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# taz.de -- Berliner Songwriterin Dota: Schweben über der Zeit
> Dota geht mit Vertonungen von Mascha-Kaléko-Gedichten auf Tournee.
> Porträt einer Künstlerin, die von einem „im Sturm verwüsteten
> Jahrhundert“ singt.
Bild: Einst und jetzt: Mascha Kaléko und Dota
Sie wirkt zurückgenommen, konzentriert und ernsthaft. Mit Glitzerstaub im
Gesicht steht Dota Kehr auf der Bühne. Schon seit Monaten trägt die
44-jährige gebürtige Berliner Sängerin in mittelgroßen, fast immer
ausverkauften Konzertsälen im deutschsprachigen Raum Vertonungen der
Gedichte von Mascha Kaléko vor. Kaléko war eine der bekanntesten jüdischen
Dichterinnen im Berlin der späten 1920er und frühen 1930er Jahre. [1][1938
musste sie mit ihrem Mann und Sohn vor den Nazis in die USA] emigrieren.
Der Zauber von Dotas Musik lebt auch von Kalékos schnörkelloser Poesie und
den eigenwilligen Interpretationen der zeitgenössischen Künstlerin. Immer
wieder entfalten die Texte in Songform überraschende Aktualität, zum
Beispiel wenn Kaléko in dem Gedicht „Zeitgemäße Ansprache“ darüber
verzweifelt, dass sie [2][im Exil, auf der anderen Seite des Atlantiks
trotz Holocaust und Zweitem Weltkrieg] einen Alltag leben, sich sogar an
Banalitäten erfreuen kann.
Dota hat dieses Gedicht auch zu ihrem eigenen Lied gemacht, wenn sie singt:
„Klopft nicht der Schrecken an die Fenster / Rast nicht der Wahnsinn durch
die Welt / Siehst du nicht stündlich die Gespenster / Vom blutigroten
Trümmerfeld“. Und mit Mascha Kalékos Worten drängt sich ungefragt die
Nachrichtenlage, drängen etwa Bilder des von den Ukrainern verlustreich
gegen den russischen Angriffskrieg verteidigten und letztlich verlorenen
Ort Awdijiwka in den Konzertsaal.
Abgesehen von wenigen Ausnahmen, Gedichten wie „Großstadtliebe“ zum
Beispiel, bei dem Kaléko beschreibt, wie man vor hundert Jahren eine
Liebesaffäre per Briefpost beendete, sind ihre Gedichte fast schon
erschreckend gut gealtert. Aber nicht nur die Gedichte wirken zeitlos, auch
Dotas Vertonung schwebt in der Zeit. Der Transfer dieser Kunst in die
Gegenwart ist so gut gelungen, dass für die Dauer des Konzerts in der
Schwebe bleibt, ob es an diesem Abend darum geht einer Künstlerin in ihre
Zeit zu folgen – oder nicht eher darum, deren Botschaft – auch als Mahnung
– auf die Gegenwart zu beziehen.
## Anklänge an Gerhard Schöne und Bettina Wegner
Ihr Debütalbum hat Dota Kehr unter dem Namen Dota und die Stadtpiraten
bereits 2003 veröffentlicht. Seither schiebt sie alle ein, zwei Jahre ein
neues Werk hinterher. Zwischen den Veröffentlichungen spielt sie mit ihrer
Band, die mittlerweile heißt wie sie, Konzerte. Die Musik zu ihren eigenen
Texten ist jazzig, inspiriert von brasilianischer Bossa nova, aber auch
gekennzeichnet von Folkgitarrenatmosphäre mit Anklängen an Gerhard Schöne
und Bettina Wegner.
Auch wenn sie bisweilen an Liedermachertraditionen anknüpft, nur auf ein
Genre festlegen lässt sich Dota nicht, auch weil ihre Musik von Album zu
Album weiterentwickelt und verändert klingt. Mal dominieren poppige, mal
Indie-Einflüsse. Einen Plattenvertrag mit einem Major Label die Künstlerin
bis jetzt ausgeschlagen, ihre Alben produziert sie bis heute in Eigenregie.
Sie sagt, dass sie ihre künstlerische Unabhängigkeit schätze.
Dota war Schülerin in Christof Stählins Sago-Akademie für Musik und
Poesie. Abgesehen davon hat sie sich das Songwriting-Handwerk selber
beigebracht. Trotz harter Arbeit war sie sich ihres Erfolges nie sicher und
schloss neben der Musikkarriere ein Medizinstudium ab, um notfalls ihren
Lebensunterhalt als Ärztin zu verdienen.
Den Plan B brauchte sie bisher nicht. In der Zwangspause der Coronazeit ist
Dotas Laufbahn als Musikerin durch die Vertonungen von Kalékos Gedichten
auf einem Höhepunkt angekommen. Ohne Plattenfirma, ohne Agentur, ohne
Fernsehauftritte und Marketing, mit nur minimaler Social-Media-Präsenz hat
sich Dota Kehr eine Fangemeinde aufgebaut. Die Zeiten, in denen sie in
Jugendzentren vor 50 bis 100 Leuten spielte, sind vorbei. Ihr Publikum ist
gemischt, es sind viele Gleichaltrige, aber auch ganz Junge und ein paar
ganz Alte dabei, Theater-Abonnement-Klientel genauso wie
Klimaaktivistinnen, aber auch eine Gruppe angetrunkener junger Männer ist
unter ihnen.
