# taz.de -- Lola Arias über ihren Film „Reas“: „Kein Spektakel der Gewal… | |
> An Orten des Schreckens tanzend die bösen Geister vertreiben: Die | |
> argentinische Regisseurin Lola Arias hat einen Film mit Häftlingen | |
> gedreht. | |
Bild: Die argentinische Regisseurin Lola Arias 2024 in Berlin | |
taz: Frau Arias, mit „Reas“ sind Sie zum zweiten Mal mit einem Beitrag im | |
Berlinale Forum vertreten. Er wurde in einem ehemaligen Gefängnis in Buenos | |
Aires gedreht. Wovon erzählt der Film, was war das Besondere dieser | |
Produktion? | |
Lola Arias: Der Film ist an einem realen, historischen Ort gedreht, in | |
einem Gefängnis, das 2001 geschlossen wurde. Es spielen zudem Personen mit, | |
die zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Frauengefängnissen in | |
Argentinien inhaftiert waren. „Reas“ basiert auf ihren realen Erfahrungen. | |
Das Drehbuch habe ich auf Grundlage von Interviews geschrieben, die wir mit | |
ihnen geführt haben. Es geht also um die Umwandlung dieser Erfahrungen in | |
Fiktion. In ihr gibt es Yoseli, die wegen Drogenhandels verhaftet wird und | |
sich im Gefängnis in einer unbekannten Welt wiederfindet. Einer der | |
Mitgefangenen ist Nacho, ein junger trans Mann, der wegen Betrugs im | |
Gefängnis sitzt. Und wir lernen viele andere kennen, die im Film | |
auftauchen. | |
Der Film entwickelte sich aus einem Workshop, den Sie im Gefängnis von | |
Ezeiza angeboten hatten. Wie kam es dazu? | |
Es war ein Kino- und Theaterworkshop, den ich 2019 veranstaltet hatte. Im | |
Gefängnis fing ich bereits an, Darstellungen und Szenenkonstruktionen | |
auszuprobieren, auch unter Einsatz von Musik und Choreografie. Da begann | |
ich über einen Film als eine Art Musical nachzudenken. Singen und tanzen | |
ist wichtig, um sich auszudrücken und Spaß zu haben. Um dem Körper eine | |
Freiheit zu geben, die im Gefängnissystem nicht vorhanden ist. | |
Was bedeutet „Reas“? Der Titel erinnert mich an den bekannten Rechtsspruch | |
„In dubio pro reo“, „Im Zweifel für den Angeklagten“. | |
Das ist doppeldeutig gemeint. Denn umgangssprachlich bedeutet una rea am | |
Río de la Plata auch „eine Verrückte“. Aber auch mit der Bedeutung, dass | |
man eine rea ist, weil man verrückt und rebellisch, unvoreingenommen ist, | |
man Dinge außerhalb der Norm tut. | |
Sie sind vor allem als Theaterregisseurin bekannt. Im März wird Ihr Stück | |
„Lengua madre“ („Mother Tongue“) im Berliner Maxim Gorki Theater erneut… | |
sehen sein. Was bietet Ihnen das Kino, was das Theater nicht hat? | |
Zum Beispiel die Möglichkeit, in anderen Räumen als dem Theater zu | |
arbeiten. Bei „Reas“ etwa im realen Raum des Gefängnisses. Mir ging es | |
darum, durch die historische und symbolische Aufladung diesen Ort, diese | |
Ruine in einer künstlerischen Produktion in etwas anderes zu verwandeln. | |
Es gibt diese Szene zum Ende des Films, in der Nacho und Yoseli den Faden | |
verlieren. Das ist ein irritierender Moment. War das so geplant? | |
Nein, aber wir haben entschieden, es beizubehalten, um zu zeigen, wie viel | |
Arbeit in diesen kleinen Dingen steckt, diesem kleinen Flirtgespräch, das | |
sehr spontan wirkt, bei dem Nacho auf ihre Hand schaut und sagt: „So wird | |
dein Leben sein.“ Und sie lächeln sich gegenseitig an. Es wirkt, als würde | |
die Kamera etwas beobachten, das auf magische Weise geschieht. Aber in | |
Wirklichkeit ist es eine komplett vorgeplante Szene. Deshalb fanden wir es | |
schön, dass sie an einer Stelle merken, dass sie sich im Text verirrt | |
haben, und gleichzeitig weiterflirten. Die Grenze zwischen Realität und | |
Fiktion der Beziehung bleibt so geheimnisvoll. | |
Von Rock bis Bolero, von Reggaeton bis Cumbia. All diese Musikstile tauchen | |
in „Reas“ auf. Was bedeuten sie für die Geschichte des Films? | |
Mit Ulises Conti, der die Musik für den Film geschrieben hat, waren wir uns | |
einig, dass die Musik eine Beziehung zu den einzelnen Biografien, zu ihren | |
Körpern und Geschichten haben muss. Das Potpourri der Genres hat also damit | |
zu tun, dass jedes Musikstück für jede Figur eigens konzipiert wurde. Jeder | |
Song hat mit Dingen zu tun, die die Personen mitgebracht haben. | |
Paulita, die junge Frau, die am Telefon das Lied „Ay amor“ singt, war | |
Sängerin in einer Cumbiaband. Wir haben dann ein Lied umgeschrieben, das | |
sie gesungen hat, bevor sie ins Gefängnis kam. Und Nacho, der junge trans | |
Mann, liebt Rock ’n’ Roll. Er hat mir Videos gezeigt, in denen er im | |
Gefängnis Rock ’n’ Roll tanzt. Also haben wir die ganze Hochzeitsszene mit | |
Rock ’n’ Roll in Verbindung gebracht. Yoseli ist eher eine Popfigur. Und so | |
lebt sie auch ihre Träume von Paris und New York in einem Popsong. | |
Yoseli scheint jünger und weniger erfahren als die Mithäftlinge zu sein. | |
