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# taz.de -- Entschädigung für Holocaustopfer: Salo Muller gegen die Deutsche …
> Seine Eltern wurden von der Reichsbahn nach Auschwitz deportiert. Deshalb
> fordert der Niederländer Salo Muller Entschädigungen von der Deutschen
> Bahn.
Bild: Zugfahrt in den Tod: Die erste Deportation von Juden auf dem Bahnhof in B…
Hamburg taz | Salo Muller war sechs Jahre alt, als er seine Eltern zum
letzten Mal sah. Er stand vor der Bühne eines Amsterdamer Theaters, auf der
seine Mutter und sein Vater sich zwischen anderen jüdischen Gefangenen
drängten. Muller sagt, er habe zu ihnen gewollt, habe gerufen und geweint,
aber nicht gedurft.
Dann wurden seine Eltern deportiert, erst in den Zügen der Niederländischen
Staatsbahn, ab der deutschen Grenze mit der Reichsbahn. Die Zugfahrten
mussten sie selbst zahlen. Einige Monate später, Anfang 1943, wurden sie in
Auschwitz von SS-Wachmännern ermordet. Sie sind zwei von mehr als 100.000
niederländischen Jüdinnen und Juden, die in Konzentrationslager deportiert
wurden.
Mehr als acht Jahrzehnte später, an einem Sonntag im Januar, sitzt Muller
tief versunken in einem Kinositz und schaut auf die Bühne des Hamburger
Centralkomitees, eigentlich ein Veranstaltungsort für politisches Kabarett.
Heute hat das [1][Auschwitz-Komitee hier eine Veranstaltung] organisiert.
Muller trägt eine braune Hornbrille, Anzug und Krawatte, seine Hände liegen
gefaltet im Schoß. Der 87-Jährige sieht ganz und gar nicht aus, wie man
sich einen Aktivisten vorstellt. Doch gleich wird er sich aus seinem Sitz
aufraffen, die Stufen zur Bühne hochsteigen und mit aktivistischer
Entschlossenheit fordern, wofür er seit Jahren kämpft:
Entschädigungszahlungen von der Deutschen Bahn.
## Die meisten Opfer werden nicht mehr erreicht
Es wäre Mullers zweiter großer Sieg: 2019 hat er die Niederländische
Staatsbahn dazu bewegt, 50 Millionen Euro Entschädigung an insgesamt 7.000
Opfer und Hinterbliebene zu zahlen. Deshalb nimmt er jetzt noch mal in
Deutschland Anlauf, gemeinsam mit dem Hamburger Anwalt Martin Klingner.
Der wirkt genau so entschlossen wie sein Klient. Er sitzt an diesem Sonntag
neben Muller auf der Bühne und sagt: „Wir sehen einen klaren Anspruch, den
Salo und andere Überlebende haben.“ Können sie damit erfolgreich sein?
Klingner weiß: Viel Zeit bleibt nicht mehr. Muller gehört zur letzten
Generation Überlebender der NS-Verbrechen. Die meisten Opfer kann eine
materielle Entschädigung nicht mehr erreichen. Das weiß auch die
Bundesregierung.
Der Historiker Prof. Constantin Goschler von der Universität Bochum forscht
zu Wiedergutmachungspolitik und beobachtet, dass die Regierung
Entschädigungszahlungen fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
beenden will. „Das Ende hängt damit zusammen, dass die letzten Überlebenden
sterben“, sagt er.
## Wer trägt die Verantwortung?
Entschädigungszahlungen seien für die Generation der Überlebenden angedacht
gewesen. Das zeige sich schon an der Stiftung „Erinnern, Verantwortung,
Zukunft“ (EVZ) der Bundesregierung, die in den 2000er Jahren für die
Verteilung von Geldern an ehemalige NS-Zwangsarbeiter*innen zuständig war.
Mittlerweile kümmert sie sich vor allem um erinnerungskulturelle Projekte.
