| # taz.de -- Linke-Spitzenkandidaten über Europawahl: „Die Partei lebt“ | |
| > Carola Rackete ist Berufsaktivistin, Martin Schirdewan Berufspolitiker. | |
| > Für Die Linke wollen sie bei der Europawahl ein gutes Ergebnis einfahren. | |
| Bild: Carola Rackete und Martin Schirdewan | |
| wochentaz: Frau Rackete, ist Ihre Kandidatur für das EU-Parlament eine Art | |
| Seenotrettungsmission für Die Linke? | |
| Carola Rackete: Meine Nominierung verstehe ich als ein Zeichen, in welche | |
| Richtung Die Linke gehen will, etwa in Sachen Klima- und Migrationspolitik. | |
| Aber auch der Weggang von Sahra Wagenknecht hat den Weg freigemacht, damit | |
| Leute, die sich nicht mehr mit der Linken identifizieren konnten, wieder | |
| zurückkommen. Dadurch besteht nun die Chance auf eine Erneuerung. | |
| Sie kandidieren als Parteilose. Warum sind Sie nicht Mitglied der | |
| Linkspartei geworden? | |
| Rackete: Ich sehe meine Parteilosigkeit als einen Vorteil, weil ich darüber | |
| besser mit Menschen ins Gespräch kommen kann, die sich zwar als Teil der | |
| gesellschaftlichen Linken sehen, [1][aber sich nicht unbedingt mit | |
| Parteipolitik identifizieren]. Oder noch zweifeln, ob sie jetzt Die Linke | |
| als Partei wählen sollen. | |
| Auf dem taz lab nannten Sie als Beweggrund, Nautik zu studieren, bloß | |
| keinen Bürojob machen zu wollen. Jetzt streben Sie genau diesen an. Warum? | |
| Rackete: Ich muss zugeben, dass meine Vorstellungen von der Seefahrt auf | |
| einem Irrtum basierten. Denn am Ende habe ich mich in einem Büro mit sehr | |
| vielen Fenstern wiedergefunden, das auf dem Wasser geschwommen ist. Und | |
| genau dort wurde ich politisiert: Ich habe auf einem Forschungsschiff | |
| gearbeitet und war schockiert, wie frustriert die Wissenschaftler dort | |
| waren. Denn nichts von dem, was politisch aufgrund ihrer Datenlage zur | |
| Klimakrise hätte umgesetzt werden müssen, wurde getan. | |
| Martin Schirdewan: Wer Politik als reinen Bürojob auslegt, macht ohnehin | |
| etwas grundlegend falsch. Man muss raus zu den Leuten, ihnen zuhören und | |
| mit ihnen diskutieren. Auch dorthin, wo es dann eventuell mal wehtut. | |
| Herr Schirdewan, in den Umfragen steht Die Linke zwischen 2 und 4 Prozent. | |
| Haben Sie sich nicht mehr erwartet von Carola Racketes Kandidatur? | |
| Schirdewan: Na ja, die Auseinandersetzungen in der Vergangenheit und die | |
| schwierige Situation, in der sich die Partei befindet, lassen sich ja nicht | |
| einfach mit einer Kandidatur von wem auch immer reparieren. Wir sind da auf | |
| einem längeren Weg. Wichtig finde ich das Signal, [2][dass Die Linke sich | |
| für die gesellschaftliche Linke öffnet]. | |
| Trotzdem befindet sich Ihre Partei weiter in einer schweren Krise. | |
| Schirdewan: [3][Die Partei lebt.] Sie ist dabei, sich auf sich selbst und | |
| ihre Rolle als konsequente Gerechtigkeitspartei zu besinnen. Es ist ja | |
| klar, dass wir nicht zufrieden mit den derzeitigen Umfrageergebnissen sind. | |
| Aber ich bin zuversichtlich, dass wir ein gutes Ergebnis bei diesen | |
| Europawahlen erzielen werden. Und zwar deshalb, weil wir jetzt wieder | |
| Klarheit haben, wofür Die Linke steht: für soziale Gerechtigkeit, für | |
| sozialen Klimaschutz, für Solidarität in der Gesellschaft, für | |
| Antifaschismus. Wir nehmen als Einzige im Bundestag kein Geld von Konzernen | |
| und legen uns mit den Reichen und ihren Lobbyisten an. | |
| Was wäre für Sie ein gutes Ergebnis? | |
| Schirdewan: Wir haben im Moment fünf Abgeordnete. Ich möchte gerne, dass | |
