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# taz.de -- Regisseurin über Belarus: „Das Regime kann sie nicht brechen“
> In Belarus sind nicht erst seit 2020 Tausende in Haft, darunter viele
> Frauen. Ein Film und Buch von Cordelia Dvorák stellen einige von ihnen
> vor.
Bild: Die belarussische Oppositionsaktivistin Maria Kolesnikowa erscheint in Ha…
taz: Frau Dvorák, mehr als drei Jahre arbeiten Sie an einem
Kino-Dokumentarfilm über sechs Schlüsselfiguren der Frauen-Revolution in
Belarus. Seit Kurzem liegt ein von Ihnen herausgegebenes Buch mit
Zeugnissen von Frauen aus der Haft in Belarus vor. Wie sind Sie überhaupt
auf Belarus gekommen?
Cordelia Dvorák: Bis 2020 ging mein Blick in alle möglichen Richtungen, nur
nicht nach Osten. Aber die Ereignisse dieser ganz besonderen Revolution in
Belarus und die Repressionen, die dem folgten, haben mich so erschüttert,
dass ich angefangen habe zu recherchieren. Dann überstürzten sich die
Ereignisse, alles wurde immer dringlicher und ich konnte gar nicht mehr den
Rückwärtsgang einlegen. Ich habe lange in Lateinamerika gelebt und mich mit
der weiblichen Aufarbeitung des Erbes der dortigen Diktaturen beschäftigt.
Grundsätzlich interessieren mich [1][weibliche Formen des Widerstandes und
Gedächtnisses]. Dem wollte ich mich auch in Belarus nähern und war dann
ganz schnell mitten drin.
Die Proteste in Zuge der gefälschten Präsidentenwahl am 9. August 2020
werden auch als „feministische Revolution“ bezeichnet. Passt diese
Charakterisierung für Sie?
Wir im Westen halten unsere Maßstäbe, auch was Feminismus betrifft, für die
einzig gültige Messlatte. Im Fall von Belarus ist das jedoch nicht so
eindeutig. Ja, der Moment des politischen Erwachens ist maßgeblich über die
Frauen passiert. Dennoch bin ich gegen dieses pauschale Label einer
feministischen Revolution. Das wird der dortigen Komplexität nicht gerecht
und läuft sehr schnell auf eine Abwertung hinaus.
## Ständige Unwägbarkeiten
Wie gestalteten sich die Recherchen? Was war besonders schwierig?
Erste Netze habe ich über das Goethe-Institut in Minsk ausgeworfen, bin
dann aber schnell mit Belaruss*innen im Exil in Kontakt gekommen. Ganz
wichtig war auch das von deutschen Osteuropa-Leuten initiierte
[2][Solidaritäts-Projekt „Stimmen aus Belarus“]. Da wurden seit Sommer 2020
wöchentlich Stimmen gepostet, die nicht in den Medien auftauchten. Mir war
schnell klar, dass ich für meine Drehs wohl nicht nach Belarus würde reisen
können, sondern mit einem Team von vor Ort würde arbeiten müssen. Als ich
dann für erste Interviews nach Litauen, Lettland und Warschau fahren
wollte, kamen Corona und der Lockdown dazu. Für Mai 2021 war alles für die
ersten Drehs organisiert. Dummerweise war das die Woche, in der Alexander
Lukaschenko [3][ein Flugzeug mit dem Oppositionellen Raman Pratassewitsch
an Bord zur Landung zwingen ließ]. In dieser angespannten Stimmung sind wir
gestartet. Unwägbarkeiten begleiten uns bis heute.
Parallel zu dem Filmprojekt ist die Idee für ein Buch entstanden. Wie
passierte das?
Diese Idee hat sich mir quasi aufgedrängt. Bei meinen Recherchen für den
Film bin ich in sozialen Medien immer wieder auf kurze, [4][eindrückliche
Nachrichten von politischen Gefangenen gestoßen]. Ich war erschüttert, mit
welch unglaublicher Haltung die Menschen die Haft durchstehen. Irgendwann
dachte ich, das muss an die Öffentlichkeit. Zumindest das können wir tun.
Und ich wollte mehr über das Leben in der Haft erfahren. Das hat dann
angesichts der Dramatik der Repressionen eine solche Fahrt aufgenommen,
dass es von der Idee bis zur Drucklegung des Buches nur anderthalb Jahre
gedauert hat.
## Anfangs viele Neins
In dem Buch kommen acht Protagonist*innen zu Wort. Wie haben Sie diese
Frauen ausgesucht?
Das war ein sehr komplizierter Prozess. Der Grundstock war ein [5][ganzes
Konvolut an Briefen von Maryja Kalesnikawa] (belarussische
Bürgerrechtlerin, mit Swjatlana Zichnouskaja und Weranika Zepkala bildete
sie vor der Präsidentschaftswahl ein Trio von Frauen gegen den regierenden
Alexander Lukaschenko, Anm. d. Red.), das ich von ihrer Schwester für
meinen Film bekommen hatte. Bei allen anderen Protagonist*innen haben
wir über heimliche, sichere Kanäle und mit Unterstützung der belarussischen
[6][Menschenrechtsorganisation Vjasna] die Angehörigen und Anwälte vieler
Inhaftierten kontaktiert. Auf einen entsprechenden open call im Januar 2023
kam erst mal sehr wenig und dann gab es viele Neins. Zu gefährlich, man
komme nicht mehr an die Briefe heran oder sei selbst im Exil, hieß es. Das
war nicht gerade ermutigend. Schließlich ist der Rechercheur und
Regie-Assistent meines Filmprojekts, Wanja Müller, mit eingestiegen und hat
entscheidendes Extramaterial besorgen können.