Dem gegenüber stehe eine andere Entwicklung, sagt der Historiker:
Mittlerweile fordern auch Kinder und andere Hinterbliebene von
Holocaust-Opfern Entschädigung. Zu der Frage, ob Muller mit seiner
Forderung erfolgreich sein kann, gehört also auch: Wer muss 80 Jahre nach
dem Zweiten Weltkrieg überhaupt noch entschädigt werden? Und wer trägt die
Verantwortung?
Vier Tage vor der Veranstaltung im Centralkomitee, im Videotelefonat von
Hamburg nach Amsterdam. Mit dabei: Salo Muller, sein Anwalt Klingner und
ein Dolmetscher, der zwischen Niederländisch und Deutsch vermittelt.
Muller schaut in seine Webcam und antwortet ohne Zögern auf die Frage,
warum er auf die Entschädigungszahlungen pocht: „Ich will Gerechtigkeit.“
Und er sagt einen Satz, mit dem er immer wieder zitiert wird: „Wenn man es
ernst meint mit der Entschuldigung, dann muss man zahlen.“
Erinnerungskultur alleine reiche nicht. Deshalb schreibt Muller seit Jahren
Briefe an Bahnvorstände und Abgeordnete, tritt öffentlich auf.
## „Bis heute Abend“ – doch er sah sie nie wieder
Muller findet nicht, dass er deshalb ein Aktivist ist. Er würde sich ja
nirgendwo festkleben, sagt er und wirkt in seinem kleinen Zoom-Fenster fast
etwas beleidigt. Was er aber tut: nicht lockerlassen. Im Telefonat sagt er:
„Wenn jemand sagt, dass etwas vielleicht möglich ist, dann höre ich ein
Ja.“ Das Gleiche sagt er auch vier Tage später auf der Hamburger Bühne. Und
seine Tochter sagt über ihn am Rande der Veranstaltung: „Mein Vater hat
damit schon viel erreicht.“
Zur Geschichte des 87-jährigen Zeitzeugen, der nicht lockerlässt, gehört
auch die Geschichte des sechsjährigen Kindes, dessen Eltern in Auschwitz
vergast wurden. Das selbst nur überlebte, weil es zwei Jahre lang versteckt
gehalten wurde. Deshalb erzählt Muller sie immer wieder, erst im
Videointerview und dann vor Publikum auf der Veranstaltung des
Auschwitz-Komitees. Sie beginnt am 27. November 1942 und geht so:
Mullers Mutter brachte ihn an diesem Morgen zu Schule. „Bis heute Abend und
sei brav“, soll sie zum Abschied gesagt haben, aber nie wiedergekommen
sein. Während seine Eltern erst nach Westerbork und neun Wochen später nach
Auschwitz deportiert wurden, kam Mullers erste von insgesamt neun
Rettungen.
Ein niederländischer Unternehmer aus dem Widerstand versteckte den
jüdischen Jungen über zweieinhalb Jahre immer wieder bei neuen Familien.
Bis dort jemand Angst bekam, gewarnt oder verdächtigt wurde. Auf einem Hof
in Groningen sei es besonders schlimm gewesen. Einmal die Woche seien
deutsche Soldaten gekommen, um sich „mit den Frauen des Ortes zu
vergnügen“, wie Muller erzählt. Er musste sich unter dem Dielenboden
verstecken. Zwölf Stunden lang habe er da jeden Samstag gelegen, im Dunkeln
zwischen Mäusen und Ratten.
## Mit dem Zug fuhr er fast nie
Während Muller auf der Bühne erzählt, ist seine Stimme ruhig und laut, der
Saal ist leise. Die Moderatorin will in die Pause überleiten, aber Muller
will nicht aufhören. „Fünf bis zehn Minuten haben Sie noch“, sagt sie.
„Okay, dann zehn“, sagt Muller und redet weiter.