| wir weiterhin mindestens fünf Abgeordnete haben werden. | |
| Wie wird sich die Linkspartei verhalten, wenn das Bündnis Sahra Wagenknecht | |
| nach der Europawahl den Antrag zur Aufnahme in die Linksfraktion im | |
| EU-Parlament stellen sollte? Beispielsweise sind aus Portugal mit dem | |
| linkssozialistischen Bloco und der kommunistischen PCP ja auch zwei | |
| Parteien dabei, die sich gegenseitig hassen. | |
| Rackete: Einen solchen Antrag kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. | |
| Schirdewan: [4][Ich sehe keine Zukunft für das BSW in der Linksfraktion], | |
| weil es keine linke Partei ist und auch nicht sein will. Das ist der | |
| zentrale Unterschied zu den von Ihnen erwähnten portugiesischen Parteien. | |
| Das BSW [5][steht für ressentimentgetriebenen Populismus]. In | |
| entscheidenden politischen Fragen ist eine Zusammenarbeit nicht möglich, | |
| schon gar nicht in einer Fraktion. | |
| Seit ihrer Gründung gab es in der Linkspartei einen Grundkonflikt um ihr | |
| Verhältnis zur EU: Die einen verorteten sich proeuropäisch, die anderen | |
| antieuropäisch. Halten Sie diese Frage mit dem Abgang von Wagenknecht und | |
| ihrem Anhang nun für geklärt? | |
| Schirdewan: Ja, dieser Grundkonflikt ist in der Partei seit längerem | |
| geklärt. Spätestens nach dem Brexit ist der Euroskeptizismus von Parteien | |
| wie der AfD oder dem BSW, der bis hin zu Forderungen nach einem Dexit geht, | |
| nur noch hanebüchen. Wenn sich Deutschland aus der EU verabschieden würde, | |
| blieben die sozialen Kämpfe dieselben. Und Großbritannien lehrt, dass die | |
| Ungleichheit weiter und noch brutaler anwachsen würde. Das heißt aber | |
| absolut nicht, dass in der EU alles in Ordnung ist, insbesondere wenn es um | |
| soziale Rechte und die öffentliche Daseinsvorsorge geht. Oder wenn man sich | |
| den Asyl- und Migrationspakt ansieht, der Menschenrechte an den | |
| EU-Außengrenzen beerdigt und das individuelle Recht auf Asyl de facto | |
| abschafft. Wenn etwa die Wettbewerbsregeln dazu führen, dass sozialer | |
| Wohnungsbau verhindert und Ursula von der Leyen vorschreiben will, dass | |
| unser Gesundheitssystem weiter privatisiert wird und profitorientiert | |
| arbeiten soll, dann müssen die Regeln geändert werden. | |
| Frau Rackete, ist es für Sie nachvollziehbar, dass in der Linkspartei lange | |
| darum gestritten wurde, ob es nicht besser sei, die EU zu zerschlagen? | |
| Rackete: Das ist nie eine Frage für mich gewesen. Ich kann mir nicht einen | |
| einzigen Vorteil vorstellen, den es für uns haben könnte, wenn Deutschland | |
| die EU verlassen würde. Während der Zeit der Brexit-Abstimmung war ich oft | |
| in Großbritannien und habe dort auch gearbeitet. Ich habe die Propaganda | |
| und Lügen mitbekommen, mit denen für den Austritt geworben wurde. Das war | |
| schlimm. Und [6][heute geht es den meisten Leuten in Großbritannien | |
| schlechter als vor dem Brexit]. Wichtig finde ich jedoch, dass die EU | |
| deutlich demokratischer und transparenter wird. Mich stört zum Beispiel, | |
| dass das Europäische Parlament, was ja als einzige EU-Institution direkt | |
| gewählt ist, eine schwächere Position hat als der Europäische Rat der | |
| Staats- und Regierungschefs oder die Europäische Kommission [7][und kein | |
| Initiativrecht hat]. | |
| Wie erklären Sie sich, dass die Rechte gerade europaweit im Aufwind ist und | |
| dass es den linken Parteien offenbar nicht gelingt, die Menschen abzuholen? | |
