# taz.de -- Autor*in Aiki Mira zu Science-Fiction: „Das wichtigste Genre unse… | |
> Sci-Fi ist ein Orakel für technologische Entwicklungen, aber es fixiert | |
> uns auch auf das Ende der Welt. Autor*in Aiki Mira möchte das ändern. | |
Bild: Gerade nicht im Schreibtunnel: Science-Fiction Autor*in Aiki Mira | |
wochentaz: Aiki Mira, als Sci-Fi-Autor*in entwerfen Sie professionell | |
Zukünfte. Bitte sagen Sie es uns: Wird am Ende alles gut? | |
Aiki Mira: Die Frage ist, für wen wird es gut? Es wird immer für bestimmte | |
Leute gut werden, für andere weniger. Die Zukunft ist schon da, bloß | |
ungleich verteilt – das Zitat stammt von dem US-amerikanischen | |
Science-Fiction-Autor William Gibson. Er bezog das auf Technologie und | |
Wohlstand, aber ich denke dabei auch daran, wer welche Rechte und | |
Freiheiten besitzt. Manche haben das Glück, bereits in einer Art Utopie zu | |
leben, von der die Mehrheit der Menschen auf der Welt nur träumen kann. | |
Ein anderes Zitat lautet: Es ist leichter, sich das Ende der Welt | |
vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Warum faszinieren uns Dystopie | |
und Apokalypse so sehr? | |
Neue Problemlösungen zu finden ist schwieriger, als alles anzuzünden und | |
brennen zu sehen. Dieses Loslassen beim Schreiben – ja, ich zerstöre jetzt | |
alles! – hat einen Reiz. Aber warum es sich nicht ein bisschen schwerer | |
machen und andere Zukünfte ermöglichen? | |
Weltuntergang zu schreiben macht einfach mehr Spaß? | |
Manchen schon. Ich glaube aber, dass sich da gerade etwas grundsätzlich | |
ändert. Besonders weil wir in einer Zeit leben, in der wir ständig mit | |
Krisen konfrontiert werden. Klimakollaps, Kriege, KI-Revolution. Es gibt | |
eine Bewegung in der Science-Fiction, die sagt: Wir brauchen mehr | |
utopisches Denken. Aber das ist eben gar nicht so leicht. | |
Wie machen Sie das denn – utopisch denken? | |
Der Begriff Utopie ist mir zu geschlossen. Ich würde bei mir eher von | |
utopischen Momenten sprechen. Dass beispielsweise queere Figuren in meinen | |
Zukünften ganz casual, ganz normalisiert sind, dass sie bestimmte | |
Diskriminierungen gar nicht mehr erfahren. So kann ich als Leser*in schon | |
erahnen, wie Probleme aus dem Heute überwunden werden. | |
Doch alles gut, also? | |
Nein, kritische Utopien, an denen ich mich abarbeite, sind keine | |
abgeschlossenen Projekte, sondern ein fortlaufender Prozess. Da muss ich | |
immer weiter überlegen: Moment, wer oder was würde in der Zukunft | |
Diskriminierung erfahren? Maschinen oder Cyborgs? Wichtig ist der Versuch, | |
die Welt besser zu machen, aber offen zu bleiben, wenn nicht alles | |
funktioniert. | |
Aber noch mal konkreter: Wo kommen die Zukunftsvorstellungen her? | |
Es gibt drei Bereiche, die mich inspirieren. Erstens die Wissenschaft. Ich | |
lese gerne wissenschaftliche Paper zum Beispiel zu synthetischer Biologie, | |
also wie Zellen künstlich hergestellt werden können. Das liest sich wie | |
Sci-Fi. Und ich denke das sofort weiter: Was könnte damit alles möglich | |
sein? Der zweite Punkt ist Journalismus, damit verfolge ich | |
gesellschaftliche Diskurse. Und der dritte Bereich ist die Kunst, besonders | |
Musik gibt mir noch eine andere Form von Inspiration. Aus all dem entsteht | |
plötzlich eine Szene. Eine Welt. Und ich möchte wissen: Wie funktioniert | |
