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# taz.de -- 75 Jahre Grundgesetz: Verfassungsschutz von unten
> Das Grundgesetz feiert Geburtstag. Unser Autor ist Fan und fordert
> zugleich, es vor sprachlicher wie juristischer Verdrehung zu schützen.
Bild: Mal wieder lesen im Grundgesetz ist angesagt
Die Würde des Menschen in unantastbar. Das deutsche Volk bekennt sich zu
unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder
menschlichen Gemeinschaft. Männer und Frauen sind gleichberechtigt.
Eigentum verpflichtet.
Diese Evergreens aus dem Grundgesetz klingen wie eine Hymne auf Freiheit,
Respekt, Solidarität. Und es ist unverzeihlich, dass es deutlich mehr
Menschen gibt, die das Vater Unser runterbeten können als die Artikel des
Grundgesetzes.
Höchste Zeit also, [1][dieses unübertroffene Meisterwerk konkreter Poesie]
– im Wortsinne – zu seinem 75. Geburtstag am 23. Mai mal wieder zu lesen.
Aber bitte nicht in so einem kaum durchblätterten Büchlein, das sich aus
irgendeinem längst vergessenen Grund in die hinterste Ecke des
Wohnzimmerregals geschummelt hat. Sondern am Spreeufer gleich hinterm
Reichstagsgebäude in Berlin.
Dort hat ihm der Künstler Dani Karavan ein Denkmal gesetzt. Auf 19
Glasplatten prangen die im Grundgesetz festgeschriebenen Grundrechte.
Karavan wählte dafür ihre Urfassung aus dem Jahr 1949. Hier „wird durch die
klare, von allen Zusätzen und Ergänzungen freie Formulierung aus dem Jahre
1949 das Wesentliche des Grundgesetzes im wortwörtlichen Sinne transparent
und auf eine neue, eindringliche Weise sichtbar gemacht“, heißt es [2][auf
einem Flyer des Bundestags]. Man kann das nicht nur, man muss es als
Anklage lesen.
Denn [3][die zahlreichen Veränderungen und Ergänzungen], die der
bundesrepublikanischen Verfassung seit 1949 hinzugefügt wurden, haben ihr
schon sprachlich nicht gutgetan. Sätze wie „Maßnahmen nach den Artikeln
12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht
gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt
werden“ mögen Jurist:innen beglücken. Allen anderen aber wird per
Satzbau gesagt: Geht weiter, das ist nichts für euch.
Schlimm genug. Doch mit der sprachlichen Verhunzung ging im Laufe der
Jahrzehnte ein inhaltlicher Abbau einher. Das Briefgeheimnis wurde
ausgehöhlt, die Unverletzlichkeit der Wohnung verletzt. Und das Asylrecht,
der einst kriegstreibenden Nation als immerwährende Hausaufgabe ins Heft
diktiert, wurde 1993 nahezu ins Gegenteil pervertiert. Der schöne Satz
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ steht zwar immer noch drin. Aber
er ist umstellt von einer Armada von Einschränkungen, die höher sind als
jeder Zaun an den EU-Außengrenzen.
Ein Fortschreiben, ein zeitgemäßer Ausbau der Grundrechte, blieb die
Ausnahme. Die meisten Änderungen haben die Kernfunktion des Grundgesetzes
geschwächt: den Schutz der Bürger:innen, vor allem der Minderheiten vor dem
Staat.
Dabei klingen zentrale Artikel wie „Alle Deutschen haben das Recht, sich
ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“, mit
der angemessenen Verve vorgetragen, nicht zufällig wie Parolen zum
Barrikadensturm. Sie sind genau so gemeint. Sie sind die Kernaussagen, auf
der so etwas wie Verfassungspatriotismus überhaupt gedeihen kann. Und der
ist angesichts des anschwellenden, verfassungsfeindlichen Rechtsextremismus
nötiger denn je.
Es bräuchte einen Verfassungsschutz von unten, der anders als die
staatliche Behörde die Gesellschaft nicht vor extremen Feinden schützt,
sondern das Grundgesetz vor sprachlicher wie juristischer Verdrehung von
oben. Damit das Grundgesetz verständlich bleibt. Und damit lebbar.
20 May 2024
## LINKS
[1] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html
[2] https://www.bundestag.de/resource/blob/192254/ed3c7396c406439d72b0f54a691d4…
[3] https://www.verfassungen.de/gg/grundgesetz-vergleiche-i.htm
## AUTOREN
Gereon Asmuth
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