| Rackete: Die Rechte hat es natürlich einfacher, indem sie populistisch | |
| Migranten die Schuld gibt, für alles, was in der Gesellschaft nicht | |
| funktioniert. Die Linke legt sich mit den Konzernen und ihrer Lobby an, | |
| statt nach unten zu treten. Die Menschen erleben aber seit Jahrzehnten, | |
| dass die Reichen immer reicher werden. Sie haben oft den Glauben verloren, | |
| dass es gelingen kann, eine Umverteilung von oben nach unten durchzusetzen. | |
| Schirdewan: Da müssen wir tatsächlich ran. Aber ich stehe auch nicht auf | |
| Selbstverzwergung. Wir haben schon einiges erreicht. Wir waren die Ersten, | |
| die im Europäischen Parlament eine Gaspreisbremse gefordert haben, das | |
| Gleiche gilt für die Übergewinnsteuer. Erst auf unseren Druck hin wurden | |
| diese Dinge dann auch vom Parlament beschlossen. Darauf können wir | |
| aufbauen. | |
| Ein weiteres Thema, mit dem sich die Linkspartei schwertut, ist der Umgang | |
| mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Lehnen Sie weiterhin jegliche | |
| militärische Unterstützung des überfallenen Landes ab, Herr Schirdewan? | |
| Schirdewan: Wir sind eine Antikriegspartei. Daher drängen wir immer auf | |
| friedliche Konfliktlösung und wollen zivile Alternativen zum militärischen | |
| Tunnelblick stärken. Selbstverständlich verurteilen wir den | |
| völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, ist doch | |
| logisch. Aber wenn Sie mir sagen, dass die einzige Möglichkeit ist, immer | |
| weiter Waffen zu liefern, dann halte ich das für falsch. Ich will, dass | |
| endlich politisch gehandelt wird, um diesen Krieg diplomatisch zu beenden. | |
| Es wissen doch alle, dass letztendlich nur Verhandlungen zum Frieden führen | |
| werden. | |
| Aber Sie wissen doch auch, dass ohne militärische Unterstützung die Ukraine | |
| bald höchstens noch über ihre Kapitulation wird verhandeln können. | |
| Schirdewan: Natürlich wird ein Krieg mit Waffen geführt. Aber das Dilemma | |
| besteht doch darin, dass der Krieg immer weiter fortgesetzt wird – wovon | |
| übrigens die Rüstungskonzerne massiv profitieren. Wir müssen viel mehr | |
| darüber reden, wie der Krieg beendet werden kann. Es ist ein schweres | |
| Versäumnis, dass es keine ernsthaften Friedensinitiativen mit Ländern wie | |
| China und Brasilien gibt, die Druck auf Putin ausüben können. Das ist auch | |
| unsere zentrale Kritik daran, wie die Bundesregierung oder die Europäische | |
| Kommission mit diesem Krieg umgehen. Meine Solidarität mit der Ukraine ist | |
| unbenommen. Deswegen unterstützen wir auch gezielte Sanktionen gegen | |
| Oligarchen und gegen den militärisch-industriellen Komplex. | |
| Frau Rackete, Sie befürworten eine militärische Unterstützung der Ukraine, | |
| oder? | |
| Rackete: Ich finde es richtig, der Ukraine Defensivwaffen zur Verteidigung | |
| zu liefern, beispielsweise Raketenabwehrsysteme. Die Ukraine ist ein | |
| souveräner Staat, sie hat das Recht, sich zu verteidigen. | |
| In der Linkspartei gibt es gerade unter den älteren Mitgliedern ein recht | |
| idealisierendes Verhältnis zu Russland. Können Sie das nachvollziehen? | |
| Rackete: Mögliche Wunschvorstellungen oder historische Bezüge zur | |
| Sowjetunion haben nichts mit der Realität des jetzigen Russland unter Putin | |
| zu tun. Russland hat sich politisch in eine vollkommen falsche Richtung | |
| entwickelt. Ich habe 2014 in einem russischen Nationalpark einen | |
| siebenmonatigen Freiwilligendienst gemacht, bis heute habe ich Freunde in | |
