# taz.de -- Forscher über Finanzbehörde im NS: „Ein dichtes Verfolgungsnetz… | |
> Jaromír Dittmann-Balcar erforscht im Auftrag der Hamburger Finanzbehörde, | |
> wie sich der Fiskus während des NS an rassistisch Verfolgten bereicherte. | |
Bild: Ab 1860 hieß die heutige Hamburger Finanzbehörde Finanzdeputation: Baus… | |
taz: Herr Balcar, welche Rolle spielte Hamburgs Finanzbehörde im | |
nationalsozialistischen Staat bei der [1][Beraubung rassistisch | |
Verfolgter]? | |
Jaromír Dittmann-Balcar: Die fiskalische Verfolgung war das [2][Werk einer | |
Reihe von Akteuren beziehungsweise Institutionen, die wie ein Orchester | |
zusammenwirkten], wobei die Behörde des Oberfinanzpräsidenten oft die Rolle | |
des Dirigenten einnahm. Mal erzeugte die Gestapo durch willkürliche | |
Verhaftungen Druck auf die Opfer – vor allem jüdische, aber auch Sinti und | |
Roma. Dann wieder sprach die Devisenstelle hohe Strafen für angebliche oder | |
tatsächliche – teils unbeabsichtigte – Devisenvergehen aus. Hinzu kamen | |
etliche Sondersteuern. | |
Welche zum Beispiel? | |
Unter anderem die im November 1938 nach der Reichspogromnacht erlassene | |
„Judenvermögensabgabe“, mit der die Opfer den Schaden des gegen sie | |
gerichteten Pogroms wiedergutmachen sollten. Die Begleichung dieser | |
„Sühneleistung“ war Voraussetzung für die Emigration. Erst danach stellte | |
das Finanzamt die nötige „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ aus. | |
Was fiel unter diese Steuer? | |
Aller Besitz. Schon im Frühjahr 1938 hatten die rassistisch Verfolgten ein | |
Vermögensverzeichnis mit allen Immobilien, Bankkonten, Aktien und | |
Wertgegenständen erstellen müssen. Von all dem mussten 20 Prozent gezahlt | |
werden. Hierfür mussten viele ihre Immobilien beleihen oder Aktien | |
verkaufen. Aber wenn das viele gleichzeitig tun, erfolgt ein Aktiencrash. | |
Das hat dem Reichsfinanz- und den Reichswirtschaftsministerium schlaflose | |
Nächte bereitet und etliche Konferenzen ausgelöst, wo diskutiert wurde, wie | |
dieser Crash verhindert werden konnte. | |
Der ja vorauszusehen war. | |
Wirtschaftlicher oder finanzpolitischer Sachverstand ist für die NSDAP im | |
Dritten Reich nie handlungsleitend gewesen. Bekanntestes Beispiel ist die | |
ungedeckte Finanzierung der damaligen Aufrüstungspolitik. | |
Was kam bei besagten Konferenzen heraus? | |
Dass die Sondersteuer auch in Aktien und Immobilien bezahlt werden konnte. | |
Zudem hat man ein Verfahren eingeführt, bei dem Aktien eingezogen, auf | |
Treuhandkonten abgelegt und dann schrittweise veräußert wurden. Andere | |
wurden im Paket weiterverkauft, wovon Konzerne wie Flick profitierten. Das | |
war ein „Spiel“, an dem deutsche Hochfinanz und Großindustrie in großem | |
Stil beteiligt waren. | |
Wie reagierten die Verfolgten? | |
Teils versuchten jüdische Gewerbetreibende, „arische“ Kompagnons | |
aufzunehmen oder das Geschäft formal auf einen Kompagnon zu übertragen. Das | |
hat die Beraubung aber nur aufgeschoben. | |
Woran scheiterten sie? | |
Am dichten Verfolgungsnetzwerk aus Finanzbehörde, Gestapo und | |
Preisüberwachungsstellen. Auch die Bankhäuser haben der Devisenstelle | |
eilfertig mitgeteilt, welcher jüdische Kunde ein Devisenkonto hat. Da | |
konnte man nichts verstecken. | |
Wie ging es weiter für die Emigrierenden? | |
Vor der Auswanderung mussten sie beim Finanzamt Listen des Umzugsguts | |
einreichen. Kunst- und Wertgegenstände durften sie nicht mitnehmen. | |
Außerdem mussten sie für alle ab 1933 gekauften Gegenstände eine | |
Sondersteuer zahlen, ihr Eigentum also nochmals kaufen. Die Summe legten | |
Zollbeamte fest, die in den jeweiligen Wohnungen das Umzugsgut | |
begutachteten. | |
Was geschah dann mit dem Umzugsgut? | |
Großes Gepäck reiste getrennt. Die Liftvans – kleine Holzcontainer – wurd… | |
zunächst im Hamburger Freihafen gelagert und später mit Frachtschiffen | |
transportiert. Wenn die nach England, Brasilien, in die USA Ausgewanderten | |
Glück hatten, kam es nach einigen Monaten dort an. Wenn der Kriegsbeginn | |
