| # taz.de -- Franz Dobler schreibt über Adoption: Zwei Mütter, aber nur eine M… | |
| > Was es heißt, als Adoptivkind in Nachkriegsdeutschland aufzuwachsen. | |
| > Franz Doblers neuer Roman „Ein Sohn von zwei Müttern“ hat Stil und | |
| > berührt. | |
| Bild: Verkratzte Erinnerungen: Im bayerischen Schongau, das Foto stammt von 196… | |
| „Erinnerungen sind ein echtes Problem. Die treten dir eines Nachts die Tür | |
| ein und behaupten, sie gehörten zu dir. Das ist gelogen, du kennst sie | |
| nicht. Sie behaupten, sie würden seit vielen Jahren in deinem Haus wohnen, | |
| ganz unten hinten im Keller, wo du schon lange nicht mehr warst“, schreibt | |
| Franz Dobler in seinem neuen, dieser Tage erscheinenden Roman „Ein Sohn | |
| von zwei Müttern“. Aber, fügt Dobler an, diese Erinnerungen könnten ja viel | |
| behaupten, „und du sagst, sie sollen verschwinden. Dann holen sie | |
| verkratzte und verknitterte Fotos aus ihren Taschen.“ | |
| Erinnerungen, die darauf pochen, für wahr und ernst genommen zu werden, | |
| sind in der Tat ein Problem. Man kann ihnen nicht trauen. Denn manche | |
| besonders vertraute und lieb gewonnene Erinnerungen dienen, so lehrt uns | |
| die Psychoanalyse, paradoxerweise der Verdrängung von verstörenden | |
| Ereignissen. | |
| Traumatischen, emotional stark besetzten Erfahrungen gelingt es häufig nie | |
| oder erst spät, sich gegen ihre Verdrängung aufzulehnen – und dann | |
| überhaupt erst als Erinnerung zu erscheinen. Aber auch dann spürt man, dass | |
| Erinnerungen nie ganz authentisch sind, sondern – wie Dobler treffend | |
| schreibt – vielmehr verkratzten und verknitterten Fotos ähneln. | |
| ## Achmed oder eher doch Ali? | |
| Wir dürfen davon ausgehen, dass der Protagonist seines Romans, den der | |
| Autor dadurch auf Distanz hält, dass er ihn konsequent „Er“ nennt, Franz | |
| Dobler sehr nah ist. Man könnte gar vermuten, dass dieser Trick Dobler erst | |
| ermöglicht hat, über sich selbst zu erzählen. Denn „Er“ hat sich zeitleb… | |
| mit der Frage herumgeschlagen, was es bedeutet, der Sohn von zwei Müttern | |
| zu sein. | |
| Ist der Prozess der Auseinandersetzung mit dieser Frage erst einmal in Gang | |
| gesetzt, zeigt sich schnell, dass manches gar nicht so verwirrend ist, wie | |
| es zu sein schien: „Er hatte zwei Mütter, aber nur eine Mama.“ Punkt. Die | |
| Mama wiederum zweifelt nie daran, dass „Er“ ihr Kind ist. Der Papa dagegen | |
| neigt dazu, den Plan des Sohns, Schriftsteller zu werden, darauf | |
| zurückzuführen, dass dieser eben nicht „sein eigen Fleisch und Blut“ sei. | |
| Die Väter allerdings sind ohnehin zweitrangig in dieser Geschichte. Von | |
| seinem leiblichen Vater weiß „Er“ nicht einmal genau, wie er heißt, weil | |
| sich auch seine leibliche Mutter, die er eines Tages in New York besucht, | |
| nicht daran zu erinnern glaubt, „vielleicht Achmed oder eher doch Ali“? Die | |
| Mutter hatte den Vater nur einmal getroffen, auf einer Party, er war ein | |
| etwas über zwanzigjähriger persischer Austauschstudent. | |
| Die persische Herkunft väterlicherseits bedeutet Doblers Figur nichts, | |
| warum auch? Hat er seinen Vater doch nie kennengelernt. Dobler ist „ein | |
| Kanake, der kein Kanake ist“, wie sein Schriftstellerkollege Jamal Tuschick | |
