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# taz.de -- Olympia in Paris 2024: Scheiß auf die Spiele!
> Im Vorfeld des Sportspektakels werden in der Metropole Tausende aus
> prekären Unterkünften geräumt und mit Bussen in die Provinz gebracht.
Bild: Gesperrter Raum für Obdachlose unter dem pont Charles de Gaulle in Paris
Eigentlich soll ein französisches Sommermärchen wahr werden, wenn am 26.
Juli die Olympischen Spiele von Paris starten. Aber die Geschehnisse im
Vorfeld gleichen doch eher Schauergeschichten – wie sie sich in fast allen
Städten ereigneten, die in der Vergangenheit das Spektakel zu Gast hatten.
Das sollte auch eine Mahnung an die Bevölkerung Berlins und Hamburgs sein,
wo schon wieder über eine Olympiakandidatur fabuliert wird: Haut euren
Lokalpolitiker*innen auf die Finger, sollten sie nach den fünf
Ringen grabschen – auch wenn sie tönen, es besser als die bisherigen
Gastgeber*innen machen zu wollen.
Denn eben das behauptete man in Paris auch, aber dann gab es im letzten
Jahr Razzien beim Organisationskomitee wegen Verdachts auf
Vetternwirtschaft. Es stellte sich heraus, [1][dass auf den Baustellen
viele Papierlose unter miesen Bedingungen arbeiteten]. Die Furcht vor
Gentrifizierung greift selbst in den Banlieues um sich. Im März unkte der
Präsident des Rechnungshofes, dass Olympia die öffentliche Hand stärker als
bisher angenommen belasten werde. Besonders kostspielig: [2][die
Sicherheitsmaßnahmen], die im vom Terror mehrfach geplagten Paris nach dem
islamistischen Attentat auf eine Moskauer Konzerthalle im März nochmal
angezogen wurden.
Als wäre das nicht genug, trat ein Zusammenschluss aus über 80
Organisationen, die sich um Menschen in Notlagen kümmern, auf den Plan, das
[3][„La Revers de la médaille“] heißt. Wobei die deutsche Übersetzung des
Namens noch viel treffender den Inhalt des Berichts beschreibt, den das
Bündnis der Öffentlichkeit am Montag vorstellte: die sprichwörtliche
Kehrseite der Medaille.
La Revers de la médaille beklagt, dass die Behörden anlässlich der
Sommerspiele in den vergangenen 13 Monaten rund 12.500 Menschen aus
prekären Behausungen rausgefegt haben – darunter viele mit unsicherem
Aufenthaltsstatus, nicht wenige minderjährig. Unter anderem die Räumung
zehn besetzter Häuser zwischen April 2023 und Mai 2024 und die von acht
Hütten- und Zeltsiedlungen seit Anfang Februar stünden in direktem
Zusammenhang mit Olympia, so das Bündnis.
## „Soziale Säuberung“
Die Zwangsgeräumten wurden mit Bussen in provisorische Aufnahmezentren
gekarrt, die in der Provinz kurzfristig eingerichtet worden sind. La Revers
de la médaille ist sich sicher, dass die Fahrt dorthin nicht immer
freiwillig angetreten wurde, oder dass die Betroffenen mit falschen
Versprechungen aus Paris weggelockt wurden. Bündnissprecher Paul Alauzy
spricht von „sozialer Säuberung“, die auch verstärkte Repressionen gegen
Sexarbeiter*innen und Drogenabhängige umfasse. Um der Welt ein
makelloses Bild von Paris zu präsentieren, werde das Elend unter den
Teppich gekehrt.
Auch darin unterscheidet sich Paris nicht von früheren Austragungsorten.
Schon 2011 stellte die [4][UN-Organisation Habitat] fest, dass
Sommerspielen, aber auch einer Fußball-WM oder anderen Großereignissen
immer wieder die Räumung informeller Siedlungen, die Vertreibung von
Obdachlosen und Straßenhändlern vorangeht. Bisweilen werden Olympiastadien
und Athletenunterkünfte so geplant, dass ganze Wohnviertel weichen müssen.
In dieser Disziplin hält Peking den Weltrekord. Im Zuge der Spiele von 2008
wurden insgesamt 1,5 Millionen Menschen zwangsumgesiedelt. Aber nicht nur
in Diktaturen beseelt der olympische Geist die Abrissbirne. Der Doppelwumms
aus WM 2014 und Olympia 2016 erwischte die Häuser von [5][77.000
Favela-Bewohner*innen in Rio], und selbst die Planung der Spiele 2012 in
London verlangte, [6][dass 1.000 Menschen ihr bisheriges Zuhause –
Sozialwohnung wie Studentenzimmer – aufgaben]. Geräumt wurde zudem auch
eine Roma-Siedlung, offenbar ein besonders leicht hingenommener
Kollateralschaden. Gleiches geschah zuvor auch in Athen und in Barcelona,
das als die Musterschülerin in Sachen festivalisierter Stadtentwicklung
gilt.
