# taz.de -- Das Ende des liberalen Paradigmas: Die möglichst laute Feinderklä… | |
> Die Ereignisse beim ESC zeigen, dass wir in einem rechten Zeitalter | |
> leben: Das Politische wird wieder durch Freund-Feind-Unterscheidung | |
> hergestellt. | |
Bild: Malmö, Schweden, 11. Mai: Protest gegen die Teilnehmerin Eden Golan vor … | |
Es war Olaf Scholz, der das Wort von der Zeitenwende in Umlauf gebracht | |
hat. So treffend der Ausdruck auch ist – was bedeutet er tatsächlich: Was | |
wendet sich wohin? Und wie weit geht das? | |
Die Bilder [1][des jüngsten Eurovision Song Contest (ESC)] mit all seinen | |
Begleiterscheinungen liefern möglicherweise einen ersten Hinweis. | |
Man mag zum ESC stehen, wie man mag. Man kann die Musik grauenhaft finden – | |
eine einzige Kitschorgie gepaart mit billigen Effekten, die einer | |
kollektiven Überemotionalisierung Vorschub leisten. Aber etwas können ihm | |
selbst die schärfsten Kritiker nicht absprechen: Er hat sich im Laufe der | |
Jahrzehnte zu einer massentauglichen Form für manch „progressiven“ Inhalt | |
entwickelt. Man könnte auch sagen: Die Kulturindustrie hat mit den | |
gesellschaftlichen Veränderungen Schritt gehalten. Oder: Sie trippelt ihnen | |
nach. | |
So ist das Nationale schon seit den Anfängen des ESC entschärft worden. In | |
diesem Wettbewerb sind Nationen so etwas wie Mannschaften, Spielgruppen. | |
Auch die neue Vielfalt, die Pluralisierung fand sich hier wieder. Und in | |
letzter Zeit hat sogar das, was in der Kunst eine lange Geschichte hat – | |
die Auflösung von festen, vorgegebenen Identitäten –, hier Eingang | |
gefunden. Spätestens seit dem Sieg von Conchita Wurst. | |
## Es ist Krieg | |
Aber all das ist nunmehr gewissermaßen alte Zeit. Vor der Zeitenwende. Denn | |
auch diese hat den ESC ereilt. | |
Das, [2][was der israelischen Sängerin widerfahren ist], unter | |
Antisemitismus zu rubrizieren, hat seine Berechtigung. Aber es verdeckt | |
zugleich auch eine andere Dimension von dem, was sich gerade vollzieht. | |
Es ist Krieg. Die Bilder aus dem Nahen Osten sind erschütternd. Die | |
Situation in Gaza ist furchtbar. [3][Die Szenen beim ESC hingegen – wie | |
etwa die Menge, die das Hotel der Sängerin belagert – sind absurd]. Klar | |
bekommen Demonstrationen im Windschatten des ESC größtmögliche | |
Aufmerksamkeit. Aber jenseits von rationalem politischem Kalkül ist hier | |
auch etwas anderes, Irrationales geschehen. Etwas, das seine Wirkung hier | |
entfaltet – und nicht etwa dort, im tatsächlichen Kriegsgeschehen. | |
Es ist ebenso furchtbar wie bezeichnend, dass der Stichwortgeber für die | |
derzeitige Situation ausgerechnet ein Nazijurist ist. Für den berüchtigten | |
Carl Schmitt ist das Politische kein eigenes Sachgebiet. Vielmehr könne | |
jeder Bereich politisch werden, indem er sich mit einer | |
Freund/Feind-Unterscheidung auflädt. Entscheidend ist dabei die Intensität | |
der Feinderklärung. | |
## Die politische Aufladung | |
Der ESC hat sich genau in dieser Weise politisiert: Die Nationen haben sich | |
wieder zu antagonistischen Einheiten aufgeladen, die sich unversöhnlich | |
gegenüberstehen. Was ganz im Widerspruch zum behaupteten Freiraum des | |
absoluten Individualismus steht, der alles Queere einbegreifen möchte. | |
Solche politische Aufladung trifft mittlerweile auf alle künstlerischen | |
Foren zu: von der Hochkultur bis zum Massenphänomen. Die Documenta in | |
Kassel oder die Biennale in Venedig entgehen dem ebenso wenig wie der | |
populär-kulturelle ESC. Selbst Konzerte oder Partys sind davor nicht | |
gefeit. | |
Besonders Foren, die sich dem Gemeinsamen, dem Verbindenden, der | |
gemeinsamen Feier der Differenz als Freiräume verschrieben haben – kurzum | |
besonders die Arenen der liberalen Ideologie eines ungehemmt Individuellen | |
sind davon betroffen. Gerade solche Räume, Sphären sind heute anfällig für | |
Feindschaftsaufladungen. | |
Die Offenheit, die sie propagieren, hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Die | |
Verbundenheit wird zum Clash. Das Gemeinsame zum Ausschluss. Das Umfassende | |
zur Ausgrenzung. Das, was Kunst einstmals für die Gesellschaft leisten | |
sollte – die Befreiung von fixen, vorgegebenen Identitäten – ist ihrem | |
Gegenteil gewichen: einer „Verhärtung“ der Identitäten, wie Jens Balzer | |
schreibt, einer Frontstellung. Kunstforen mutieren allerorts zu | |
Bekenntnissekten. Was sich dabei breitmacht ist Hass. | |
Diese Zeit entpuppt sich immer mehr, ein rechtes Zeitalter zu sein. (Und | |
das ist nicht alleine das Werk der Populisten!) Und genau hier zeigt sich, | |
was Zeitenwende bedeutet: Das liberale Paradigma hat sich erschöpft. | |
Die Autorin ist Publizistin in Wien. | |
27 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
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