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# taz.de -- Paris löst Camps auf: Olympia ohne Obdachlose
> Vor den Olympischen Spielen werden in Paris systematisch Obdachlosencamps
> aufgelöst und Geflüchtete vertrieben. Viele sind noch minderjährig.
Bild: Räumung eines Lagers von minderjährigen Flüchtlingen am 6. März in Pa…
In anderthalb Monaten beginnen die Olympischen Spiele in Paris und
zahlreiche Hilfsorganisationen schlagen Alarm. Das Kollektiv Le Revers de
la Médaille (Die Kehrseite der Medaille), bestehend aus über 90
Hilfsorganisationen, hat am 3. Juni einen Bericht veröffentlicht, aus dem
hervorgeht, dass die Zwangsräumungen von Camps und die Vertreibung von
Menschen aus dem Großraum Paris im vergangenen Jahr deutlich zugenommen
haben. Besonders betroffen sind Geflüchtete, Obdachlose, Drogenabhängige
und Sexarbeitende. Teilweise werden sie mit Bussen in andere Regionen
gefahren. [1][Der Vorwurf der „sozialen Säuberung“] vor dem Start der
Olympischen Spiele wird immer größer.
Laut dem Bericht waren in den letzten zwölf Monaten über 12.545 Menschen
von den Zwangsräumungen betroffen und damit „38,5 % mehr als im gleichen
Zeitraum 2021–2022“. Hinzu kommt ein großer Abbau an sogenannten
Sozialhotels, die die Stadt anmietet, um Menschen in prekären Situationen
kurzfristig unterzubringen. Im letzten Jahr wurden 3.000 solcher Plätze
gekündigt, womöglich, um vom Olympia-Tourismus zu profitieren. Nur 300
Plätze wurden neu geschaffen. Die Zahl der diesjährigen Auflösungen von
Obdachlosen-Camps ist nach einem halben Jahr fast auf dem Stand vom
gesamten letzten Jahr.
Lösungen sind zurzeit nicht in Sicht. „Wir sind wirklich enttäuscht. Es ist
noch nicht zu spät, aber wir haben wenig Hoffnung“, antwortet Pauline
Duhault, eine Sprecherin von Le Reverse de la Médaille. Sie hätten viele
Lösungsvorschläge gemacht, darunter die Finanzierung von Wohnraum, Essen
und Trinken durch einen „olympischen Solidaritätsfond“, jedoch hat nichts
funktioniert.
## Minderjährige betroffen
Auf die Anfrage bei der [2][Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo] und ihrer
Stellvertreterin Léa Filoche kam bisher keine Antwort. Eine offizielle
Stellungnahme zu den Vorwürfen gibt es nicht. In der französischen Zeitung
Médiapart widerspricht Léa Filoche dem Vorwurf der Hilfsorganisationen: „Ob
mit oder ohne Olympische Spielen, der Staat hätte genauso viele Menschen
vertrieben und evakuiert.“
Von den über 12.000 Betroffenen sind laut Bericht 3.434 minderjährig. Ein
Großteil von ihnen gehört zu den sogenannten unbegleiteten minderjährigen
Geflüchteten. Viele sind aus Guinea oder der Elfenbeinküste über das
Mittelmeer geflohen, meistens 15 oder 16 Jahre alt. In Paris angekommen,
landen die meisten erst einmal auf der Straße. Die Auflösung ihrer Camps
sei „eines der schlimmsten Beispiele von sozialer Säuberung im Vorfeld der
Olympischen Spiele“.
Seit Jahresbeginn wurden die Camps der jungen Geflüchteten immer wieder
geräumt. Normalerweise mit einer Vorlaufzeit von 48 Stunden. Am 6. März
2024 sollten gar auf kurzfristige Anordnung der Polizei alle Camps am Ufer
der Seine bis zum Abend geräumt sein. Dort hatten über 400 unbegleitete
Jugendliche ihre überdachten Schlafplätze unter den Brücken. In der
Anordnung, die erst am Nachmittag kam, wurde die Räumung mit dem
„steigenden Wasserspiegel“ der Seine begründet. Der Pegel der Seine war
tatsächlich angestiegen. Aber sind die Behörden wirklich besorgt um die
Jugendlichen? Oder eignet sich der Moment einfach gut, um eine Räumung zu
rechtfertigen?
