Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wenn das Wasser steigt: Blankenese war einmal
> In Aiki Miras Roman „Neongrau“ kann man Hamburg herrlich beim Untergehen
> zuschauen – und dank einer feinen Hörspielfassung des WDR jetzt auch
> zuhören.
Bild: Die Möven am Himmel wird es auch nach der großen Flut noch geben
Ach, das ist aber schade: In „Proxi“, dem neuesten und elegantesten Roman
von Aiki Mira, der noch viel später spielt, gibt es Hamburg gar nicht mehr.
Da ist die Stadt längst untergegangen, weg. Bestenfalls sind Überbleibsel
von ihr eingeflossen in die Megastadt, auf die Europa zusammengeschnurrt
ist: Europolis grenzt schließlich an das, was die verdampften Nordmeere –
der Begriff aus der Geografie einer zukünftigen Welt, meint ja wohl die
Nordsee mit – zurückgelassen haben werden.
Was jenseits dieser Stadt liegt, ist eine Wüste aus salzigem Sand und
verdorrten Gewächsen. Die Bäume haben im Sterben Neonlaserfarben
angenommen. „Nichts können diese Bäume mit ihrer Umwelt austauschen“, hei…
es im Prolog. Das Profil dieser Landschaft besteht aus Altplastik, das sich
mit organischen Resten verbunden hat.
Und trotzdem ist da, unwahrscheinlich genug, Leben. Wir sind also nicht in
einer Dystopie. Ganz im Gegenteil: Darin, dass ein wie auch immer
beschädigtes Leben in diesem Danach weiterhin möglich sein soll, lässt sich
der – zugegebenermaßen etwas flatterige – Flug erkennen, zu dem Utopie
überhaupt noch fähig ist. Sie auszubuchstabieren: das ist [1][der Ansatz
von Aiki Miras Fiktionen].
## Zwischen Stanisław Lem und Octavia E. Butler
Aiki Mira ist ein Phänomen, [2][das manche aus dem SWR-Podcast „Das war
morgen“ kennen], der Sci-Fi-Hörpsiele aus dem Senderarchiv holt. Im Katalog
der Deutschen Nationalbibliothek finden sich erst ab 2021 Einträge zu
diesem Namen. Als Aiki Miras Wirkungsort wird „Hamburg“ genannt, und unter
dem Stichwort „weitere Angaben“ steht: „Autorx (non-binär, keine Pronome…
u. a. von Science-Fiction-Literatur“. Mittlerweile gehören zum Eintrag vier
ausgewachsene Romane, von denen der kürzeste immerhin noch 192 Seiten
umfasst: Der Erstling „Titans Kinder“ erzählt, irgendwo zwischen Stanisław
Lem und Octavia E. Butler schwebend, von einer Weltraumreise.
Vier Romane in drei Jahren, das ist allein schon ein ziemlich krasser
Output. Hinzu kommen einige Essays, ein Manifest und ein gutes Dutzend
kurze Stories. Zwischendurch ging sogar das Gerücht, Aiki Mira sei der
Alias eines avancierten generativen Computerprogramms. Schließlich ist der
Vorname ja zusammengesetzt aus den beiden geläufigen Abkürzungen für
künstliche Intelligenz. Japanisch gelesen könnte der Name aber auch als
„harmonisierendes Gemüt“ übersetzt werden.
Aiki Mira entwirft, gar nicht so verbreitet im Genre, gerne Szenen
gelingender neuer Formen des Zusammenlebens zwischen Menschen, Maschinen,
Tieren und nichtmenschlichen Wesen, die es noch nicht gibt. Spielen lässt
Aiki Mira diese Geschichten aber auf der Erde, in einer Welt, die wirklich
nicht mehr auf den Untergang warten muss, oder besser: ihn nicht mehr,
mithilfe von Leugnung und hoffnungsfroher Selbsttäuschung, verdrängen kann.
Die Klimakatastrophe findet hier statt, vom Menschen verursacht, ohne dass
Aiki Mira sie zum Inhalt der Bücher machen würde. Sie gehört einfach nur,
als fortlaufender, unabschließbarer Prozess zum Weltenbau. Die
Klimawandelfolgen seien „Geschehen, die keine Ausnahme mehr sind, sondern
die Regel“, schreibt Aiki Mira im Essay „Weil Kollaps die Konstante ist“.