Sein letztes Versteck war bei einem älteren Ehepaar. Sie seien wie
Großeltern gewesen, sagt Muller. Seine Tante hingegen, die ihn dort nach
Kriegsende wieder abholte und mit zu sich nach Hause nahm, sei ihm fremd
geworden. Er konnte nur noch Flämisch sprechen, hatte Ekzeme und Asthma. Er
sei kein einfaches Kind gewesen, sagt Salo Muller.
Nach einer schwierigen Schulzeit machte er eine Ausbildung und wurde
Physiotherapeut beim Fußballclub Ajax Amsterdam. Der sei ein bisschen so
wie der Hamburger Verein FC. St. Pauli, nur besser, sagt Muller. Er lernte
seine Frau kennen, bekam Kinder, machte irgendwann eine eigene Praxis für
Physiotherapie auf. Mit dem Zug fuhr er sein ganzes Leben lang nur, wenn er
unbedingt musste.
Seine Kindheit im Versteck, der Mord an seinen Eltern war nie etwas, das
Muller verschwieg. „Wir Kinder sind aufgewachsen mit den Geschichten
unserer Eltern und mit ihrem Schmerz“, sagt Mullers Tochter. Öffentlich
über seine Geschichte sprechen, Konsequenzen fordern, damit hat Muller aber
erst später in seinem Leben angefangen.
## Angst vor dem Imageschaden
Sein politischer Kampf beginnt vor neun Jahren, beim Zeitunglesen. Im
Dezember 2014 liest Muller, dass die französische Bahn überlebenden Juden*
und Jüdinnen und ihren Nachkommen in den USA eine Entschädigungssumme
zahlen wird. Insgesamt 60 Millionen Dollar sollen sie erhalten. Und Muller
findet: Das steht auch ihm zu.
Deshalb schreibt er einen Brief an die Direktion der Niederländischen
Staatsbahn, bring das Thema in eine Nachrichtensendung, nimmt immer wieder
Gespräche mit der Bahn auf. Dann holt er sich eine Anwältin, Liesbeth
Zegveld, und droht mit einer Klage. Im Sommer 2019 willigt die Staatsbahn
schließlich ein, bis zu 50 Millionen Euro an Deportationsopfer und
Hinterbliebene zu zahlen.
Die Bahndirektion habe Muller daraufhin zu sich eingeladen. „Sie hatten
recht, Herr Muller. Wir werden zahlen“, soll sie gesagt haben. Und Muller
habe es nicht fassen können. „Ich habe angefangen zu weinen“, erinnert er
sich im Videotelefonat. „Die wollten nicht gegen einen
Holocaust-Überlebenden vor Gericht stehen. Deshalb sind sie eingeknickt.“
Der Imageschaden wäre für die Bahn zu hoch gewesen.
[2][Nach dem Erfolg] seien ihm Hunderte E-Mails zugeschickt worden, viele
von Nachkommen niederländischer Holocaust-Opfer, die sich bedankten.
Dutzende Zeitungen haben über ihn berichtet, ihn als Helden gefeiert. Ein
Jahr später wurde er sogar im Stadion von Ajax Amsterdam mit einer
königlichen Auszeichnung geehrt. Und Muller fasst einen neuen Entschluss:
Wenn die niederländische Staatsbahn zahlt, dann muss es auch die Deutsche
Bahn tun. Die aber stellt sich bis heute quer.
## Ein Herzensanliegen für den Anwalt
Den ersten Versuch startet Muller 2020: Gemeinsam mit seinem damaligen
Anwalt, Axel Hagedorn, setzte er ein Schreiben an den Bund und die Deutsche
Bahn AG auf. Im Sommer, einige Monate später, kommt eine Absage des
Kanzleramts. Man könne keine individuellen Zahlungen übernehmen. Und
Hagedorn kann aus gesundheitlichen Gründen nicht weitermachen. Deshalb
kommt Klingner ins Spiel: Er nimmt neuen Anlauf, es sei ein Herzensanliegen
für ihn, sagt er. Den vollen Satz müsse Muller ihm nicht zahlen.