Die Frauen werden über ihre Briefe, manche auch noch anhand ihrer letzten
Worte vor Gericht vorgestellt …
In einigen Fällen zeigte sich, dass die Briefe allein nicht ausreichten, um
die Frauen zu verstehen und sich ein Bild von ihnen machen zu können.
Deshalb mussten wir mehr Kontext schaffen, um zu zeigen, wie die Frauen aus
sehr unterschiedlichen Gründen zu ihrer politischen Aktivität gekommen
sind. Manchmal haben wir Interviews gefunden, kurz vor ihrer Festnahme.
Drei Frauen aus dem Buch sind bereits aus der Haft entlassen. Sie habe ich
gebeten, ein Postscriptum über die erste Zeit danach zu verfassen. Wie
kehrt man ins Leben zurück, wonach sehnt man sich als Erstes, nachdem man
das Gefängnis verlassen hat?
Welches Phänomen hat Sie in diesem Zusammenhang besonders beschäftigt?
Dieser „point of no return“ oder anders gesagt die Frage: Wann ist der
Moment, an dem jemand beschließt: Jetzt gibt es nichts mehr zu verlieren
und ich gehe meinen Weg bis zu Ende weiter. Wo hört die Angst auf, ab wann
macht man keine Konzessionen mehr? Diese existenzielle Klippe hat mich
total beschäftigt.
## Nicht gebrochen
Was haben Sie als wichtigste Botschaft persönlich für sich mitgenommen?
Die Unerschütterlichkeit, der wahnsinnige Mut, die Würde der Betroffenen,
gleichzeitig aber auch ihr Humor. Und dass die Inhaftierten in dieser
Haltung irgendwie unantastbar werden. Das Regime schafft es nicht sie zu
brechen. Und die, die aus der Haft entlassen worden sind, sagen: Wir würden
es wieder genauso so machen.
Haben Sie aktuell noch Kontakt zu den Protagonist*innen?
Ich versuche bewusst Kontakt zu halten, auch zu den Angehörigen derer, die
noch in Haft sind. Es ist wichtig, dass sie wissen, dass wir sie im
Bewusstsein haben. Zwei der drei Frauen, die freigelassen wurden, werde ich
im März in der Schweiz treffen. Ich freue ich mich sehr auf den direkten
Austausch.
Ab Sommer 2020 war die internationale Aufmerksamkeit für Belarus einige
Monate lang groß. Heute laufen das Land und was dort passiert eher wieder
unter dem Radar öffentlicher Aufmerksamkeit …..
Das ist leider so in unserer Medienwelt. Belarus ist total überlagert
worden durch den Krieg in der Ukraine und der wiederum durch Israel und
Gaza. Trotzdem sind viele Dinge ins Bewusstsein gedrungen, doch es braucht
Zeit und Geduld, damit sich das konsolidiert und die Menschen aus Interesse
an den Entwicklungen dran bleiben. Dazu versuche ich durch meine Arbeit
beizutragen.
Ihr Film ist noch nicht fertig. Woran liegt das?
Filmförderungen in Litauen und Norwegen waren als Ko-Produzenten
vorgesehen. Durch den Krieg in der Ukraine wanderten dort die Etats von der
Kultur dann mal eben zur Verteidigung und bei internationalen
Ko-Produktionen wurde massiv gekürzt. Wir haben viel Zeit verloren und
suchen jetzt nochmals nach neuen Partner*innen. Das ist sehr mühsam und
kostet viel Kraft. Aber darin liegt auch eine Chance. Wir wissen ja nicht,
was aus dieser Revolution noch werden wird und mich interessiert sowieso
eine Langzeitbeobachtung der Akteur*innen. Wie geht es weiter mit ihnen –
im Exil, in der Haft oder im Hausarrest?
Vielleicht eine letzte Frage: Warum sollen sich Menschen im Westen
überhaupt mit Belarus beschäftigen?
Es geht ja nicht nur um Belarus, vielmehr ist das ein Topos: Ein kleines
unbekanntes Land, das es plötzlich in die Weltöffentlichkeit schafft und
einen unglaublichen Schritt in Richtung einer Politisierung und
Nationenbildung macht und das auch noch im Zeitraffer. Diesen Schritt, und
auch den Mut, den es dafür bedarf, weiterzuverfolgen scheint mir sehr
spannend, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Frauenperspektive. Auch
wenn die Proteste im Moment nicht mehr sichtbar sind – das Bewusstsein und
die Haltung, das setzt sich fort. An den Zeugnissen, die wir zusammen
getragen haben, sieht man sehr deutlich, dass es weiter geht. Und daraus
wird irgendwann ein anderes Belarus entstehen.
24 Feb 2024
## LINKS
[1] /Proteste-in-Belarus--ein-Jahr-danach/!5793821
[2] https://www.youtube.com/watch?v=vWFVOoZCmXs&list=PLSGzDWIy26UnwCuTGp8iW…
[3] /Festgenommener-Blogger-in-Belarus/!5774183
[4] /Inhaftiert-in-Belarus/!5758672
[5] /Opposition-in-Belarus/!5799224
[6] https://spring96.org/en
## AUTOREN
Barbara Oertel
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