# taz.de -- Das Grundgesetz als Inspiration: Eigentum, Mutter-Frust und Tierrec… | |
> Im literarischen Kommentar zum Grundgesetz von Georg M. Oswald | |
> interessieren sich die meisten Schriftsteller:innen gar nicht für die | |
> Verfassung. | |
Bild: Das Grundgesetz aus der Sicht von Schriftstteller*innen | |
Es ist ein spannendes Experiment. Der Schriftsteller, Verlagslektor und | |
Jurist Georg M. Oswald hat den ersten „literarischen Kommentar“ zum | |
[1][Grundgesetz] herausgebracht. Ein Lesebuch mit Überraschungen, das aber | |
erstaunlich wenig mit der Verfassung zu tun hat. | |
Derzeit gibt es mehr als zehn juristische Kommentare zum Grundgesetz. Das | |
sind dicke Bücher, oft mehrbändig, die das Grundgesetz erläutern. Solche | |
Kommentare stellen zu jeder Norm zusammen, was sich der Gesetzgeber gedacht | |
hat, was die Gerichte daraus gemacht haben und was die Rechtswissenschaft | |
dazu diskutiert. Für jeden Grundgesetzkommentar schließen sich Dutzende | |
Jurist:innen zusammen. | |
Nun also ein „literarischer Kommentar“. Auch Georg M. Oswald hat ein großes | |
Team zusammengestellt. 23 Schriftsteller:innen, 7 Journalist:innen und | |
sogar 7 hochrangige Jurist:innen, inklusive [2][Andreas Voßkuhle, | |
Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts]. Jede:r ist für einen | |
Grundgesetz-Artikel zuständig – und darf dazu schreiben, was ihm oder ihr | |
einfällt. Der Verzicht auf ein Konzept ist das Konzept; so erzeugt man | |
Abwechslung. | |
Wer sich wirklich für das Grundgesetz interessiert, muss die Beiträge der | |
Rechtsprofessor:innen und Richter:innen lesen. Sie bemühen sich | |
redlich, den Inhalt der Verfassung verständlich zu erklären. Dass | |
Grundrechte nicht absolut gelten, dass der Staat durchaus eingreifen darf, | |
aber nur via Gesetz und nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Auch [3][die | |
Schriftstellerin Terézia Mora] hat zu Artikel 6 (Ehe und Familie) eine | |
passable, fast schon konventionelle Erläuterung vorgelegt. | |
Die große Mehrheit der Beiträge setzt sich jedoch nicht mit dem Grundgesetz | |
auseinander. Was bleibt, ist eine Sammlung von Beiträgen, die sich mehr | |
oder weniger assoziativ von ihrem jeweiligen Grundgesetzabschnitt | |
inspirieren lassen. | |
So befasst sich [4][Eva Menasse] nicht mit dem Brief- und | |
Fernmeldegeheimnis, sondern mit der „Schönheit des Briefeschreibens“ – a… | |
Dissidenz zur heutigen hektischen Digitalkommunikation. [5][Anna Katharina | |
Hahn] schreibt sich ihren Mutter-Frust über den Zustand des Schulwesens von | |
der Seele. Und [6][Jochen Schmidt] überlegt mit Pennälerhumor, was er als | |
Bundeskanzler ändern würde („Autohupen sollten Furzgeräusche machen“). | |
Doch es gibt auch wichtige Beiträge in diesem Band. Essays, die zu ihrem | |
Thema mit ungewohnten Perspektiven oder großer Eindringlichkeit beitragen. | |
So schildert [7][Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller], wie sie im | |
kommunistischen Rumänien als Ausgegrenzte ihre Würde bewahren konnte. | |
[8][Feridun Zaimoglu] beschreibt, wie er sein „deutsches Leben“ von linken | |
und rechten Identitären bedroht sieht. Der Lektor und Übersetzer | |
[9][Wolfgang Matz] unterstreicht die Notwendigkeit von legalen | |
Arbeitskämpfen und verweist literarisch auf Hauptmanns „Weber“ und Brechts | |
„Heilige Johanna der Schlachthöfe“. Literaturkritiker [10][Ijoma Mangold] | |
widerspricht der Anarchisten-These „Eigentum ist Diebstahl“ und sieht das | |
Eigentum schon im Ursprung als Ausweis von Tüchtigkeit. Auch ideologisch | |
ist also Vielfalt geboten. | |
Höhepunkt ist aber der Beitrag von [11][Hilal Sezgin], die die | |
menschenfixierte Verfassungsordnung kritisiert und „Grundrechte für Tiere“ | |
einfordert. Man muss daran keinen Halbsatz richtig finden, aber sie nimmt | |
die Verfassung als Ort von Grundsatzentscheidungen ernst und präsentiert | |
einen radikalen juristischen Gegenentwurf. Gerade von | |
Schriftsteller:innen hätte man mehr derartige Fulminanz erwartet. | |
19 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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