Viel Zeit verbringt sie damit, Telenovelas zu schauen, um sich aus dem | |
Gefängnisalltag in eine bessere Zukunft zu träumen. Vermutlich hatten auch | |
die Protagonisten die Hoffnung, dass sich mit dem Filmprojekt ihr Leben | |
verändern könnte. Wie sind Sie mit dieser Erwartung umgegangen? | |
Der Film will nicht wie all diese Fernsehserien das Gefängnis als ein | |
einziges Spektakel der Gewalt darstellen. Ich wollte auch nicht, dass es | |
ein Gespräch über Gefängniserfahrungen wird. Ich wollte, dass diese | |
Personen ihre Vergangenheit durch das Spiel rekonstruieren können. Um so | |
auch die Schönheit, das Licht, die Liebe, die schönen Dinge der Solidarität | |
zu zeigen, die inmitten einer Situation des Schreckens und der | |
Unterdrückung geschehen, wenn man seiner Freiheit beraubt wird. Diese | |
Menschen sind nicht nur Opfer der Umstände. Sie haben auch viel zu geben | |
und reflektieren über das, was ihnen widerfahren ist. In diesem Sinne ist | |
der Film vielleicht auch ein Wendepunkt in ihrem Leben. | |
Natürlich wird der Film nicht wie mit einem Zauberstab ihr Leben verändern. | |
Aber ich erinnere mich an einen der Drehtage: Ich hatte eine Szene | |
korrigiert, und ich sagte: Estefi, sehr gut, unglaublich, was du in dieser | |
Szene gemacht hast. Ich gratulierte ihr. Sie drehte sich zu mir und sagte: | |
Es ist lange her, dass mir jemand gesagt hat, dass ich etwas gut gemacht | |
habe. Das versetzte mir einen Stich, weil ich spürte, wie hart es ist, dass | |
man die ganze Zeit keine Anerkennung, keine Wertschätzung bekommt und sich | |
als Person abgewertet fühlt. Im März gehe ich zurück nach Argentinien. Das | |
Projekt endet für mich nicht mit dem Film, sondern der Film ist Teil des | |
Projekts. Wir beginnen dann mit der Inszenierung eines Theaterstücks, das | |
im Mai in Argentinien uraufgeführt wird und anschließend auf europäischen | |
Festivals tourt. Nicht mit allen 14, aber mit sechs der Protagonistinnen. | |
Das zerfallene Gefängnis von Caseros in Buenos Aires wirkt als Schauplatz | |
des Films viel weniger bedrückend, als es seine reale Geschichte nahelegt. | |
Caseros war ursprünglich eines der unzähligen Folterzentren während der | |
argentinischen Militärdiktatur. Wie sind Sie damit umgegangen? | |
Bei meinem ersten Besuch in Caseros war ich erschüttert. Wenn man diesen | |
Ort betritt, spürt man die Geister der jahrelangen Unterdrückung, der | |
Gewalt, der Folter. Es ist eiskalt, man bekommt eine Gänsehaut. Aber | |
gleichzeitig, und das ist interessant, dient diese Ruine derzeit als | |
Filmkulisse für Serien. Die Schichten von Realität und Fiktion vermischen | |
sich in den Räumen. Die Drehtage wurden mit der Zeit zu einer magischen | |
Sache. Wir spürten am Anfang den Druck dieses schweren Orts, doch mit der | |
Zeit gelang es uns, die Atmosphäre zu verändern. Wir machten Witze darüber, | |
dass wir die bösen Geister tanzend vertrieben hatten. Wir haben die Energie | |
des Orts verändert. Und wir empfanden ihn nicht mehr als einen Ort der | |
Unterdrückung, sondern als unseren. | |
Die Protagonisten in „Reas“ sind cis oder trans Frauen, hetero oder queer. | |
So macht der Film auch unterschiedliche Erfahrungen und Identitäten | |
sichtbar. In den vergangenen Jahren hat die argentinische Zivilgesellschaft | |
viel erreicht. Feministische Bewegungen wie Ni una menos gegen Femizide | |
oder [1][Massenproteste für das bedingungslose Recht auf Abtreibung] haben | |
auch soziale Bewegungen in den lateinamerikanischen Nachbarländern | |
ermutigt. Doch im November 2023 wurde in Argentinien der ultraliberale | |
Javier Milei zum neuen Präsidenten gewählt. Was bedeutet dieser | |
Regierungswechsel für die argentinische Gesellschaft, für Menschen wie | |
Nacho, Yoseli, Noelia oder Estefi – was für die Kultur in Argentinien? | |
Es war ein Schock. [2][Als Milei gewann, haben die Protagonisten meines | |
Films geweint.] Paula aus Peru hat keine Papiere und fürchtet, aus | |
Argentinien abgeschoben zu werden. Noelia, eine trans Frau, wurde am Tag | |
nach dem Sieg von Milei auf der Straße angegriffen. Dasselbe geschah mit | |
Nacho. Die extreme Rechte in Argentinien glaubt, sich alles herausnehmen zu | |
können. Ihre Agenda zielt darauf ab, so mühsam erkämpfte Rechte wie die des | |
Abtreibungsgesetzes oder des Transgender-Quotengesetzes zu beseitigen. | |
Milei attackiert Kunst und Kultur. Er hat versucht, den Nationalen Fonds | |
für die Künste zu schließen, auch die wichtigste Filmschule in Argentinien. | |
Er liberalisiert die Sozialgesetzgebung, also Arbeits-, Miet- und | |
Rentenrechte, was besonders die Menschen in prekären Lagen trifft. Das | |
werden vier sehr harte Jahre. | |
18 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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