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# taz.de -- Schulforscher über Bildungsgerechtigkeit: „Lehrpläne entrümpel…
> Das Startchancen-Programm für Bildung reicht laut dem früheren Hamburger
> Staatsrat Ulrich Vieluf nicht. Wichtig seien mehr Zeit und andere
> Lehrpläne.
Bild: Die einen melden sich oft, andere sind bereits abgehängt: Kinder in eine…
taz: Herr Vieluf, helfen die 20 Milliarden des Startchancen-Programms des
Bundes, die soziale Ungerechtigkeit unseres Bildungssystems zu bekämpfen?
Ulrich Vieluf: Es kann einen [1][kleinen Beitrag leisten]. Auf den ersten
Blick scheint es [2][viel Geld zu sein]. Aber sehr optimistisch gerechnet
sind es 100 Euro pro geförderten Schüler im Monat. Das wiederum ist wenig.
Gut gemeint, aber am Ende zu wenig, um viel Gutes zu bewirken.
Es verpufft?
Ja. Das Geld muss klug eingesetzt werden. Das ist keine leichte Aufgabe. Es
darf weder Gießkanne noch Verwaltungsmonstrum werden.
Aber das Programm hat das Ziel, Benachteiligung zu bekämpfen.
Das ist nicht neu, das Ziel haben ja viele Programme seit dem Pisa-Schock
vor 20 Jahren verfolgt. Die seither ergriffenen Maßnahmen haben aber
[3][die soziale Schere nicht schließen] können. Ich kenne Schulen, denen
das gelingt. Aber eben nicht in der Fläche.
Was heißt soziale Schere?
Wir stellen Jahr für Jahr fest, dass Kinder aus benachteiligten
Elternhäusern im Durchschnitt geringere Lernstände erreichen als jene aus
bildungsnahen Elternhäusern. Das wäre kein Problem, würden sie nicht
überproportional die Mindeststandards verfehlen. Zu viele junge Menschen
aus benachteiligten Sozialmilieus verlassen die Schule ohne hinreichend
anschlussfähige Kompetenzen.
Sie meinen, sie können keinen Beruf erlernen?
Sie sind oftmals mit den gestiegenen und weiter steigenden Anforderungen
der Berufswelt überfordert. Es gibt immer weniger Arbeitsplätze für An- und
Ungelernte. Und für immer mehr Berufe ist das Abitur Eintrittskarte.
Es gibt Friseur-Azubis, die in der Berufsschule scheitern.
Nicht nur Friseur-Azubis. Der Berufsschulunterricht stellt Anforderungen,
die junge Menschen mit geringeren Bildungsvoraussetzungen oft nicht
erfüllen können. Die müssen Lücken schließen, wofür oft die Zeit fehlt.
Es heißt, Hamburg sei bei Startchancen [4][schon vorbildlich]. Weil es bei
Kita-Kindern den Sprachstand erhebt und vor der Schule gezielt fördert.
Das ist ein wichtiger Schlüssel für Lernerfolg. Die
Entwicklungsunterschiede, die die Kinder bei der Einschulung mitbringen,
sind extrem groß. Wir müssen viel mehr in frühkindliche Bildung
investieren. Da liegt der Grundstein für Teilhabe. Es reicht bei Weitem
nicht aus, was hier passiert.
Aber wieso hört man von 4. Klassen in Hamburg, wo trotz Sprachfrühförderung
die Hälfte der Kinder nicht lesen kann?
Das liegt auch an der Pandemie. Die Kinder hatten über zwei Jahre nur
unregelmäßig Gelegenheit, die Bildungssprache Deutsch zu erwerben. Ihnen
fehlen, wie eine Schülerin es ausdrückte, die Wörter. Diese Kinder haben
Mühe, einen Text zu verstehen, weil ihnen etliche Wörter unbekannt sind.
Das ist eine der schwerwiegendsten Folgen der Coronazeit. Je jünger die
Kinder, desto stärker sind sie betroffen. Das aufzuholen, schafft man nicht
in wenigen Monaten, auch nicht in einem Schuljahr.
Was kann man tun? Die Viertklässler kommen jetzt auf die weiterführenden
Schulen.
Ich wünschte mir, dass man den Kindern Nachlernzeit gewährt. Dass man sie
vor Misserfolgserlebnissen schützt, indem man jedem einzelnen Kind
ermöglicht, anschlussfähige Kompetenzen zu erwerben. Was wäre daran
schlimm?
Ein Jahr mehr Grundschule?
Ja beispielsweise. Gerade in sozial benachteiligten Milieus wäre es gut,
wenn wir bei Kindern, deren Kompetenzen noch nicht den
Sekundarschul-Anforderungen entsprechen, sagen: Wir setzen die Lernprozesse
in der Grundschule fort. Nur brauchen die Schulen dafür Räume und Personal.
Wohl auch deshalb wurde diese Option gar nicht erst in den Blick genommen.
Aber auch in den 9. Klassen erreichen viele nicht die Mindeststandards im
Lesen.