dazwischen kam, wurde ihr Umzugsgut entweder bei Bombardierungen zerstört | |
oder zugunsten des Fiskus weit unter Wert versteigert. Genauso verfuhr man | |
mit den Möbeln der ab Ende 1941 Deportierten. Ihre Hausschlüssel hatten sie | |
an Zoll- oder Gestapo-Beamte abgeben müssen. | |
Offenbaren die von Ihnen gesichteten Akten, wie sich einzelne Beamte | |
verhielten? | |
Die Finanz- und Zollbeamten waren [3][mehr als bloße Schreibtischtäter], | |
denn sie hatten in den Wohnungen direkten Kontakt zu den Opfern. Da die | |
Beraubung aber arbeitsteilig organisiert war, trugen einzelne Beamte nur da | |
und dort dazu bei. Das kann dazu geführt haben, dass vielen die | |
gravierenden Folgen ihres Tuns verborgen blieben – oder sich noch leichter | |
verdrängen ließen. | |
Gab es Handlungsspielräume? | |
Leider sind die Hamburger Personalakten sehr lückenhaft. Aber es gab | |
durchaus Fälle, wo ein einzelner Beamter immer wieder Eingaben an | |
übergeordnete Stellen bis ins Reichsfinanzministerium gemacht und gesagt | |
hat: „Die Jüdin soundso ist eine ältere Dame, und sie braucht ihr Vermögen, | |
um sich und ihre nicht erwerbsfähige Tochter durchzubringen.“ Deshalb möge | |
man ihr bestimmte Steuern erlassen oder niedriger ansetzen. Solchen | |
Eingaben wurde meist entsprochen. | |
Hatten auch die Zollbeamten Freiheiten? | |
Ja. Denn bei ihren Kontrollen in den Wohnungen in Anwesenheit der | |
Verfolgten konnten sie entweder allen Besitz haarklein auflisten oder eben | |
nicht. Zumal sie meist allein kamen und keine Denunziation durch Kollegen | |
drohte. Und es fällt schwer zu glauben, dass sie nicht begriffen, dass sie | |
an einem großen Raubzug beteiligt waren. | |
Wer war außer Finanz- und Zollbeamten an der Beraubung beteiligt? | |
Etliche. Denn die Finanzverwaltung hatte nicht die logistischen | |
Möglichkeiten, Möbel, Hab und Gut in dem Umfang – und Hamburg hatte die | |
viertgrößte jüdische Gemeinde des Deutschen Reichs – zu transportieren, zu | |
lagern, zu versteigern. Dazu kam Umzugsgut von Verfolgten aus anderen | |
Städten, die über den Hamburger Hafen auswanderten. Die Finanzbehörde | |
brauchte also, wie im zweiten wichtigen Auswanderungsort Bremen, ein | |
Netzwerk aus Spediteuren, Gerichtsvollziehern, Auktionatoren. | |
Welche Speditionen profitierten? | |
Alle. Das ist ein Who is Who des regionalen Speditionsgewerbes, darunter | |
auch [4][Kühne + Nagel mit seinem Monopol bei der „M-Aktion“]. Sie betraf | |
Lagerung und Transport von Mobiliar und Besitz der aus Frankreich und den | |
Benelux-Ländern Deportierten. Bis 1939 haben übrigens immer wieder | |
niederländische Speditionen moniert, dass sie nicht an diesem lukrativen | |
Geschäft beteiligt wurden. Das hatte die Lobby des deutschen | |
Speditionsgewerbes verhindert. | |
Und wer führte die Auktionen durch? | |
Am liebsten beauftragte die Finanzbehörde vereidigte Gerichtsvollzieher, | |
die mutmaßlich nicht in die eigene Tasche wirtschaften würden. Aus | |
Personalmangel kooperierte man aber auch mit Auktionshäusern wie Carl F. | |
Schlüter. | |
Wie verlief nach 1945 die Restitution? | |
Frappierend speziell für Hamburg ist, dass großteils dieselben Leute, die | |
die Beraubung betrieben hatten, für die Restitution zuständig waren. Ihr | |
fehlendes Unrechtsbewusstsein zeigen Argumentationen wie: „Wieso, für diese | |
Gegenstände haben wir damals auf der Versteigerung 1.500 Reichsmark | |
eingenommen. Gut, wir rechnen es um im Verhältnis eins zu zehn und bieten | |
150 D-Mark.“ So steht es in einer Wiedergutmachungsakte. Dabei waren die | |
1.500 Reichsmark nur ein Bruchteil des realen Werts. | |
19 Mar 2024 | |
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[2] https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/nachrichten/news/neues-ausstellu… | |
[3] /Antisemitismus-in-Norddeutschland/!5892158 | |
[4] /Arisierungs-Profiteur-Kuehne--Nagel/!5956480 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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