diese Welt? Welche Leute können in so einer Welt leben? | |
Sie sind quasi Zuschauer*in? | |
Science-Fiction stelle ich mir wie ein Experiment in der Wissenschaft vor. | |
Menschen werden zum Beispiel mit einer neuen Technologie konfrontiert. Und | |
ich als Autor*in beobachte, was mit ihnen passiert, und schreibe das auf. | |
Dabei passiert durchaus auch Schreckliches. In einem Ihrer Romane ist der | |
Amazonas abgebrannt und Hawaii untergegangen. In einem anderen Hamburg von | |
Starkregen so geflutet, dass sich ein Slum aus schwimmenden Containern | |
bildet. | |
Und auf den Dächern Berlins haben sich anarchische, utopische | |
Gemeinschaften gebildet. Beim Klimawandel brauchen wir kaum Zukunftsbilder, | |
wir schreiben aus der Gegenwart heraus. Wir lesen ja heute bereits von | |
Amazonasbränden. Besonders wenn ich mit jüngeren Leuten spreche, erlebe ich | |
da oft Angst und die Frage: Gibt es überhaupt noch eine Zukunft? | |
Befeuern Weltuntergangsszenarien nicht die Ohnmacht? | |
Ja, denn ich glaube nicht, dass der Schock, die Warnung, Leser*innen zum | |
Handeln animiert. Auch im Genre der Climate-Fiction ist der Moment | |
gekommen, in dem wir uns ernsthaft fragen müssen: Wie geht es jetzt weiter? | |
In meinem Roman „Neurobiest“ wurde etwa der Regenwald wieder synthetisch | |
hergestellt. Es geht also durchaus um Lösungen. | |
„Zukunft jagt Gegenwart“ heißt einer Ihrer Essays. Bei der Geschwindigkeit, | |
in der sich die Welt gerade verändert – auch in technologischer Hinsicht –, | |
kann die Science-Fiction da überhaupt noch mithalten? | |
Genau deswegen ist Science-Fiction meiner Meinung nach das wichtigste Genre | |
unserer Zeit. Wir fühlen uns immer überrascht von diesen Ereignissen. | |
Plötzlich sind Klimawandel und KI-Revolution da und wir denken: Oh nein, | |
Kollaps. Dabei haben sich diese Dinge schon länger angebahnt. Die | |
Science-Fiction kann uns vorbereiten, wir können Szenarien im Vorhinein | |
durchspielen. Sie trainiert unsere Skills, uns in neuen Situationen mit | |
ständiger Veränderung zurechtzufinden. | |
Macht Ihnen die KI-Revolution Hoffnung oder Sorgen? | |
Technologien alleine werden uns nicht retten. Das hängt alles von uns ab, | |
also auch von politischen Entscheidungen. KI kann großen gesellschaftlichen | |
und wissenschaftlichen Fortschritt bringen. Aber sie kann auch sehr | |
dystopisch von Regierungen eingesetzt werden, zur totalen Überwachung zum | |
Beispiel. Entmächtigung und Ermächtigung, diese zwei Potenziale hat Technik | |
immer. Es ist nicht die Technologie, die unsere Zukunft bestimmt. Da ist | |
immer ein Spielraum. Wir können nie ganz vorhersehen, was die Menschen am | |
Ende damit machen. | |
Na ja, so wie die letzten technologischen Revolutionen verlaufen sind, | |
macht das zumindest nicht so optimistisch. In den letzten Jahren entstanden | |
beispielsweise viele Studien zu der Frage, inwieweit das Smartphone unsere | |
Intelligenz mindert. | |
Bei diesem Beispiel ist dann die Frage: Wie messen wir Intelligenz, was ist | |
das überhaupt? Hatten wir vor 30 Jahren vielleicht einfach eine andere Art | |
von Intelligenz, die wir so jetzt nicht mehr brauchen, weil die Smartphones | |
uns im Alltag helfen? Ich bleibe dabei: Wir können nicht davon ausgehen, | |
dass es schlecht ausgeht. | |
Dieses Motiv vieler Weltraumromane, die Zukunft vor allem als Abfolge neuer | |
