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# taz.de -- So tickt Chinas Machthaber: „Xi ist durch und durch Leninist“
> Xi Jinping hat die Volkrepublik umgekrempelt. Seine Ideologie hat mit dem
> Historiker Steve Tsang erstmals ein unabhängiger Wissenschaftler
> analysiert
Bild: Chinas Staats- und Parteichef am Freitag beim Nationalen Volkskongress: X…
taz: Herr Tsang, Xi Jinping ist einer der mächtigsten Politiker weltweit,
aber erst jetzt – über zehn Jahre nach seinem Amtsantritt als
Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas – gibt es eine
unabhängige Buchpublikation über seine politische Ideologie. Warum?
Steve Tsang: Um die Gedankenlehre Xis zu verstehen, muss man schließlich
sämtliche seiner Reden und Schriften durchforsten – das ist quälend
langweilig und herausfordernd. Aber es ist auch wichtig, und deshalb haben
wir es getan.
Selbst innerhalb Chinas gibt es trotz unzähliger Forschungsinstitute kaum
einen Experten, der Xis Lehre verständlich auf den Punkt bringen kann. Das
erinnert bisweilen an die nordkoreanische Propaganda des Kim-Regimes: Diese
ist über weite Strecken dazu gedacht, möglichst diffus zu sein – damit sie
eben nicht konkret überprüfbar ist.
In Xis Fall ist dies nicht so – im Gegenteil. Er will, dass man sich mit
seiner Lehre auseinandersetzt und sie annimmt. Das Problem der unzähligen
Institute und Forschungszentren in China ist, dass sie alle politisch
korrekt sein müssen. Ihre Veröffentlichungen sind geradezu hagiografische
Studien Xis. Unser Buch hingegen versucht in klaren Worten
herauszuarbeiten, was die Bedeutung und die Implikationen von Xis
Gedankenlehre tatsächlich sind – mit all ihren Widersprüchen und Problemen.
Wir haben uns keine Gedanken gemacht, ob es Xi gefallen würde oder nicht.
In China könnte sich dies kein Forscher erlauben.
Welche biografischen Ereignisse haben Xis politische Bildung geprägt?
Der Kollaps der Sowjetunion und der Niedergang des Kommunismus in Osteuropa
waren Ereignisse, die sehr großen Einfluss auf seine Denkweise hatten. Das
Erste, was Xi nach seinem Amtsantritt 2012 sagte, war: Die große Tragödie
der heroischen KPdSU sei es gewesen, dass – als Michail Gorbatschow die
Ränge der Partei aufstieg – niemand der Kader Manns genug war, gegen den
Verräter vorzugehen und ihn zu verhaften. In seiner Amtszeit würde Xi das
nicht passieren.
Das ist aber nur eine Dimension. Was am stärksten aus seiner Gedankenlehre
hervorgeht, ist das schiere Ausmaß seiner Ambition. Er versucht in
niemandes Fußstapfen zu treten, sondern möchte ein wahrlich transformativer
Führer sein, der China gemäß Marx zum gelobten Land führt. Seine Idee,
China wieder groß zu machen, der Traum der „chinesischen Verjüngung“, geht
weit über das hinaus, was sich Staatsgründer Mao Zedong in seinen wildesten
Träumen ausgemalt hat.
Was meinen Sie damit?
Mao sprach auf dem Höhepunkt seiner Macht während des „Großen Sprungs nach
vorn“ davon, dass China das Vereinigte Königreich übertreffen und dann
versuchen würde, mit den USA gleichzuziehen. Xi geht es nicht um die USA.
Er will Chinas Vormacht in der Welt erlangen und es zu seiner wahren Größe
führen.
Verlangt er dafür die totalitäre Teilnahme aller Bürger? Oder kann man
unter ihm in China noch passiven Widerstand leisten?
China ist ein Riesenland mit 1,4 Milliarden Menschen. Selbst mit fast 100
Millionen Mitgliedern der Kommunistischen Partei und all den digitalen
Technologien, die sie zur Verfügung hat, ist es ein schwieriges
Unterfangen, alle auf Linie zu bringen. Es ist vor allem eine Frage, wie
lange Xi noch an der Macht bleiben wird. Je länger er an der Macht bleibt,
desto eher wird er sein Ziel erreichen können. Diejenigen, die sich nicht
an seine Lehre anpassen, werden entweder im Gefängnis landen oder China
verlassen. Aber davon sind wir noch entfernt.
Jahrzehntelang beruhte in China der Gesellschaftsvertrag darauf, dass die
Bevölkerung im Gegenzug für wirtschaftliche Entwicklung ihre politischen
Rechte an die Partei abtritt. Xi hat diesen Vertrag nun umgeschrieben.
