| # taz.de -- Atomschrott im Nordmeer: Russlands vergessenes Erbe | |
| > Nukleare Sprengköpfe und Atom-U-Boote aus dem Kalten Krieg lagern im | |
| > Nordmeer. Seit dem Angriff auf die Ukraine kümmert sich niemand mehr | |
| > darum. | |
| Bild: Nur die Spitze des Eisbergs: Bereits geborgener Schiffsschrott aus der Ba… | |
| Mönchengladbach taz | Etwa 17.000 radioaktiv strahlende Objekte lagern im | |
| hohen Norden in der Barentssee und der Karasee, zwei nördlich von Russland | |
| gelegenen Randmeeren des Arktischen Ozeans. Der nukleare Schrott umfasst | |
| die ganze Bandbreite der für die Marine einer Weltmacht erforderlichen | |
| Ausrüstung: atomare Sprengköpfe, Behälter mit radioaktivem Müll, | |
| abgebrannte und nicht abgebrannte Brennstäbe, Atomreaktoren von | |
| abgewrackten oder versenkten U-Booten [1][und auch komplette Atom-U-Boote]. | |
| Das meiste davon lagert auf dem Meeresgrund unweit der Insel Nowaja Semlja, | |
| die zwischen 1955 und 1990 Schauplatz von 130 Atomversuchen war. Lange Zeit | |
| hatte es Hoffnung gegeben, dass das gefährlich vor sich hin rostende | |
| Material eines Tages gehoben und in einer weniger riskanten Form gelagert | |
| werden kann. Aber die russische Intervention in der Ukraine vom 24. Februar | |
| 2022 hat diese weitgehend zunichtegemacht. Zu diesem Schluss kommt [2][die | |
| norwegische Umweltorganisation Bellona in einem jüngst veröffentlichten | |
| Bericht.] | |
| Vorgestellt hat die Untersuchung [3][Alexander Nikitin], der das Meer und | |
| das Problem sehr gut kennt. Ein symbolträchtiger Auftritt, denn von 1974 | |
| bis 1985 diente Nikitin als Bordingenieur auf Atom-U-Booten der | |
| Nordmeerflotte und leitete dann bis 1992 als Kapitän 1. Ranges die Gruppe | |
| für Inspektion der Nuklearsicherheit des Verteidigungsministeriums zunächst | |
| der UdSSR, später die der Russischen Föderation. | |
| Lange Jahre war Nikitin auch Chef von Bellona-Russland. In dieser Postition | |
| wurde er im Februar 1996 von der russischen Staatsanwaltschaft des | |
| Landesverrates beschuldigt und saß zehn Monate in Untersuchungshaft. Das | |
| angebliche Verbrechen: Als Whistleblower hatte er in einem Bericht für | |
| Bellona die mangelnde Sicherheit bei der russischen Nordmeerflotte | |
| öffentlich gemacht. | |
| Das atomare Wettrüsten des Kalten Krieges, so Bellona, umfasste auch die | |
| Marine. Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten bauten zwischen 1947 | |
| und 1989 mehr als 400 Atom-U-Boote. Diese sollten den beiden Supermächten | |
| die Möglichkeit geben, Atomraketen von einem Meer aus abzufeuern, wenn ihre | |
| landgestützten Silos durch einen feindlichen Erstschlag zerstört worden | |
| waren. Zentrum der sowjetischen Nordflotte waren die Fjorde und Küsten um | |
| Murmansk, die auch zur Deponie für radioaktive Abfälle und abgebrannte | |
| Kernbrennstoffe wurden. | |
| ## Internationale Hilfe | |
| Das ganze Ausmaß der Hinterlassenschaften wurde mit dem Ende der | |
| Sowjetunion deutlich. Hauptsächlich von Bellona recherchierte Berichte über | |
| radioaktiv verseuchtes Wasser in der Barentssee, versenkte Atom-U-Boote, | |
| Torpedos mit atomaren Sprengköpfen und tausende Container voll radioaktiven | |
| Mülls schreckten nicht nur die Erben des sowjetischen Nachlasses, sondern | |
| auch die Anrainer- und andere Staaten auf. | |
| Insbesondere Norwegen, aber auch Deutschland und andere EU-Staaten | |
| [4][unterstützten Russland in seinen Bemühungen, die schlummernden Gefahren | |
| in den Griff zu bekommen]. Vor allem dank dieser internationalen | |
| Unterstützung gelang es, die Hälfte der im Marine-Stützpunkt | |
| Andrejewa-Bucht bei Murmansk gelagerten Brennelemente bis 2021 in ein | |
| sichereres Lager zu bringen. | |
| Doch seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist der weitere Prozess | |
| weitgehend zum Erliegen gekommen. Die westlichen Partner [5][haben sich | |
| sanktionsbedingt zurückgezogen]. Und auch in Russland wird der Beseitigung | |
| der nuklearen Altlasten des Kalten Krieges in Barentssee und Karasee keine | |