technischer Errungenschaften wie Roboter und Raumschiffe zu erzählen – ist | |
das nicht eigentlich auch total von gestern? | |
Technischer Fortschritt macht uns Menschen aus und damit auch die | |
Science-Fiction. Technologie kann aber ganz anders sein, als wir uns das | |
erst mal vorstellen. In meinem Roman „Neurobiest“ überlege ich zum | |
Beispiel, wie Biotechnologien sich entwickeln könnten. Körperhacking, | |
Gentechnologie, technische Implantate. Das kann dann so aussehen, als | |
würden wir ohne Technologien leben, weil diese unsichtbar in unsere Körper | |
eingebaut sind. Cyborgs mit künstlichen Augen statt Smartphones und | |
Maschinen. | |
Aber wenn wir den aktuellen Zustand der Welt sehen, hat uns der Glaube an | |
die Technik in die Misere befördert. Ist der nächste Fortschritt also das, | |
was heute als „rückschrittlich“, als „native“ gelabelt ist? | |
Natürlich! Ende letzten Jahres wurde ein Buch der großen | |
Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin auf Deutsch veröffentlicht, | |
„Immer nach Hause“ heißt es. Da geht es genau darum. Sie entwirft eine | |
utopische Zukunftsvision, für die sie sich sehr von indigenem Leben hat | |
inspirieren lassen. Eine Welt, die wir vielleicht aus heutiger Sicht auf | |
den ersten Blick als Rückschritt sehen würden, aber die eine andere Weise | |
aufzeigt, mit unserem Planeten zu leben. | |
Viele der Dinge, die Sie sagen, klingen nach einer Mission. Hat das nicht | |
mehr von einem belehrenden Politpamphlet statt von Literatur? | |
Für mich nicht. Es ist wichtig, wie wir über die Zukunft nachdenken. Ich | |
plädiere für eine neue Art von Science-Fiction, die Zukünfte für alle | |
schreibt. | |
Wessen Zukunft wird denn noch nicht geschrieben? | |
Eines der größten Ereignisse unserer Gegenwart ist, dass wir diese globale | |
Vielfalt mit all ihren unterschiedlichen Identitäten erleben. Ob queer, | |
postmigrantisch oder Cyborg, vielfältige Identitäten kommen in meiner | |
Zukunft, in unseren Zukünften vor. Sie sind längst Teil unserer Realität. | |
Ich bin ein Cyborg seit dem Sandkasten, seit ich auf Brille oder | |
Kontaktlinsen angewiesen bin. Ich bin eine nichtbinäre Person. Und in | |
meiner Familie werden unterschiedliche Sprachen gesprochen. Da ist es für | |
mich ein ganz normaler Schritt zu sagen, vielfältige Identitäten sind auch | |
Teil meiner Geschichten. Ich fände es eher strange, sie auszuschließen. | |
Wenn ich sie nicht in meine Zukünfte einschreibe, dann gibt es sie ja | |
nicht. | |
Die Verkaufszahlen sagen leider: Queere Sci-Fi, die als solche gelabelt | |
ist, verkauft sich im Vergleich eher schlecht. | |
Mir geht es nicht um Coming-out-Literatur. Es geht darum, neue, andere | |
Zukünfte vorzustellen und endlich Lebensrealitäten abzubilden, die längst | |
existieren. Für mich ist es weird, dass Sci-Fi immer noch als männliches | |
Genre gesehen wird. Von Anfang an wurde das Genre auch von Frauen und | |
queeren Menschen geschrieben. Sci-Fi ist ein Möglichkeitsraum. Veränderung | |
wird hier vorstellbar. Dass es Neues gibt. Aber auch, dass es manches nicht | |
mehr gibt: etwa Sexismus und Rassismus. Aliens und Roboter werden schon | |
lange und selbstverständlicher nonbinär erzählt als Menschen. | |
Weil sie neben unseren Kategorien stehen. | |