## Protest vor dem Rathaus
Die jungen Geflüchteten hatten nur gut eine Stunde, um ihr Hab und Gut vom
Ufer wegzuräumen. Klamotten, Zelte, Decken, Matratzen. Freiwillige von
mehreren Hilfsorganisationen halfen bei der Koordination und beim Tragen
der Sachen. Das Ziel der unbegleiteten Jugendlichen blieb ungewiss. Klar
war nur: Sie mussten weg von hier. Über ihnen, auf der Pont Neuf, tummelten
sich Touristen in der Nachmittagssonne und machten Selfies. Neben ihnen,
etwa in 50 Meter Entfernung, schauten ihnen vier Polizisten entspannt beim
Packen zu. Einer aß genüsslich ein paar M&Ms. Auf die Frage, wohin die
Jugendlichen jetzt gehen sollen, antwortete dieser mit zuckenden Schultern:
„Keine Ahnung.“
In dieser Nacht hatten die Jugendlichen kein Dach und auch keine Brücke
mehr über dem Kopf. Aus Protest bauten sie ihre Zelte vor dem Pariser
Rathaus, Hôtel de Ville, auf. Sie waren umgeben von Blaulicht und
Polizisten. Auch in den darauffolgenden Tagen wurde den Jugendlichen keine
Notunterkunft angeboten. Also verteilten sie sich wieder in der Stadt. Für
die Hilfsorganisationen wurde es von Mal zu Mal schwerer, mit allen Kontakt
zu halten.
Das Problem ist, dass für minderjährige Geflüchtete in Frankreich die
Départements zuständig sind, für Volljährige der Staat. Die betroffenen
Jugendlichen müssen sich ihre Minderjährigkeit erst in einem bürokratischen
Verfahren anerkennen lassen. Den meisten wird bei ihrer Ankunft in
Frankreich diese Anerkennung verweigert, wogegen sie aber Berufung einlegen
können. Bis eine finale Entscheidung getroffen ist, vergehen oft sechs
Monate oder mehr. In dieser Zeit schieben sich Staat und Département die
Verantwortung jeweils zu. Die Folge: niemand kümmert sich um die jungen
Geflüchteten.
Alice Bertrand, Verantwortliche für unbegleitete Minderjährige bei der
Hilfsorganisation Utopia 56, fasst es so zusammen: „Das Département kümmert
sich nicht, weil es die Jugendlichen als volljährig ansieht. Gleichzeitig
organisiert der Staat regelmäßig Unterbringungen für Obdachlose. Davon sind
die Jugendlichen aber ausgeschlossen, denn da wird gesagt: ‚Nein, sie sind
minderjährig und das ist die Verantwortung des Départements.‘“
Anders ist es im Park von Belleville, im Pariser Nordosten. Verschiedene
Hilfsorganisationen bieten den Jugendlichen hier jeden Mittwochmorgen
Unterstützung an. Sie bekommen rechtliche Beratung, Klamotten werden
verteilt, und es gibt medizinische Versorgung.
## Überlastete Helfer
Der Koordinator bei Médecins du Monde Paris und Gründer von Le Reverse de
la Médaille, Paul Alauzy, sorgt sich um etwas, das bei den jungen
Geflüchteten oft zu kurz kommt: „[3][Eines der größten Probleme ist die
psychische Gesundheit.] Die meisten überqueren das Mittelmeer, haben
wahrscheinlich gesehen, wie Menschen ertrunken sind. Dann kommen sie in
Paris an und finden sich auf der Straße wieder, das ist ein enormer
Schock.“
Die Notwendigkeit und der Wert dieser Unterstützung ist bei den
Jugendlichen spürbar. „Auf der Straße überleben wir nur dank der
Organisationen“, erzählt der 16-Jährige Barry aus Guinea ein wenig gerührt.
Eine Veränderung der Situation der jungen Geflüchteten ist nicht in Sicht.
Mittlerweile haben manche Hilfsorganisationen sogar ihre Hilfe eingestellt,
weil sie einerseits überlastet sind und andererseits die Behörden zum
Handeln bewegen möchten. Doch anstatt Verantwortung zu übernehmen, ordnete
das Pariser Verwaltungsgericht am Mittwoch, den 5. Juni, die Räumung des
Maison des Métallos an.
Eine kulturelle Einrichtung, die seit zwei Monaten von etwa 175 jungen
Geflüchteten besetzt wird. „Die große Anzahl an Personen, die dort
untergebracht sind, stellt eine Gefahr für deren Gesundheit und die
Sicherheit des Gebäudes dar, insbesondere im Falle eines Brandes“,
argumentiert das Gericht. Die Räumung findet in zehn Tagen statt, einen
Lösungsvorschlag zur Unterbringung der Jugendlichen gibt es bisher nicht.
11 Jun 2024
## LINKS
[1] /Olympia-in-Paris-2024/!6013048
[2] /Praesidentschaftswahlen-in-Frankreich-2022/!5796021
[3] /Traumatherapie-fuer-Gefluechtete/!5993666
## AUTOREN
Jakob Müller
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