„Der Planet“, heißt es in „Proxi“ einmal noch schöner, „denkt sehr …
über das eigene Sterben nach“.
## Pilzblühendes Plastiglomerat
Dass Hamburg in diesem Roman nur mehr eine schon lange vergessene
Geschichte ist, begraben unter pilzblühendem Plastiglomerat, das nur das
Leben selbst durchdringen könnte, ist erzähllogisch sinnvoll. Aber es ist
eben trotzdem schade. Denn eine der Schönheiten von Sci-Fi oder hier
[3][Post-Cli-Fi, wie Mira selbst das nennt], Post-Climate-Fiction, ist die
Art und Weise, wie die Aktualität der Lesenden in die erzählte Zukunft
ragt: diese besteht ja aus Erinnerung an die Gegenwart. Und die bekommt
dadurch eine ganz neue Bedeutung, wie Søren Aabye Kierkegaard oder
irgendein [4][Managementfuzzi-Coach mal geschrieben haben wird.]
In „Neongrau“ ist es gerade das Bild des teiluntergegangenen Hamburg, das
fasziniert. Es ist liebevoll realistisch und auch mit einer gewissen, aus
diesem Realismus abgeleiteten Komik gezeichnet, die sich mitunter ähnlich
anfühlt wie Verzweiflung. Besser noch als im Buch kommt das im Hörspiel
rüber. Das läuft ab Mitte März jeweils montags im Radio, aber der WDR hat
seine zwölf Teile schon jetzt, pünktlich zur Hamburg-Wahl, in die
ARD-Audiothek gestellt. Manchmal dienen darin allzu naheliegende
Technobeats als Hintergrund-Sounds. Aber dafür fließen die Ausrufe und der
Slang, den Aiki Mira aus Arabismen, Yoruba-Wörtern und Missingsch
modelliert hat, dem fantastischen Sprecher-Ensemble so geläufig von den
Lippen, als wären sie mit dieser Kunstsprache aufgewachsen. Das ist
großartig. Und toll verdichten die Dialoge, die Mira zusammen mit dem
erfahrenen Hörspiel-Regisseur Martin Zylka aus ihrem Erzähltext gewonnen
hat, die notwendigen Weltenbau-Infos, die inneren Monologe und die
Handlungsstränge zu plausiblen Gesprächen. Die bleiben dabei von einer
schönen norddeutschen Kargheit. Zum Beispiel in der folgenden Szene im
neuen Armenviertel der teilgefluteten Nordsee-Metropole.
Denn ja doch, die Küstenlinie wird Hamburg erreichen. Das wird auch
[5][Big-Data-basierten, seriös-wissenschaftlichen Projektionen] zufolge
schon 2050 der Fall sein – es sei denn, das 1,5-Grad-Ziel würde [6][künftig
wieder unterschritten]. [7][Darauf] sollte man aber besser [8][nicht
wetten]. In Miras Vorstellung vom frühen 22. Jahrhundert ist das jedenfalls
schon so natürlich geworden, dass eine Verursacher- oder gar Schuldfrage
überhaupt niemandem mehr in den Sinn kommen kann. Stattdessen hören wir
einen irgendwie schmutzigen Wellenschlag am schlammigen Ufer lecken. Ein
paar Möwenschreie und das – für selbstgebastelte Angeln allerdings zu
akkurate – Sirren von Spinnrollen bilden die Geräuschkulisse des Gesprächs
des Containerbewohners Sven Breckwoldt mit der Slum-Legende Ben Wozniak,
dessen polnischer Name vielleicht auf den Una-Bomber anspielt, den
Anti-Technik-Terroristen Ted Kaczynski.
## Weiß und arm
Stefan Lampadius als Sven eröffnet den Dialog mit dezent hamburgisch
getönter Empörung: „Weißt du, wie sie uns in anderen Vierteln nennen?