## Das Gefühl der Ohnmacht angesichts des Klimawandels
Dotas eigene Songtexte beschreiben zum einen präzise und manchmal witzig
zwischenmenschliche Begegnungen und Beziehungen. In anderen geht es um
Flüchtlingspolitik und Rassismus oder um das Gefühl der Ohnmacht angesichts
des Klimawandels. Selbst schwere Themen bekommen bei Dota etwas
Leichtfüßiges, aus der Hüfte Geschossenes – als würde all das Schwere dur…
die Melodien leichter, irgendwie erträglicher werden.
Die Songs stecken voller Poesie, auch wenn nicht jedes Sprachbild sitzt.
Dota hat einen enormen Output, bei dem zwischen vielen Perlen auch mal eine
Niete landet. Auch wenn ihr Song „Rennrad“ eine Weile Powerplay-Status im
Radio hatte, eher findet sie Erwähnung in den Kulturprogrammen. Am besten
ist sie eh live. Sie hat Spaß auf der Bühne, vielleicht auch deshalb, weil
sie immer ihr eigenes Ding gemacht, alle Klippen der Musikindustrie
umschifft hat.
Während man zusehen musste, wie großartige Künstlerinnen vom Schlage einer
Judith Holofernes sich an den Erwartungen, die speziell an weibliche
Popstars gestellt werden, abarbeiteten, blieb Dota immer auf Abstand zum
Musikbusiness, blieb immer nur sie selbst. So hat sich Dota die Freiheit
bewahrt, zu machen, was sie will: Duette mit Kollegen wie Hannes Wader,
Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow und Sarah Lesch oder ein Duoprojekt mit
Alin Coen. Für Fridays for Future komponierte sie das Lied „Keine Zeit“.
Nun ist im vergangenen Sommer schon das zweite Album mit Vertonungen von
Mascha-Kaléko-Gedichten erschienen. Weil sie Lust darauf hatte und weil sie
die Klarheit und Reduziertheit von Kalékos Poesie bewundere. Dota erzählt
gerne, dass es ein Fan war, der ihr vor Jahren einen ersten Gedichtband der
jüdischen Autorin schenkte.
## Die Nachlassverwalterin Kalékos
Die Erlaubnis für die Vertonung der Songs musste Dota bei Gisela
Zoch-Westphal einholen, der Anfang des Jahres verstorbenen
Nachlassverwalterin Kalékos. Es war erst deren Arbeit, der Kaléko auch den
Nachruhm der vergangenen Jahre zu verdanken hatte. Sie habe nie mit ihr
direkt gesprochen, sagt Dota. Und schiebt hinterher, dass sie zu gerne
wüsste, was Mascha Kaléko zu ihren Vertonungen sagen würde.
Das bleibt Spekulation. Aber in den Sternenmomenten des Abends meint man
dabei zu sein, wenn zwei Künstlerinnen einander in Wort und Musik begegnen,
die biografisch fast ein ganzes Jahrhundert trennt. Die sich nie gesehen
haben. Als sei das notwendig.
Anders als bei Dotas vorherigen Tourneen sind die Konzerte zu „Der fernsten
der Fernen“ bestuhlt. Zusammen mit Dota und unter ihrer Führung erweist das
Publikum fast drei Stunden lang Mascha Kaléko dadurch seine Ehre. Gerade
auch im Kontrast zu ihren üblichen Konzerten, bei denen eher zur Musik
getanzt wird und Dota auf der Bühne Anekdoten erzählt oder Witze macht,
entfaltet ihr Vortrag von Kalékos Gedichten eine große Würde.
Während des Abends führt sie in den Anmoderationen chronologisch und mit
zurückhaltendem Respekt durch Mascha Kalékos Leben und Geschichte.
Angesichts der Ereignisse der letzten Monate, der durch [3][die
Correctiv-Recherche] bekannt gewordenen Vertreibungspläne, des wachsenden
Rechtsextremismus wecken die Texte beunruhigende Analogien.
## Duett mit Dirk von Lowtzow
Man meint es zu fühlen, wenn Dota (auf dem Album [4][im Duett mit Dirk von
Lowtzow]) in Mascha Kalékos Worten von einem „vom Sturm verwüsteten
Jahrhundert“ singt. Ein Jahrhundert, das man sich anders wünschen würde und
mit dem man doch vorlieb nehmen muss, wie es momentan ist.
Denn: „Wir haben keine andere Zeit als diese.“ Was diese Gegenwart für uns
bedeutet, darüber wird Dota vermutlich in ihrem nächsten Album singen. Dann
aber, das hat sie schon angekündigt, wieder in ihren eigenen Worten.
26 Feb 2024
## LINKS
[1] /Mascha-Kaleko-und-New-York/!5970942
[2] /Buch-ueber-Frauen-und-Naziherrschaft/!5373587
[3] /Szenische-Lesung-von-Correctiv/!5983328
[4] /Neues-Album-der-Band-Tocotronic/!5827238
## AUTOREN
Anke Lübbert
## TAGS
Musik
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