# taz.de -- Konzert von Dota in Berlin: Die dunklen Augen der Melancholie | |
> Die Lyrik von Mascha Kaléko ist wieder lebendig. Dank der Liedvertonungen | |
> von Dota Kehr. Eindrücke von einem Konzert der Künstlerin am Berliner | |
> HAU. | |
Bild: Liedermacherin Dota Kehr in ihrem Studio | |
Im September 1974 liest die Schriftstellerin Mascha Kaléko das letzte Mal | |
aus ihren Gedichten. In der Amerika-Gedenk-Bibliothek in Berlin-Kreuzberg. | |
Ein knappes halbes Jahr später, am 21. Januar 1975, kehrt sie der Welt für | |
immer den Rücken. | |
Da ist sie 66 Jahre jung. Anlässlich ihres 50. Todestages gibt die Berliner | |
Band DOTA am Mittwochabend im Hebbel am Ufer – wenige hundert Meter | |
Luftlinie vom Bibliotheksgebäude entfernt – ein Konzert zu Kalékos Ehren | |
und präsentiert Songs aus zwei Alben, die DOTA-Vertonungen von | |
Mascha-Kaleko-Lyrik bündeln. | |
[1][Sängerin Dota Kehr, Ende der 70er Jahre in Westberlin geboren, rühmt | |
die Präzision von Kalékos Gedichten]: „Sie schafft es, mit extrem wenigen | |
Worten Bilder zu erschaffen.“ Kehr rezitiert immer mal wieder (noch nicht | |
vertonte) Verse. Am Mittwoch im HAU entsteht dann ein Moment von | |
fokussierter Stille, in der sich Kalékos nüchterne Melancholie ausbreitet. | |
[2][Mascha Kaléko gelang es 1938 gerade noch, vor den Nazis in die USA zu | |
fliehen.] | |
## Sentimentale Lobeshymne | |
Als Dota Kehr Kalékos poetische Liebeserklärung an Paris, entstanden | |
während ihres ersten Europaaufenthaltes nach dem Zweiten Weltkrieg, mit | |
Empathie vorträgt, findet vereinzeltes Schmunzeln den Weg in die Stille. | |
Ist es doch eine fast schon sentimentale Lobeshymne auf die französische | |
Hauptstadt. | |
Kein Wunder, ist es doch für Mascha Kaléko ein Wiedersehen mit Europa als | |
Überlebende des Holocausts. Nach der Flucht aus NS-Deutschland schreibt sie | |
in den USA für Exilmedien, wie die New Yorker Zeitschrift Aufbau, das | |
wichtige Forum der deutschsprachigen jüdischen Diaspora. Anknüpfen an ihre | |
Erfolge in der späten Weimarer Republik kann sie dort jedoch nicht. | |
Wird doch Kalékos „Gebrauchslyrik“ vor 1933 in allen wichtigen Berliner | |
Zeitschriften abgedruckt. Der Rowohlt Verlag bringt im Januar 1933, kurz | |
vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, ihren ersten Gedichtband | |
heraus. Da ist sie 26 Jahre alt und lebt seit 15 Jahren in der deutschen | |
Hauptstadt. Mascha Kaléko wird zeit ihres Lebens auf Deutsch schreiben. | |
## Fliegender Klangteppich | |
DOTA bettet Kalékos Lyrik in einen Sound, der sich wie ein fliegender | |
Teppich unter ihre Worte legt. Drums und Keyboard geben sanft, aber | |
bestimmt den Rhythmus vor, die E-Gitarre klinkt sich, wenn nötig, | |
verstärkend ein. Dota Kehr begleitet sich auf der Rhythmusgitarre selbst. | |
Und als „musikalische Gäste“ verstärken Xylofon, Saxofon, Klarinette und | |
Posaune das Set. | |
Gerade die Bläsersektion gibt den eingängigen Rhythmen, die Kalékos | |
Betrachtungen Raum zum Wirken gewähren, einen gewissen Hauch von | |
Melancholie. Er schafft es durch die Hautschichten ins Innere und bleibt. | |
Wenn Dota Kehr Kalékos zeitlos-aktuelle Gedanken zu zwischenmenschlichen | |
Beziehungen Jahrzehnte nach ihrer Entstehung zum Schwingen bringt, dann | |
entsteht ungezwungene Chansonatmosphäre. Kalékos Lyrik mutet an wie genuine | |
Songpoesie, so organisch klingen ihre Texte, wenn Kehr sie mit angenehm | |
unaufgeregtem Sprechgesang performt. | |
Das Lied „Die vielgerühmte Einsamkeit“ besteht aus einer einzigen | |
dialektischen Zeile: „Wie schön ist, es allein zu sein, vorausgesetzt | |
natürlich, man hat einen, dem man sagen kann, wie schön es ist, allein zu | |
sein.“ Jazzig-melancholisch-leicht und wunderbar entschleunigt nähert sich | |
DOTA dieser Mascha-Kaléko-Sentenz. Irgendwann singt der ganze Saal mit und | |
alle haben ihre je eigenen Erfahrungswerte mit diesem | |
Problemfeld-Evergreen. | |
Im Foyer des HAU erstehen danach zahlreiche Menschen ein Vinyl mit | |
Mascha-Kaléko-Konterfei: Dunkler Lockenkopf, nachdenkliche, in die Ferne | |
gerichtete Augen. Eine junge Frau, die ihre Zukunft noch vor sich hat. | |
Heute, fünfzig Jahre nach ihrem Tod, scheint Kaléko wieder nahe neben uns | |
zu stehen. So unverbraucht sind ihre Worte. | |
9 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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