| hohe Priorität mehr eingeräumt. | |
| ## Putins Desinteresse | |
| Im Februar 2023 [6][verschob Putin mit einem Erlass die Sanierung der | |
| Gebiete, in denen sich Anlagen mit abgebrannten Brennelementen und | |
| radioaktiven Abfällen befinden], auf die Zeit nach 2035. Zwei Monate danach | |
| wurde mit Bellona die Organisation, die sich seit über zwei Jahrzehnten für | |
| eine Bergung der radioaktiven Altlasten in Barentssee und Karasee einsetzt, | |
| zur „unerwünschten Organisation“ erklärt. Damit ist ihr dort jegliche | |
| Tätigkeit untersagt. | |
| Die größten Sorgen bereiten dem inzwischen in Norwegen lebenden Nikitin | |
| aktuell die auf Grund liegenden Atom-U-Boote KA-27, „Komsomolez“ und K-159. | |
| Das KA-27 war im Herbst 1982 in der Karasee versenkt worden, wo es heute in | |
| rund 75 Metern Wassertiefe liegt. Sieben Jahre später, am 7. April 1989, | |
| war die „Komsomolez“ gesunken, alle 42 Besatzungsmitglieder kamen ums | |
| Leben. Womöglich werde das in 1.000 Meter Tiefe liegende U-Boot niemals | |
| geborgen werden, mutmaßt Nikitin. Dabei sei das Wrack eine ständige Gefahr | |
| für die Umwelt, in ihm befinden sich mehrere Atomtorpedos mit Sprengköpfen | |
| und ein Atomreaktor. | |
| Auch wenn in regelmäßigen Abständen versucht werde, Strahlungswerte zu | |
| messen, denke doch derzeit niemand an eine Bergung, sagt Nikitin. Das K-159 | |
| war ein Atom-U-Boot der sowjetischen und später der russischen Marine. 2003 | |
| sank es, bereits außer Dienst gestellt, mit neun Besatzungsmitgliedern. Das | |
| Wrack liegt in der Nähe der Insel Kildin in der Barentssee, etwa 20 | |
| Kilometer östlich der Kola-Bucht. | |
| ## Verseuchte Infrastruktur | |
| Nicht nur am Meeresgrund lauern die radioaktiven Altlasten der sowjetischen | |
| und russischen Flotte. Auch die Infrastruktur, die für die Versorgung der | |
| Flotte gebaut wurde, ist verseucht. Deshalb ist wohl an keinem Ort im | |
| Norden Russlands die [7][radioaktive Bedrohung so groß wie am | |
| Marine-Stützpunkt in der Andrejewa-Bucht in der Region Murmansk]. Etwa die | |
| Hälfte der dort befindlichen Lager und anderer Strukturen ist nach wie vor | |
| verstrahlt: das Gebäude Nr. 5 beispielsweise oder die Trockenlager Nr. 2-A, | |
| 2-I und 3-A, in die die abgebrannten Brennelemente aus Gebäude Nr. 5 nach | |
| einem Leck 1982 verbracht wurden. Hier lagern etwa 15.300 Tonnen schwach- | |
| bis mittelradioaktiven Abfalls. | |
| Wie kann es nun weitergehen? Noch vor einem Jahrzehnt waren die Aussichten, | |
| die ökologischen Folgen der vor sich hin verrottenden Altlasten in den | |
| Griff zu bekommen, nicht schlecht. Doch der seit dem 24. Februar 2022 | |
| andauernde Krieg hat diese Perspektiven begraben. Von den westlichen | |
| Partnern ist aktuell nichts zu erwarten. Umgekehrt will auch Russland nicht | |
| mehr mit dem Westen zusammenarbeiten. Und wer in Russland [8][mit Moskau in | |
| einen Dialog zu diesem Thema treten will, muss mit beruflichen Nachteilen] | |
| rechnen. Wer mit der dort verbotenen Umweltorganisation Bellona | |
| zusammenarbeitet, steht erst recht mit einem Bein im Gefängnis. | |
| Dass es grenzübergreifende und globale Probleme gibt und man die Welt nur | |
| gemeinsam erhalten kann, ist in Zeiten wie diesen in Russland eine | |
| Minderheitenposition. Eine Bergung und sichere Lagerung der strahlenden | |
| Altlasten des Wettrüstens im Nordmeer ist damit in weite Ferne gerückt. | |
| 27 May 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Drama-um-russisches-U-Boot-Kursk/!5606420 | |
| [2] https://network.bellona.org/content/uploads/sites/3/2024/05/Nuclear-legacy-… | |
| [3] /Wissenschaftler-feiern-Jubilaeum/!5153810 | |
| [4] https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Energie/bericht-sichere-ents… | |
| [5] /Einigung-auf-EU-Plan-fuer-die-Ukraine/!6009470 | |
| [6] /Atomunfall-in-Russland/!5948298 | |
| [7] /Russisches-Strahlenschiff-verschrottet/!5780623 | |
| [8] https://thebarentsobserver.com/en/arctic/2024/05/university-terminates-cont… | |
| ## AUTOREN | |
| Bernhard Clasen | |
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