jedenfalls nicht aus, nur Kitaplätze anzubieten. Wir wissen, dass | |
| der Bedarf der Eltern gerade bei den unter Dreijährigen nicht gedeckt ist | |
| und dass wir da bestimmte Eltern stärker adressieren müssen. Das ist auch | |
| eine gesellschaftspolitische Aufgabe. Der Anteil der Kinder mit | |
| Migrationshintergrund, die in die Kita gehen, ist insgesamt deutlich | |
| niedriger als der ohne. Bei den Drei- bis Sechsjährigen ist der Anteil der | |
| Kinder mit Migrationshintergrund sogar gesunken. Dieser Befund hat uns | |
| schon überrascht. | |
| Manche Kommunen versuchen, Familien von Geburt an zu begleiten. Sollte das | |
| zum Standard werden? | |
| Ich finde, ja. Und dieses Engagement kann nur aus den Kommunen und den | |
| Bildungsregionen kommen. Helfen könnte, wenn wir alle Akteure in der | |
| Bildungslandschaft stärker miteinander vernetzen würden. Also | |
| beispielsweise Schulen mit den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, die | |
| oft eine hervorragende Arbeit machen, aber gar nicht in die Lerninhalte der | |
| Schulen eingebunden sind. Ein gutes Beispiel für eine Vernetzung im | |
| Sozialraum sind Familienzentren. Wenn man es schafft, die Eltern aus ihren | |
| Wohnungen zu locken, besteht auch eher die Chance, sie für Angebote wie | |
| einen Kitaplatz zu sensibilisieren. | |
| Der Bildungsbericht zeigt, dass nur 32 von 100 Kindern aus sozial | |
| benachteiligten Familien eine Gymnasialempfehlung erhalten – bei den | |
| privilegierten Kindern sind es 78. Glauben Sie, dass [3][das | |
| „Startchancen-Programm“], das diesen Sommer startet und zunächst mehr als | |
| 2.000 Brennpunktschulen mit zunehmenden Ressourcen ausstattet, an dieser | |
| Statistik etwas ändern wird? | |
| Ja, das glaube ich. Das „Startchancen-Programm“ ist aus meiner Sicht das | |
| beste Programm seit Langem. Bund und Länder nähern sich der | |
| Chancenungleichheit nicht nur projektbezogen, sondern zum ersten Mal | |
| systemisch an. Es geht also nicht nur darum, am Unterricht etwas zu | |
| ändern, sondern es geht um Schule insgesamt, um Schulsozialarbeit, um die | |
| Verknüpfung zum Sozialraum. Zudem sollen auch die Unterstützungssysteme in | |
| den Ländern in das Programm eingebunden werden: Qualitätsinstitute, | |
| Schulaufsicht, Angebote zur Schulentwicklung. Das mit in den Fokus zu | |
| stellen, halte ich für richtig. | |
| Bund und Länder wollen mit dem Programm die Gruppe der Schüler:innen, die | |
| die Mindeststandards in Deutsch und Mathe verpassen, halbieren. Ist das | |
| realistisch? | |
| Wenn wir den Bereich der frühen Bildung nicht systematisch mitdenken, dann | |
| wird das nicht reichen, um diese Ziele zu erreichen. In den ersten | |
| Lebensjahren wird der Grundstein für die soziale Spreizung gelegt. Meine | |
| Hoffnung ist, dass wir jetzt mit den Schulen starten – aber in den | |
| Familienministerien schon darüber nachgedacht wird, wie solche systemischen | |
| Angebote für die frühe Bildung aussehen können. | |
| Wäre es nicht an der Zeit, Kitas und Schulen ein und demselben Ministerium | |
| zu unterstellen, wie es in manchen Bundesländern bereits der Fall ist? | |
| Das ist eine gute und schwierige Frage. Es besteht natürlich die Gefahr, | |
| dass man sich in einer Grundsatzdiskussion über die Ressortzuteilung | |
| verliert, die letztlich niemandem hilft. Wenn man die Frage von der | |
| Bildungsbiografie her denkt, spricht natürlich vieles dafür, die Steuerung | |
| in eine Hand zu legen und nicht in mehrere. Das könnte helfen, dass die | |
| Räder besser ineinandergreifen. | |
| In dem Bildungsbericht fordern Sie und die übrigen Autor:innen mehr | |
| kreative Lösungen. Beim Lehrkräftemangel setzt die KMK – nach anfänglicher | |
| Skepsis – nun auf Ein-Fach-Lehrkräfte und duale Ausbildungswege. Geht das | |
| in richtige Richtung? | |
| Ja, absolut. Wobei ich beim dualen Studium etwas zurückhaltend bin. Das | |
| Ziel ist ja, die Praxisphasen im Studium früher beginnen zu lassen. | |
| Gleichzeitig sollen auch die Schulen entlastet werden, indem die | |
| Studierenden Unterricht übernehmen. Da müssen wir aufpassen, dass wir uns | |
| nicht in die Tasche lügen. Wenn Studierende das leisten sollen, dann müssen | |
| sie an dieser Schule auch eng begleitet und unterstützt werden. | |
| Die Studierenden springen doch jetzt schon ein. In manchen Ländern wie | |
| Sachsen-Anhalt dürfen schon Bachelorstudierende als Vertretungslehrkräfte | |
| arbeiten. Ist es dann nicht besser, einzelne Schulen zu Ausbildungsstätten | |
| mit guter Betreuung zu machen? | |
| Das ist tatsächlich eine Entwicklung, die ich mit Sorge betrachte. Von | |
| meinen Studierenden an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main arbeiten | |
| gefühlt 95 Prozent bereits in Schulen und übernehmen dort Verantwortung. | |
| Ich finde das Ausprobieren gar nicht falsch, wenn die Schulen das gut | |
| begleiten und die Studierenden ihre Erfahrungen wissenschaftlich | |
| reflektieren können. | |
| Im Fokus des diesjährigen Bildungsberichts liegt die berufliche Bildung. Wo | |
| liegen dort die größten Herausforderungen? | |
| Eine sehr große Herausforderung ist die soziale Selektivität beim Zugang zu | |
| Ausbildungsgängen und Abschlüssen. Das sieht man zum Beispiel daran, wie | |
| wenig Kinder aus Nichtakademikerhaushalten es nach wie vor auf die Uni | |
| schaffen. Dann ist uns aufgefallen, dass die Berufsorientierung an Schulen | |
| nicht immer gut gelingt. Wie gut die verschiedenen Angebote aber insgesamt | |
| sind und wirken, ist eine totale Blackbox. An Gymnasien wiederum findet so | |
| gut wie keine Berufsorientierung statt. | |
| Im [4][vergangenen Bildungsbericht 2022] haben Sie auf einen interessanten | |
| Zusammenhang hingewiesen: Etwa drei Viertel der Schulabbrecher:innen | |
| holen in den Jahren drauf doch noch ihren Abschluss nach. Zeugt das von der | |
| Qualität des zweiten Bildungsweges – oder von der Ratlosigkeit der Politik, | |
| wie sie alle Schüler:innen zum Abschluss führen kann? | |
| Die Frage lässt sich jetzt so oder so beantworten. Die positive Botschaft | |
| ist: Das System ist offener und flexibler geworden. Es gibt die | |
| Möglichkeit, Abschlüsse nachzuholen. Die weniger gute Botschaft ist jedoch: | |
| 6,9 Prozent konnten am Ende der Schulpflicht nicht in die Lage versetzt | |
| werden, einen ersten allgemeinbildenden Abschluss zu erwerben. | |
| 19 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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