Die Sekundarstufe erbt die Rückstände aus der Grundschule. Viele Lehrkräfte
klagen ja auch, dass die Kinder vor allem in Deutsch und Mathematik nicht
die Kompetenzen mitbringen, die das Curriculum für die Jahrgangsstufe 5
voraussetzt und dass sie die Grundschularbeit fortsetzen müssen. Das ist
vor allem in sozial benachteiligten Milieus Alltag. Doch lässt man die
Lehrkräfte im Regen stehen. Sie leisten viel, aber am Ende reicht es oft
nicht.
Was müsste da passieren?
Wir brauchen eine Curriculum-Revision, eine grundlegende Entrümpelung
[5][überfrachteter Bildungspläne]. Wir müssen uns fragen: Was ist wirklich
notwendig und was ist realistisch in der verfügbaren Zeit zu schaffen?
Diese Diskussion wird nicht geführt. Hilfreich wäre eine sorgfältige
Analyse, warum all die Maßnahmen der letzten 20 Jahren zur Überwindung
sozialer Ungleichheit so wenig Erfolg hatten. Da würden unsere
überambitionierten Curricula in einer Rangliste ganz oben stehen. Für deren
Revision bräuchte man keine 20 Milliarden, deren Wirkung wäre aber ungleich
höher.
Sollte man in Hamburg über eine neue Schulstruktur nachdenken?
Dass wir mit den Säulen Gymnasium und Stadtteilschule nicht den Stein der
Weisen gefunden haben, ist ein offenes Geheimnis. Die Aufteilung der
Schülerschaft nach Schulformen begünstigt soziale Ungleichheit. Da kann es
[6][keine Denkverbote geben].
Sie haben 2019 für die Linksfraktion [7][ein neues Schulgesetz] für Hamburg
entworfen. Was sah das in dieser Hinsicht vor?
Der Entwurf sieht keine äußere Differenzierung nach Schulformen vor. Jede
Schule legt die Schwerpunkte ihrer pädagogischen Arbeit auf Grundlage
regionaler Schulentwicklungsplanung fest. Sie trägt die Verantwortung für
alle aufgenommenen Schüler bis zum Erreichen des höchstmöglichen
Abschlusses. Eltern entscheiden mit ihren Kindern, welches Schulprofil den
individuellen Voraussetzungen am besten entspricht. Das schließt nicht aus,
dass es weiterhin Schulen mit einem gymnasialen Profil gibt. Nur werden die
Schüler nicht mehr abgeschult.
Wie kam der Entwurf an?
Die Diskussion fiel leider der Pandemie zum Opfer. Aber das geltende
Hamburgische Schulgesetz ist in die Jahre gekommen. Es ist höchste Zeit, es
im Blick auf seine Zukunftsfähigkeit neu zu fassen.
Sie waren 2010 Staatsrat, als Hamburg versuchte, die Grundschule auf sechs
Jahre zu verlängern. Woran scheiterte das?
Es lag, wie wir wissen, [8][an einem Volksentscheid], der es mit einem
niedrigen Quorum ermöglichte, die Reform zu stoppen – mit 276.000 Stimmen
bei 1,3 Millionen Wahlberechtigten. Aber wir konnten damals auch nicht
überzeugend belegen, dass das längere gemeinsame Lernen einen wesentlichen
Beitrag zur Überwindung sozialer Ungleichheit leisten kann.
Ist die Lage heute anders?
Ja. Das wird die, die es nicht wollen, zwar immer noch nicht überzeugen.
Aber wir führen die Diskussion heute auf einer empirisch gut fundierten
Basis.
Nun fordern [9][Hamburger Eltern an Gymnasien per Volksinitiative] für ihre
Kinder ein neuntes Jahr (G9). Da gibt es einen Konflikt mit den
Stadtteilschulen, weil die G9 schon anbieten. Wie kann man das lösen?
Bevor junge Menschen das neunte Jahr beispielsweise durch
Klassenwiederholung realisieren, wäre es ehrlicher, zu sagen: Wir sind
offen dafür, Jugendlichen, die mehr Zeit brauchen, auch mehr Zeit zu geben.
Die Diskussion sollte um Kinder und ihre Bildungserfolge gehen und nicht um
Konkurrenzen zwischen Schulformen.
Sie würden Gymnasien G9 erlauben. Wäre das kombiniert damit, dass diese
Verantwortung für ihre Schüler tragen?
Ja. Das ginge Hand in Hand.
Ist das politisch machbar?
Ich hoffe, dass wir den Diskurs um die bestmögliche Förderung ohne Tabus
führen können. Es ist Zeit, die Schere im Kopf zu überwinden und all die
Empirie zu nutzen, um kluge Antworten auf die Frage nach dem besten Weg zur
Überwindung sozialer Ungleichheit zu finden.
16 Feb 2024
## LINKS
[1] /Einigung-auf-Startchancen-Programm/!5989900
[2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/startchancen-programm-2225074
[3] /Neue-Pisa-Studie/!5976104
[4] /Hamburg-im-Bildungsranking/!5887490
[5] /Streit-um-Bildungsplaene-in-Hamburg/!5855112
[6] /Hamburger-Vorwahlkampf/!5586204
[7] /Vorschlag-fuer-neues-Schulsystem/!5640464
[8] /Bildungspolitikerin-Christa-Goetsch-ueber-ein-Jahr-Primarschul-Niederlage/…
[9] /Volksinitiative-in-Hamburg/!5937629
## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
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