Klingner kämpft nicht nur für Mullers Anliegen, sondern auch für Muller: Am
Ende des Videotelefonats lächelt er in die Kamera: „Salo, Sonntag sehen wir
uns endlich live. Zum ersten Mal“, sagt er. Ein paar Tage später, auf der
Veranstaltung im Hamburger Centralkomitee, sitzt Muller während der Pause
auf seinem Sitz in der ersten Reihe, spricht mit Gäst*innen, die zu ihm
kommen.
Auch sein Anwalt neigt sich kurz zu ihm runter, legt die Hand auf seine.
„Gut?“ fragt Muller. „Gut!“, sagt Klingner. Später sagt er: „Ich wü…
schon sagen, dass das auch der Beginn einer Freundschaft ist. Wir sind
vertraut miteinander. Und wir reden auch über andere Dinge, über den AFC
Ajax und über St. Pauli.“
Eigentlich ist Klingner Anwalt für Arbeits- und Mietrecht, engagiert sich
in Initiativen von Mieter*innen. Vor 20 Jahren hat er parallel den
Arbeitskreis „Distomo“ mitbegründet, der sich unter anderem für die
Entschädigung griechischer NS-Opfer einsetzt. Die Aufarbeitung von
NS-Verbrechen sei etwas, das ihn schon lange umtreibt, sagt er. „Das hat
nie stattgefunden, wie es hätte stattfinden müssen. Ich streite dafür, dass
das passiert.“
## Der Bahn „ein wichtiges Anliegen“
Bislang sei die Deutsche Bahn allerdings nicht zu weiteren Gesprächen
bereit. Auch wenn es dem Unternehmen ein wichtiges Anliegen sei, das
zumindest betont eine Pressesprecherin mehrmals am Telefon und verweist auf
zahlreiche Initiativen, die die DB unterstützt.
Zitieren lässt sich das Unternehmen so: „Wir sind uns unserer historisch
begründeten Verantwortung sehr bewusst. Deswegen setzt sich die Deutsche
Bahn dauerhaft für eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte
ihrer Vorläuferorganisationen ein, insbesondere mit der Geschichte der
Deutschen Reichsbahn im Nationalsozialismus.“
Das lässt sich auch alles auf der DB-Website nachlesen. Dort steht unter
anderem, dass der Konzern 2021 eine Erklärung gegen Antisemitismus und
Rassismus unterschrieb, Azubis sich im Rahmen ihrer Ausbildung mit der
Unternehmensgeschichte auseinandersetzen müssen, die DB an das Anne Frank
Zentrum in Berlin spendet und Mitglied im Freundeskreis Yad Vashem ist.
Aber ersetzt das die Entschädigungszahlungen, die Muller und sein Anwalt
fordern?
Die Deutsche Bahn sagt, das könne sie am Ende gar nicht entscheiden, sie
sei schlicht nicht zuständig: „Die DB AG kann keine individuellen
Entschädigungszahlungen übernehmen“, so eine Sprecherin. Sie verweist auf
ihren Eigentümer, den Bund, der alle Fragen materieller Entschädigung
bereits habe klären können.
## Rechtssicherheit für die deutsche Wirtschaft
Ganz falsch ist das nicht: Rechtlich betrachtet sind die Ansprüche
gegenüber der Deutschen Reichsbahn nach dem [3][Allgemeinen
Kriegsfolgengesetz von 1958] erloschen. Das Gesetz regelt vereinfacht,
welche Ansprüche gegen das Deutsche Reich vom Bund erfüllt werden mussten.
Deportationen gelten darin als ein Teil des gesamten Verfolgungsprozesses
durch das NS-Regime. Die Bundesregierung könne sie deshalb nicht gesondert
entschädigen, heißt es in einer Antwort der Regierung auf eine Kleine
Anfrage der FDP aus dem Jahr 2021.