| Russland. Der Druck auf sie ist enorm groß, sobald man sich politisch | |
| äußert. Da kommt schnell mal der Geheimdienst vorbei. [8][Russland ist | |
| heute eine Diktatur], da darf man sich nichts vormachen. | |
| Beim Wahlkampfauftakt der Linkspartei in Berlin haben Sie gesagt, Ihre | |
| Freunde in Chile und Südafrika wüssten, dass man für eine Revolution etwas | |
| anzünden müsse. Auch Sie wollten „immer noch etwas anzünden“. Was denn? | |
| Rackete: Das Feuer des antifaschistischen Widerstands. Europaweit gibt es | |
| einfach einen massiven Rechtsruck. Das ist eine große Gefahr, der wir uns | |
| entgegenstellen müssen. Es ist enorm wichtig, die Leute davon zu | |
| überzeugen, sich zu engagieren. Dazu zählt übrigens auch, zur Wahl zu gehen | |
| und links zu wählen. | |
| 17 May 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Carola-Rackete-ueber-ihre-EU-Kandidatur/!5945305 | |
| [2] /Aktivistin-als-EU-Spitzenkandidatin/!5944965 | |
| [3] /Parteitag-der-neuen-Linkspartei/!5971030 | |
| [4] /Linkspartei-im-Bundestag/!5985621 | |
| [5] /Buendnis-Sahra-Wagenknecht/!5976147 | |
| [6] /Bilanz-einer-gescheiterten-Utopie/!6006990 | |
| [7] /EU-Abgeordneter-Nico-Semsrott/!6007467 | |
| [8] /Sahra-Wagenknecht-ueber-Russland/!5996031 | |
| ## AUTOREN | |
| Pascal Beucker | |
| Anna Lehmann | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Europawahl | |
| Carola Rackete | |
| EU | |
| Die Linke | |
| wochentaz | |
| Social-Auswahl | |
| Carola Rackete | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt Europawahl | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt Landtagswahl Sachsen 2024 | |
| BSW | |
| Die Linke | |
| Europäische Linke | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Abtritt von Carola Rackete: Ende eines Missverständnisses | |
| Die Aktivistin Carola Rackete zieht sich nach nur einem Jahr aus dem | |
| Europaparlament zurück. Das zeigt: Politikmachen will gelernt sein. | |
| Podcast Bundestalk: Rückt Europa nach rechts? | |
| Die deutschen Parteien absolvieren den Europawahlkampf ziemlich routiniert. | |
| Höhepunkte fehlen bislang. Dabei geht es dieses Mal um viel. | |
| TV-Debatte der EU-Spitzenkandidaten: Von der Leyen unter Druck | |
| Migration und Kooperationen mit Rechtsextremen: Bei einer TV-Debatte der | |
| Spitzenkandidaten muss sich die EU-Kommissionspräsidentin rechtfertigen. | |
| Appell vor EU-Wahl: Unternehmen zeigen Flagge gegen AfD | |
| Mehr als zwei Drittel der Industriefirmen sehen in der AfD eine Gefahr für | |
| den Wirtschaftsstandort. Vor allem um die EU machen sie sich Sorgen. | |
| Bündnis Sahra Wagenknecht: Ein Traum von gestern | |
| Im Eiltempo nickt das BSW in Sachsen sein Wahlprogramm und seine | |
| Kandidatenliste ab. Die neue Partei ist zackig organisiert – und | |
| ambitioniert. | |
| Politologe über Wagenknecht-Partei: „Junge spricht das BSW nicht an“ | |
| Ist das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) eine Partei der Midlife-Crisis? Es | |
| erreicht zumindest bisher vor allem Menschen ab 45, so Politologe Kai | |
| Arzheimer. | |
| Linkspartei für Arbeitszeitverkürzung: Vier-Tage-Woche als konkretes Ziel | |
| Die Linke will die schrittweise Reduzierung der Arbeitszeiten bei vollem | |
| Lohnausgleich – und schlägt einen Vier-Stufen-Plan vor. | |
| Linke Parteien in Europa: Vorwärts immer, rückwärts nimmer? | |
| Ob in Deutschland, Spanien oder Griechenland – die Linke steckt in der | |
| Krise. Die Europawahlen im Juni sind entscheidend für ihre Zukunft. |