Roboter und Aliens sind Beispiele dafür, dass Science-Fiction das Andere, | |
das Fremde erfahrbar macht und uns dafür Empathie entwickeln lässt. Gerade | |
Frauen und marginalisierte Personen, die von der Gesellschaft oft zu Aliens | |
gemacht werden, fühlen sich da hingezogen. Ich sehe ein unglaubliches | |
politisches Potenzial darin, dass ich sagen kann: Wir schreiben jetzt mal | |
die Herrschaftsverhältnisse der Zukunft um. Ich könnte mir zum Beispiel | |
eine Zukunft vorstellen, in der wir nicht nur mit anderen Menschen, sondern | |
auch mit Haustieren, digitalen Geräten und Zimmerpflanzen Familien bilden. | |
Und darüber nachdenken, wie das über mehrere Generationen die Beziehung zu | |
unserem Planeten verändert. | |
Gibt es etwas, das Science-Fiction besser kann als Science – also als | |
Wissenschaft ohne Fiktion? | |
Wir Autor*innen sind es ja gewohnt, komplexe Welten zu entwickeln, wir | |
müssen einen Blick auf das große Ganze haben. In Wissenschaft und | |
Wirtschaft wird oft aus einer Richtung auf ein Problem geblickt. Zum | |
Beispiel aus technischer Perspektive. Aber was bedeutet es zum Beispiel für | |
das Leben der Menschen, wenn eine neue Technologie auftaucht? Was für | |
Konflikte könnten entstehen? Zur Beantwortung solcher Fragen kann unsere | |
Art zu denken super hilfreich sein. | |
Ein anderer Science-Fiction-Autor erzählte uns kürzlich davon, dass er von | |
Kunden wie BMW oder der Europäischen Kommission eingeladen und bezahlt | |
wird, um als Nerd in deren Beratungsrunden zu Zukunftsszenarien | |
mitzudiskutieren. Ist das üblich? | |
Ja, Science-Fiction gilt nicht mehr als schmutzig, sondern wird von der | |
Wirtschaft als eine Form des Zukunftsdenkens anerkannt. Auch von der | |
Forschung. Für das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt habe ich | |
zusammen mit anderen Szenarien für zukünftiges Fliegen entwickelt. Dafür | |
haben wir Klimawandel, Politik, Technik und viele andere Faktoren | |
zusammengedacht, also wie in der Science-Fiction Weltenbau betrieben. | |
Was sagen denn Ihre Leser*innen: Haben die Vorstellungen in Ihren Büchern | |
Folgen in der Gegenwart? | |
Mir schreiben immer wieder queere Leser*innen, die sich in meinen Büchern | |
gesehen fühlen, das berührt mich total. Letztens bei einer Lesung bat mich | |
ein 15-Jähriger um ein Autogramm. Das hat mich überrascht. Junge Menschen | |
schauen sonst eher auf den amerikanischen Raum, weil dort vieles in der | |
Sci-Fi schon weiter und vielfältiger ist. Gerade weil es um mögliche | |
Zukünfte geht, muss es uns darum gehen, auch junge Menschen zu erreichen | |
und diese nicht auszuschließen. | |
Viele Erfindungen wurden in Romanen oder Filmen vorgedacht, lange bevor sie | |
entwickelt wurden. Was würden Sie gern in die Zukunft einschreiben? | |
Das wäre bei mir keine neue Technologie, sondern eher die Art, wie | |
Beziehungen gelebt werden. Dass auch Formen von Teambeziehungen Normalität | |
werden, die sowohl freundschaftlich als auch romantisch als auch | |
fürsorglich sein können. Dass die typische heterosexuelle Kleinfamilie | |
nicht mehr das alleinige Standardmodell ist, sondern wir vielfältigere und | |
fluidere Formen gefunden haben, gegen unsere Einsamkeit zu arbeiten. | |
5 Apr 2024 | |
## AUTOREN | |
Luise Strothmann | |
Alena Wacenovsky | |
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