| # taz.de -- Antagonistische Konflikte: Eine Kartografie des Hasses | |
| > Streiten hält demokratische Gesellschaften zusammen. Allerdings nur, wenn | |
| > dieses agonal geschieht und Gegner sich mit Anerkennung begegnen. | |
| Bild: Eine Kundgebung gegen sich häufende Gewalt und Angriffe auf Politiker in… | |
| Was hält eine demokratische Gesellschaft zusammen? Seit den 1970er Jahren | |
| lautet die Antwort: Der produktive Streit sei das zentrale demokratische | |
| Medium. Man streitet sich sozusagen zusammen. Man glaubt an die Demokratie | |
| als eine Ordnung des [1][Streitens]: eine Ordnung zur Hegung und Austragung | |
| von Konflikten. | |
| In demokratischen Gesellschaften wird der Konflikt also nicht | |
| stillgestellt. Denn es ist gerade der Konflikt, der uns verbindet. Nicht | |
| soziale Harmonie, sondern die Form unseres Streitens soll uns | |
| zusammenhalten. Dissens ist gewissermaßen der demokratische Kitt. Fruchtbar | |
| sind Konflikte aber nur dann, wenn sie begrenzt werden. Wenn sie – wie | |
| Chantal Mouffe immer wieder betont – agonal und nicht antagonistisch | |
| ausgetragen werden. | |
| Agonal bedeutet: Gegner treffen aufeinander, wobei beide Seiten aber eine | |
| grundlegende Ordnung und ein Prozedere akzeptieren. Damit bestätigen sich | |
| auch Gegner als Mitglieder derselben Gesellschaft. In antagonistischen | |
| Konflikten hingegen gibt es keinerlei Anerkennung. Da stehen sich Feinde | |
| unversöhnlich gegenüber. | |
| Die gesellschaftliche Tendenz geht heute eindeutig in letztere Richtung. | |
| Vielfältige Frontverläufe | |
| Nicht nur sehen wir überall Antagonismen aufbrechen – die Frontverläufe | |
| sind zudem so vielfältig, dass man leicht den Überblick über die | |
| Feindschaften verliert. Es braucht schon eine Kartografie der Hasslinien. | |
| Da gibt es den Antagonismus „Rechte gegen Moslems“. Hier kann man noch mal | |
| unterscheiden zwischen [2][Upperclass-Rechten] – wie jene Schnöselpartien, | |
| die von Sylt bis Kärnten grölend, aber mit sicherem Klasseninstinkt das | |
| vollziehen, was man Klassenkampf von oben nennt: [3][„Deutschland, den | |
| Deutschen. Ausländer raus“ tönt es durch die Nobelbars]. Der Unterschied zu | |
| den Straßen-Nazis liegt nicht in der Gesinnung, sondern in der Ausführung. | |
| Letztere singen nicht nur. | |
| Wie ein Echo dazu gibt es den Antagonismus „Islamisten gegen Rechte“ – der | |
| zuletzt in Mannheim auf schreckliche Weise aufgebrochen ist. Zur | |
| Erinnerung: [4][Ein afghanischer Flüchtling, mutmaßlicher Islamist, hat | |
| dort einen politischen Aktivisten mit einem Messer attackiert], wobei der | |
| Polizist Rouven L. tragischerweise ums Leben kam. Noch komplexer ist die | |
| Situation, da der Attackierte bekanntlich vom Verfassungsschutz als | |
| islamfeindlich eingestuft ist. | |
| Die islamistische Demonstration in Hamburg zur Einführung eines Kalifats | |
| nimmt sich da wie eine Ausweitung der Feinderklärung aus: Hier galt diese | |
| der gesamten Gesellschaft. | |
| Sich spiegelnde Antagonismen | |
| Wirklich unübersichtlich aber wird es jenseits dieser sich spiegelnden | |
| Antagonismen. Denn da gibt es dann noch den [5][Antisemitismus], den | |
| wiederum beide Kontrahenten teilen. | |
| Wenn etwa Nazis sich ihres guten alten Judenhasses besinnen (dieser geriet | |
| ja über die Freude an der rechten israelischen Regierung etwas in | |
| Vergessenheit) – wie in Sachsen-Anhalt, wo sie Ausgaben des „Tagebuchs der | |
| Anne Frank“ in alter Tradition verbrannt haben. | |
| Solch einheimischer Antisemitismus wird durch den muslimischen | |
| gewissermaßen ergänzt. Auch das eine Entladung von Feindschaft, die infolge | |
| des Nahostkriegs noch einen [6][zusätzlichen Schauplatz an den | |
| Universitäten] eröffnet hat: Hier stehen sich propalästinensische und | |
| proisraelische Gruppen unversöhnlich gegenüber. | |
| Aber auch damit sind wir noch nicht am Ende der Auflistung angekommen. | |
| Angriffe auf Politiker | |
| Denn ein weiterer Bereich kippt vom Agonismus in Antagonismus – und zwar | |
| der ureigenste Bereich gehegter Konfliktaustragung: die Politik. | |
| Seit Wochen häufen sich in Deutschland tätliche Angriffe auf Politiker. | |
| Galten die Attacken zunächst Grünen und SPD-Vertretern, so hat sich auch | |
| dieser Antagonismus ausgeweitet: Kürzlich wurde, wieder in Mannheim, ein | |
| AfDler attackiert. | |
| Diese Überschreitung der genuinen Form demokratischer Auseinandersetzung | |
| ist gerade im Bereich des Politischen besonders heikel. Ist doch der | |
| politische Wettbewerb das Medium, um Konflikte ins Verhandelbare zu | |
| übersetzen – sie also der Feindschaft zu entziehen. | |
| Wenn Demokratie die institutionalisierte Form des Streitens ist, dann steht | |
| es um diese gerade nicht sehr gut. | |
| 1 Jul 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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