| einmal bemerkt. Er sei damit bester Beweis, „dass diese | |
| Blut-und-Boden-Denke totaler Quatsch ist“. | |
| ## Keine einfache Geschichte | |
| Die existenzielle Verunsicherung, die mit dem komplizierten Status des | |
| Adoptivkinds einhergeht, ist keine „Identitätsstörung“, wie linksrechte | |
| Wurzelfetischist*innen gern annehmen. Denn der Sohn hat ja eine Mama | |
| und einen Papa – und „seine Mama war für ihn immer seine eine und einzige | |
| Mama geblieben“. | |
| Warum die Mutter ihren Sohn freigegeben hat, erfährt „Er“ erst später. Da… | |
| seine Mama ihn aufgenommen hat, weil sie ihren eigenen Sohn verlor, wird | |
| ihm jedoch eines Tages erzählt. Denn „Er“ hat Mama und Papa früh in | |
| Aufregung gesetzt, als er eines Abends in der Badewanne erklärte, ein | |
| Adoptivkind zu sein – noch ohne zu begreifen, was ein Adoptivkind ist. | |
| „Ein Sohn von zwei Müttern“ ist eine Erzählung, die auch davon handelt, | |
| dass ihr Autor sie nicht aufschreiben will: „Die erste Mutter hatte ihn zur | |
| Welt gebracht und die zweite Mutter, seine Mama, hatte ihn adoptiert. Die | |
| erste würde in New York darauf warten, ihn nach dreißig Jahren | |
| wiederzusehen, die Zweite war verstorben. Keine einfache Geschichte, | |
| deswegen wollte er nie darüber schreiben. Jedenfalls nicht mehr als | |
| Notizen, jedenfalls kein Buch. Was für viele und anscheinend immer mehr | |
| Autor:innen das Höchste der Gefühle war – das eigene Leben bis zum | |
| geradezu skandalösen Krümel Gras in Opas Nachtkasten zu erforschen und | |
| literarisch aufzubereiten –, langweilte ihn schon beim Gedanken daran.“ | |
| ## Sind nicht viele Serienkiller Adoptivkinder? | |
| Literatur heißt, das Schreiben, die Motivation für das Schreiben und die | |
| Notwendigkeit des Schreibens selbst zum Gegenstand des Schreibens zu | |
| machen. Der Erzähler denkt in diesem elegant montierten Text unter anderem | |
| darüber nach, wie selbst die Wissenschaft sich von Klischees über | |
| Adoptivkinder in die Irre führen lässt – neigen Adoptivkinder stärker zu | |
| antisozialem Handeln, gar zur Gewalt? Sind nicht viele Serienkiller | |
| Adoptivkinder? | |
| Während er nachdenkt, stellen sich Erinnerungen und Assoziationen ein. | |
| „Jede Assoziation ein Überfall.“ So reihen sich Fragmente einer Erzählung | |
| über Kindheit und Jugend, über das Erwachsenwerden, über prägende | |
| Beziehungen und Bildungserlebnisse in den niemals stockenden Erzählfluss | |
| ein, der lediglich von kursiven, in eckigen Klammern gesetzten Ermahnungen | |
| des Autors an sich selbst unterbrochen wird: „[nicht mit Zitaten | |
| überfrachten!]“ | |
| Doblers Roman handelt von einem spezifischen existenziellen Problem – ein | |
| Adoptivkind zu sein – und zeigt, dass dieses lediglich eine Variante des | |
| allgemeinsten Problems des Menschseins ist: Das ist das Problem, eine | |
| Mutter zu haben. Damit verbunden ist in Doblers Fall die Frage, was das für | |
| das Verhältnis eines heterosexuellen Manns zu Frauen bedeutet. Das | |
| Besondere, das Individuelle zeigt sich in Doblers Roman an der Frage, was | |
| es heißt, in einer kleinbürgerlichen Familie in einer konservativen | |
| oberbayerischen Kleinstadt in den 1960er Jahren aufgewachsen zu sein. | |
| ## Alles, was man wissen musste | |