Außerdem verweisen sowohl die Bundesregierung als auch die Deutsche Bahn
auf ihre Beteiligung an der Entschädigung von NS-Zwangsarbeiter*innen, die
von der EVZ-Stiftung organisiert wurde. Neben dem Bund zahlten dort auch
eine Reihe deutscher Unternehmen ein, darunter die DB. Laut der Stiftung
erhielten bis 2007 rund 1,664 Millionen Menschen Zahlungen in Höhe von
insgesamt 4,4 Milliarden Euro. Pro Person sind das im Schnitt etwa 2.600
Euro.
Mehrere Initiativen hatten zuvor von Regierung und Unternehmen
eingefordert, NS-Zwangsarbeiter*innen und andere Opfer des
Nationalsozialismus individuell zu entschädigen. Gleichzeitig setzen
Sammelklagen ehemaliger Zwangsarbeiter*innen in den USA die
Bundesregierung unter Druck. Unternehmen, die in die Stiftung einzahlten,
wurde deshalb ein Schutz vor weiteren Klagen zugesichert.
Der Historiker Goschler spricht von einem Gabentausch: „Erhielten die
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter symbolische Anerkennung, so erlangte
die deutsche Wirtschaft dafür Rechtssicherheit.“
## Hat die Bahn wirklich profitiert?
Klingner findet aber nicht, dass sich das Thema durch diese Rechtslage
einfach abwickeln lässt. Der Anwalt wiederholt deshalb immer wieder ein
zivilrechtliches Argument, das so ähnlich auch für viele US-amerikanische
Sammelklagen aus den 1990er Jahren wesentlich war: Die Verschleppten haben
selbst für ihre Deportation bezahlt, die Reichsbahn habe dadurch Profit
gemacht, die Deutsche Bahn hat das Vermögen übernommen.
Der Verein „Zug der Erinnerung“, der seit 2007 die Deportationen von
Kindern während des Nationalsozialismus aufarbeitet, schreibt, dass die
Reichsbahn so umgerechnet 445 Millionen Euro verdiente. Ob diese Zahl
stimmt, ist fragwürdig. Für Klingner steht aber fest: Die Deutsche Bahn hat
Geld eingenommen, das ihr nicht zusteht. Und das fordert er zurück – im
Notfall auch mit einer Klage.
Historiker Goschler erklärt, das Ziel einer solchen Argumentation sei in
der Regel kein gerichtliches Urteil, sondern ein Vergleich. Unternehmen
würden deshalb zahlen, weil ihnen ansonsten ein hoher Imageschaden drohe.
Muller hätte dafür eine starke Story, sagt der Historiker: „Das
Super-Zeichen des rollenden Zuges, das durch Filme wie ‚Schindlers Liste‘
bekannt ist, das Detail der Fahrkarten – das wirkt natürlich.“
Der Preis dafür sei allerdings, dass sich Forderungen von NS-Opfern eben
dieser rechtlichen Logik und dieser medialen Skandalisierung anpassen
müssten. Dabei sei die Frage nach dem Profit irreführend, Goschler spricht
sogar von Unsinn: „Was, wenn die Deutsche Bahn am Ende gar nicht profitiert
hat und anfängt vorzurechnen, wie viele Kohlen sie für die Deportationen
verheizt haben?“ Am Ende sei das für die Erinnerungskultur eine Sackgasse.
## Die Bahn hat mitgemacht
Stattdessen müsse es eine Debatte über Teilverantwortung geben. Das
Unternehmen habe Tausende Menschen wissentlich in Viehwagen in den Tod
transportiert und niemand habe versucht, das zu stoppen. Das sei der
wichtige Punkt: „Die Bahn hat eine Rolle im arbeitsteiligen Prozess der
Massenermordung eingenommen. Und das muss sie genauso einsehen: Sie hat
einen Beitrag zum Holocaust geleistet“, so Goschler.