‚Weißer Abschaum‘ – nur weil wir aus Blank kommen.“ Kurz skizziert Van…
Loibl als Erzählerin mit einem Satz kurz das Setting – die zwei sitzen auf
der Terrasse eines schwimmenden Wohncontainers. Und dann entgegnet Wozniak
mit Sven Seburgs tiefer, müder, und whisky-rauer Stimme: „Nein, Sven, sie
sagen ‚weißer Abschaum‘ weil wir weiß und arm sind, verstehst?“
Die Misere der Zukunft heißt Weißsein, Armsein und deshalb in Blank leben –
das ist lustig, auch wenn der abgehängte White Trash da gleich
Bombenattentate planen und später auch durchführen wird: Weißsein, das
bedeutet heute noch immer ein Privileg, das kaum je in Frage gestellt wird.
Und klar, Blank, dieses schwimmende Slum, dessen Bewohner illegal angeln
und wo mutierte Ratten den mit synthetischen Drogen zugedröhnten Leuten in
die Münder kriechen, um die Gedärme anzuknabbern – also dieses wirklich
schäbige Blank, ist das, was von Blankenese übrig blieb.
Blankenese ist von den reichen Stadtteilen im Bezirk Altona der
berühmteste, auch wenn das Durchschnitts-Einkommen pro Steuerpflichtigen
dort 2020 bloß bei 130.000 Euro lag, also [9][fast 40.000 niedriger als bei
den benachbarten Nienstedtern]. Aber die kennt ja keiner.
Selbstverständlich wird sich das Meer in Wirklichkeit zuerst die Bereiche
am südlichen Ufer geholt haben, Finkenwerder, Cranz und Jork und das Alte
Land in Niedersachsen, wo es keine Hügel gibt. „Neongrau“ aber spielt eben
30 Jahre nach der Sturmflut, die das gesamte Villenviertel am nördlichen
Elbufer fortgerissen und das Binnendelta der Elbe in einen Brackwassersee
verwandelt hat. Am Ende werde es „immer für bestimmte Leute gut werden, für
andere weniger“, hat Aiki Mira mal gesagt. Und zu den Freiheiten aller
Autorx gehört es, da auch mal für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen,
wenigstens in der Fantasie. Wenigstens in der Literatur.
Und dann sitzen da die zwei Blank-Bewohner und blicken hasserfüllt auf den
Glanz der Stadt, auf die angestrahlte, schwimmende Riesen-Arena, die das
neue Zentrum von Hamburg markiert. Dorthin, wo die neue Oberklasse ihre
glamourösen Gladiatorenkämpfe austrägt. Wo die transhumanen Fans aus ihren
elektronisch aufgepimpten, von innen leuchtenden Augen eine tolle
Stadion-Choreo hinlegen und ihre Tech-Stars vergöttern. Dorthin, wohin sie
ihre Rache tragen wollen.
1 Mar 2025
## LINKS
[1] https://www.tor-online.de/magazin/science-fiction/ueber-das-ende-hinausschr…
[2] /Science-Fiction-Podcast/!5993246
[3] https://www.tor-online.de/magazin/science-fiction/ueber-das-ende-hinausschr…
[4] https://workplaceinsight.net/what-soren-kierkegaard-can-teach-us-about-work…
[5] https://coastal.climatecentral.org/map/13/9.7342/53.5297/?theme=warming&amp…
[6] https://climate-storylines.awi.de/
[7] https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/umwelt/2024-was-uns-die-klima…
[8] /Waermster-Januar/!6063894
[9] https://www.statistik-nord.de/presse-veroeffentlichungen/presseinformatione…
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
wochentaz
Meeresspiegel
Blankenese
Hamburg
Science-Fiction
COP29: Klimakonferenz in Baku
wochentaz
Podcast-Guide
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kommentar zur UN-Klimakonferenz in Baku: Wie blind in den Untergang
Die UN-Klimakonferenz hat enttäuschende Ergebnisse geliefert. Wer es ernst
meint mit dem Klimawandel, müsste jetzt zu drastischen Mitteln greifen.
Autor*in Aiki Mira zu Science-Fiction: „Das wichtigste Genre unserer Zeit“
Sci-Fi ist ein Orakel für technologische Entwicklungen, aber es fixiert uns
auch auf das Ende der Welt. Autor*in Aiki Mira möchte das ändern.
Science-Fiction-Podcast: Vergangene Zukunft
„Das war morgen“ führt in die Welt der alten Sci-Fi-Hörspiele ein. Wie hat
man sich in den 1960er bis 1990er Jahren die Zukunft vorgestellt?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.