Aus seiner Sicht hat er ihn verbessert. Es geht nicht mehr nur um hohe
Wachstumsraten, sondern auch darum, dass die Menschen stolz darauf sind,
Chinesen zu sein. Und es geht darum, der Wirtschaft eine innovative
Technologiebasis zu geben und die Kluft zwischen Superreichen und
Superarmen zu verringern. Aber hier müssen wir sehr genau hinschauen: Xi
versucht nicht wirklich, soziale Gerechtigkeit im marxistischen Sinn zu
schaffen.
Tatsächlich spricht Xi sehr offen aus, dass er einen Wohlfahrtsstaat nach
europäischem Vorbild ablehnt, weil dieser die Arbeiter „faul“ machen würd…
Warum diese Ablehnung?
Xi ist nur dem Namen nach Marxist, in Wirklichkeit ist er durch und durch
Leninist. Ein Marxist konzentriert sich in erster Linie auf soziale
Gerechtigkeit und auf Umverteilung. Einem Leninisten geht es vorrangig um
Kontrolle. Daran ist Xi am meisten interessiert. Er interessiert sich nicht
für das Wohlergehen des einzelnen Individuums, sondern für das Wohl des
Volkes als Ganzes, das von der Kommunistischen Partei vertreten wird.
Welche Rolle sollen Privatunternehmen in Xis Welt spielen?
Er ist nicht per se gegen Privatunternehmen, solange sie patriotisch sind –
also mit den chinesischen Traditionen, wie Xi sie definiert, übereinstimmen
und der Kommunistischen Partei und ihrem obersten Führer gegenüber absolut
loyal sind. Private Unternehmen, die all diese Kriterien erfüllen, sind
also in Ordnung – das sieht man etwa bei Huawei. Doch vor die Wahl gestellt
zwischen Privat- und Staatsunternehmen zieht Xi stets Letztere als Stütze
von Chinas Wirtschaft vor.
Sie argumentieren, Xi betrachte auch seine Außenpolitik vor allem unter dem
Aspekt, ob sie der Kommunistischen Partei nützt. Möchte er die westlich
dominierte Weltordnung stürzen?
Da müssen wir klar unterscheiden: China möchte nicht die USA als globalen
Hegemon ersetzen. Xi bemüht sich aber, die liberale internationale Ordnung
umzugestalten – in eine sinozentrische Weltordnung, in der China die
herausragende Weltmacht darstellt. Wenn die USA dies akzeptieren, dann wird
Chinas Regierung kein Problem mit ihnen haben. Aber wenn sie sich weigern,
sich Chinas Vormachtstellung zu beugen, ist das eine andere Sache. Ob China
diese Ambition erreichen kann, ist aber ein großes Fragezeichen.
Der Erfolg der KP beruhte seit der wirtschaftlichen Öffnung stets darauf,
dass sie auf lokaler Ebene sehr pragmatisch war und sich immer wieder neu
erfunden hat. Unter Xi ist die Partei eine andere geworden. Gefährdet er
die Stabilität des Systems?
Kurz- bis mittelfristig stärkt Xi die Regierungsfähigkeit der KP.
Längerfristig jedoch wird er die Nachhaltigkeit des Systems schwächen. Hier
kommen wir zu einem weiteren wichtigen Teil seiner Änderungen: dass er
nämlich die kollektive Führung an der KP-Spitze durch die Herrschaft eines
einzigen Mannes ersetzt hat. Vom Tiananmen-Massaker 1989 bis hin zu Xis
Amtsantritt 2012 hat die Partei keinen einzigen politischen Fehler gemacht,
der ihre Existenz grundsätzlich gefährden würde. Das lag vor allem daran,
dass die kollektive Führung es den Politikern erlaubte, hinter
verschlossenen Türen robuste und offene politische Diskussionen zu führen.
Seit Xi aber die Führungsspitze in eine Echokammer verwandelt hat, sehen
wir erhebliche politische Fehler – von den „Null Covid“-Maßnahmen über …
Hongkong-Politik bis zum Sturz führender IT-Firmen.
Als absoluter Kontrollfreak scheint es nur logisch, dass Xi nicht bis an
sein Lebensende regieren, sondern eine Nachfolge in seinem Sinne sichern
will. Wird ihm das gelingen?
Xi hat noch nie darüber geredet oder überhaupt zugelassen, dass seine
Nachfolge institutionalisiert wird. Was so bemerkenswert an seiner
Gedankenlehre ist: Sie reicht stets bis 2049, dem 100-jährigen Bestehen der
Volksrepublik China. Er hat sich aber nicht dazu geäußert, was danach
geschehen soll. Jetzt ist Xi 70 Jahre alt, 2049 wird er 95 sein. Ob er
dieses Alter erreicht, weiß ich nicht. Aber es gibt keine Anzeichen, dass
er sich mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzt.
10 Mar 2024
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
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