Auch Klingner fordert, dass die Bahn moralische Verantwortung für die 7.000
niederländischen Opfer und Hinterbliebenen übernimmt. Er sagt, das gehöre
auch zur Prävention, zu einem „Nie wieder“. Gerade in Zeiten, in denen die
AfD in Parlamente gewählt wird und die Anzahl an antisemitischen Straftaten
steigt. Deshalb versuche er öffentlich Druck aufzubauen, Verbündete in der
Politik zu finden.
Einer von ihnen ist Otto Fricke, Bundestagsabgeordneter der FDP. Er sehe
keine rechtlichen Ansprüche, die Muller an die Bahn stellen kann, sagt er.
Ethisch jedoch müsse man bedenken, dass viele Opfergruppen eben
unterschiedliche Hilfe bekommen. Auf taz-Anfrage schreibt er: „Ich
unterstütze daher das Ansinnen, den direkt Betroffenen besondere Hilfen
zukommen zulassen.“
Öffentlich haben sich in den vergangenen Jahren noch andere Politiker für
Muller stark gemacht. [4][2021 warf der Linke-Fraktionschef Dietmar
Bartsch] der Bundesregierung und der Deutschen Bahn vor, sich mit
gegenseitigen Zuweisungen aus der Verantwortung zu ziehen. Das sei
beschämend, sagte er gegenüber dem RND. Und der Grünen-Politiker Konstantin
von Notz forderte, sich ernsthaft mit Mullers Forderungen
auseinandersetzen.
## Ein kleines Pflaster über der Wunde
So sieht es auch der Historiker Goschler. Er weist darauf hin, dass nach
wie vor viele NS-Opfer noch keine finanziellen Entschädigungen erhalten
haben, zahlreiche nationalistische Gewalttaten werden wohl immer im Dunkeln
bleiben. Deshalb sei es zu früh, Entschädigung nur als eine Form der
Erinnerungskultur zu verstehen – wie es die Bahn tut mit Ausstellungen,
Bildungsprogrammen und symbolischen Erklärungen.
Aber was könnte da nach einer so langen Zeit eine angemessene Entschädigung
sein? Oder anders gefragt: Wie kann die Bahn tatsächlich moralische
Verantwortung übernehmen? Egal was die Bahn tut, egal wie viel Geld sie
zahlt, am Ende könne das ohnehin nur eine symbolische Geste sein.
Denn: „Es ist absurd zu behaupten, irgendwas ließe sich mit Zahlungen
heilen. Es ist nun mal unmöglich, die Geschehnisse rückgängig zu machen“,
gibt Goschler zu bedenken. Aber wenn die Bahn es ernst meint damit,
Verantwortung übernehmen zu wollen, wenn sie es ernst meint damit, den
Schmerz der Hinterbliebenen anzuerkennen, dann müsse sie zahlen. „Denn wenn
die Bahn glaubwürdig sein will, dann muss die Geste ihr wehtun“, so
Goschler.
Muller sieht es genauso. „In den Niederlanden war man bereit, ein kleines
Pflaster auf die Wunde zu kleben“, sagt er auf der Bühne in Hamburg. Die
Deutsche Bahn sei das hoffentlich auch. Am Ende der Veranstaltung klatschen
alle im Saal für den Holocaust-Überlebenden. Er steht auf, steht still und
hebt die Hand zum Dank. Entschlossen sieht er aus. Salo Muller hat es
selbst gesagt: Wenn jemand „vielleicht“ sagt, dann hört er „Ja“.
27 Feb 2024
## LINKS
[1] https://www.auschwitz-komitee.de/7654/gegen-das-vergessen-salo-muller-nur-w…
[2] https://www.sueddeutsche.de/panorama/holocaust-entschaedigung-bahn-holland-…
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeines_Kriegsfolgengesetz
[4] https://www.rnd.de/politik/bahn-soll-holocaust-opfer-entschadigen-linke-gru…
## AUTOREN
Anna Lindemann
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