Die ist inzwischen nicht mehr taufrisch, Rathäuser setzen aber weiterhin
darauf, mithilfe von Sport- oder Kulturevents die eigene Kommune im
globalen Städtewettbewerb um Kapital, qualifizierte Fachkräfte und
Tourist*innen konkurrenzfähig zu halten. Die Sommerspiele waren bisher
die Toptrophäe, weil ihre mediale Reichweite maximal ist. Zudem garantiert
ihre Ausrichtung einen Riesenbatzen Geld aus den Staatskassen, mit dem dann
plötzlich Infrastrukturen in Nullkommanichts aus dem Boden gestampft
werden. Was auch gleich die ganze Nation stolz machen soll.
## Exklusive Fahrstreifen
Doch tritt eine Stadtregierung in dem Moment, wo sie ihre Bewerbung über
die Ziellinie bringt, die Hoheit über Teile ihres Verwaltungsgebiets an ein
Konglomerat aus Sicherheitsapparaten und dem IOC ab, das die Planung der
Spiele da längst in ein Korsett aus standardisierten Vorgaben gezwängt hat.
Diese speisen sich aus Crowd-Management-Regeln, polizeilichen Erwägungen,
Ansprüchen der Sponsoren, aber auch einfach aus den Vorlieben der
IOC-Funktionäre – etwa für exklusive Fahrstreifen, auf denen die eigene
Wagenkolonne am Pöbel vorbei zum Hotel rast.
Umso mehr erstaunt, dass linke Bürgermeister sich auf den ganzen Zirkus
einlassen. Nach London wurden die Spiele vom einstigen Thatcher-Schreck Ken
Livingstone geholt. Und die Sozialistin Anne Hidalgo saß auch schon vor
neun Jahren im Hôtel de Ville, als die Pariser Olympiakandidatur glückte.
Damals musste sich Paris gar nicht in einer Kampfabstimmung um das Votum
der IOC-Delegierten bemühen. Die Rivalinnen Rom, Budapest und [7][Hamburg]
hatten ihre Kandidatur vorzeitig zurückgezogen. An der Elbe gab es sogar
ein Referendum, bei dem die Mehrheit die Fortsetzung des Olympiaabenteuers
untersagte. Blieb nur noch Los Angeles, das gleich die Spiele 2028
übergeholfen bekam, denn das IOC fürchtete in der nächsten Runde ganz ohne
Bewerberinnen oder nur mit den Kapitalen autokratischer Regime dazustehen.
In Paris soll nun nichts Geringeres als eine Olympiarenaissance
stattfinden. Damit genügend Platz für die zu erwartenden auswärtigen
Übernachtungsgäste herrscht, „überredet“ die Zentralregierung, die für …
Notunterkünfte in Paris zuständig ist, in Hotelzimmern lebende Wohnungslose
ebenfalls dazu, den Bus in die Provinz zu nehmen.
## Baden gehen
Darüber kann Hidalgo nur sauer sein, denn noch vor einem Jahr behauptete
sie, dass niemand wegen Olympia die Stadt verlassen müsse. Und schon lange
fordert sie von Macron zusätzliche Notunterkünfte in Paris, angesichts der
sich seit Jahren verschärfenden Wohnungsnot, die zu immer mehr
Obdachlosigkeit geführt hat.
Mit der Bewerbung für Olympia hat sie sich aber einer Regierung
ausgeliefert, die statt Obdachlosigkeit Obdachlose bekämpft und immer
migrationsfeindlicher agiert. Am Ende ist es konsequent, dass sie mit
Macron baden geht: am 23. Juni in der Seine. Beide wollen demonstrieren,
dass nichts gegen olympische Schwimmwettbewerbe in dem Fluss spricht. In
den sozialen Medien herrscht aber Verärgerung darüber, dass erst die Spiele
kommen mussten, damit die Seine gereinigt wird. Deshalb kursiert im Netz
[8][unter dem Hashtag #JeChieDansLaSeine] die Aufforderung, am 23. Juni in
den Fluss zu kacken.
8 Jun 2024
## LINKS
[1] /Arbeiter-auf-Olympia-Baustellen-in-Paris/!5997726
[2] /Sicherheitsexzess-bei-Olympia-in-Paris/!5973660
[3] https://lereversdelamedaille.fr/
[4] /Zur-UN-Megastadtkonferenz/!5341329
[5] https://rioonwatch.org/?p=25747
[6] https://www.theguardian.com/uk/2008/jun/02/olympics2012
[7] /Olympia-Referendum/!5256070
[8] https://www.tiktok.com/tag/jechiedanslaseine?lang=de-DE
## AUTOREN
Oliver Pohlisch
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