| Der sensible Junge versteht intuitiv, dass mit der Gesellschaft, in der er | |
| aufwächst, etwas nicht stimmt. Wenn sie im Fernsehen zu sehen ist, | |
| beschimpft der Papa die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir als | |
| „dreckige Hure“, weil „die Juden den Deutschen unglaublich viel Geld aus | |
| der Tasche zögen, obwohl die Schuld, die nicht so groß sei, wie die Welt | |
| behauptete, längst beglichen sei“. | |
| Als „Er“ noch ein „Bübchen“ ist, hat er einen älteren Freund namens H… | |
| Dieser kommt aus einer Familie, die man heute dysfunktional nennen würde. | |
| Hans führt eine Gang an und boxt sich als Kleinkrimineller in einer Welt | |
| durch, die ihm nichts zu bieten hat. Er bringt „dem Bübchen alles bei, was | |
| man wissen musste. Was Ficken bedeutete und wie man es und anderes machte, | |
| was irgendwie damit zu tun hatte. Wie man ein in der Hosentasche | |
| vergrabenes Klappmesser mit einer einzigen blitzschnellen Bewegung zog, | |
| aufschnappen ließ und gegen einen Angreifer richtete.“ | |
| Es muss in dieser Geschichte auch einen väterlichen Freund geben, der dem | |
| Jungen [1][die Welt der Kultur] eröffnet, sonst würde es diesen Roman nicht | |
| geben. Es wird von Auseinandersetzungen mit dem erzkonservativen | |
| Chefredakteur der Lokalzeitung berichtet, wo der junge Mann wenig später | |
| den Journalismus erlernt. Es kommen Polizisten vor, die lebensklug und fair | |
| sind. All diese Menschen bescheren dem werdenden Künstler Erfahrungen, die | |
| zeigen, wie vielfältig die Menschen sind. „Er“ wird eben deswegen zum | |
| Künstler, weil er das sehen und verstehen kann. | |
| Doblers Roman handelt auch davon, was Menschen zu Außenseitern macht: Es | |
| ist nicht zwangsläufig ein Mangel an Liebe, sondern oft nur einer erhöhten | |
| Sensibilität geschuldet, die dem Außenseiter eine gute Startrampe für die | |
| künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt ist. | |
| ## Coolness und Wärme in Einklang bringen | |
| Für seine Krimis wurde Dobler mit Preisen bedacht. Auch in diesem Roman | |
| bleibt er seinem coolen, an amerikanischer Literatur, an Filmen und | |
| Popsongs gewachsenen, [2][knappen, direkten und immer leise ironischen | |
| Tonfall] treu. | |
| Dessen lakonische Coolness wird jedoch gebrochen, weil Dobler seinem „Er“ | |
| Verunsicherung erlaubt. Er stellt sich der Aufgabe, die er sich nicht | |
| ausgesucht hat. „Er war seit zwanzig Jahren auf der Flucht vor diesem Buch, | |
| und letztendlich gab er sich geschlagen, weil er erkannte, dass er vor | |
| diesem Buch nicht fliehen konnte, sondern es nur erledigen konnte.“ | |
| Cool und stilbewusst zu schreiben, ist auch eine Methode, sich gegen | |
| Emotionen und die mit ihnen einhergehende Verletzlichkeit zu wappnen. | |
| Dobler aber bringt Coolness und Wärme in Einklang. So streng er gegen sich | |
| selbst und jeden Kitsch ist, so offen bleibt er in jedem Satz für Gefühle, | |
| auch wenn diese die Souveränität des Welt erzeugenden Autors zu | |
| unterminieren trachten. Franz Dobler ist ein Mensch, im jiddischen | |
| Wortsinn, und sein Buch ist schön, berührend, große Kunst. | |
| 18 Feb 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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