# taz.de -- Rettet die Lyrik: Angst und Schrecken in der Poesiezone | |
> Das Gedicht ist von allen Seiten bedroht. Zum Welttag der Poesie eine | |
> flammende Verteidigung der Lyrik, dieser armen Sau. | |
Bild: Glanzbild | |
Es war der Tag, der allen Schüler:innen dieser Hauptschule zeigen | |
sollte, dass Schule Spaß macht. Am Ende des Schuljahrs ein Tag mit vielen | |
tollen Workshops, für die auch Nichtlehrer wie ich engagiert wurden. Mein | |
Crashkurs: Wie schreibt man ein Gedicht. Zum Glück war mit vier Anmeldungen | |
die Mindestzahl erreicht und damit 200€ für mich. | |
Zwei Jungs und zwei Mädchen, die die neunte Klasse geschafft hatten, | |
wollten wissen, wie ein Gedicht geht. Weil ich viele Gedichte gelesen und | |
sogar zwei Gedichtbände veröffentlicht hatte, würde ich ihnen das locker | |
verklickern. | |
„Lyrik isst schwürick!“ Diese Warnung des Dichters [1][Wiglaf Droste] | |
kannte ich. Das war aber nur die halbe Wahrheit. Mit der anderen Hälfte | |
wollte ich sie begeistern. Und versicherte ihnen zum Einstieg sofort, dass | |
jeder Mensch ein Gedicht schreiben kann, du brauchst kein Abitur, darfst | |
alles klein schreiben, musst keine Reime basteln, egal, was irgendein | |
Lehrkörper erzählt, du hast größte Freiheit, was willste mehr, wir | |
probieren das zusammen aus. | |
Reaktion der vier Teens: betretene Gesichter. Genervt und bisschen | |
verzweifelt. Und schüchtern waren sie. Sagten keinen Ton. Was war da los? | |
Ich bat sie, keine Angst vor mir zu haben, ich bin doch kein Lehrer, Leute. | |
Und zitierte aus einem Gedicht von Thorwald Proll: „Raus mit der Sprache!“ | |
Schnell wurde uns klar, dass der Kurs ein Schlag ins Wasser war. Die beiden | |
Mädchen dachten, es ginge um Schönschreiben, Kalligraphie, und kein | |
Lehrkörper hatte ihnen was erklärt; die beiden Jungs hatten in den | |
HipHop-Rap-Kurs gewollt, aber der war mehr als voll belegt und man hatte | |
sie in meinen Kurs abkommandiert. | |
Sie sahen unglücklich aus | |
Fühlten sich dumm und schuldig | |
Dachten, ich wär sauer auf sie. | |
Aber ich war kein Lehrkörper | |
Ich war einer von ihnen – und | |
Zusammen würden wir´s hinkriegen. | |
Ist doch kein Problem, sagte ich, wir sind hier zu nichts verpflichtet, wir | |
unterhalten uns einfach – war es zum Beispiel nicht irre komisch, dass das | |
kürzeste und schönste Gedicht vom [2][größten Boxer aller Zeiten] | |
geschrieben worden war? | |
„Me / We – von Muhammad Ali!“ | |
Wie fanden sie das, war das nicht toll? Und der Beweis, dass ich ihnen | |
keinen Unsinn erzählte und dass wirklich alles möglich war? Sollten wir mal | |
alle versuchen, ein Gedicht mit zwei Wörtern zu schreiben? Die Antwort | |
waren gequälte Gesichter mit der Botschaft: Welche zwei fucking Wörter | |
sollten das denn sein, das war doch Quatsch. Was ja auch nicht ganz | |
unberechtigt war. | |
Nächster Versuch, an ihnen dranzubleiben, mit der Frage, was für Gedichte | |
sie denn im Unterricht gelesen hatten. Klare Antwort: sie hatten kein | |
einziges gelesen. Wie bitte?! Ihr müsst doch in Deutsch irgendwas gelesen | |
haben, erzählt mir doch nichts. | |
Natürlich hatten sie was gelesen. Sie hatten ihr ganzes letztes | |
Hauptschuljahr damit verbracht, Bewerbungsschreiben zu lesen und | |
Bewerbungsschreiben zu schreiben und jetzt hing ihnen das | |
Scheißbewerbungsschreibfach Deutsch zum Hals raus. Egal, ob Gedicht oder | |
sonstwas. | |
So dürfen wir uns, einige Jahre später, auch an diesem Welttag der Poesie | |
auf die sogenannten Sonntagsreden freuen. Die bayerische | |
Lehrkörper-Ministerin und Freie-Wähler-Frontfrau Anna Stolz wird den Plan, | |
den musischen Unterricht an den Grundschulen zu kürzen, schon schön | |
schönreden, ach ja, die Poesie! | |
Dazu passend zuletzt ein Blick auf die Szene der Poesie-Produzent:innen. | |
Aufgrund geringer eigener Erkenntnisse zitiere ich den Dichter Jan | |
Kuhlbrodt, der letzten Oktober diese Beobachtungen veröffentlichte: | |
„die lyrikszene ist so politisch wie streuselkuchen. man spricht ständig | |
von der marginalisierung der lyrik und heult sich gegenseitig ins | |
taschentuch, aber zu den geschehnissen auf der buchmesse (rechte verlage, | |
absagen und dergleichen) vernimmt man aus dieser ecke kein wort. (das ist | |
etwas pauschal, aber es stößt mir schon auf)“. | |
Am Tag der Poesie | |
Erkennt das Gedicht | |
Die Bedrohung von allen Seiten. | |
Die arme Sau – sie lacht! | |
Weil sie unsterblich ist. | |
21 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Nachruf-auf-Wiglaf-Droste/!5596084 | |
[2] /80-Geburtstag-von-Muhammad-Ali/!5826397 | |
## AUTOREN | |
Franz Dobler | |
## TAGS | |
Gedichte | |
Lyrik | |
Poesie | |
Literatur | |
Poesie | |
Irland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Franz Dobler schreibt über Adoption: Zwei Mütter, aber nur eine Mama | |
Was es heißt, als Adoptivkind in Nachkriegsdeutschland aufzuwachsen. Franz | |
Doblers neuer Roman „Ein Sohn von zwei Müttern“ hat Stil und berührt. | |
Die Wahrheit: Poesiealbum | |
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die geneigte | |
Leserschaft an einem Poem über ein unerfreuliches Büchlein erfreuen. | |
Autorin übers Dichten auf Englisch: „Irland ist eine Seelenheimat“ | |
Wenn die Mutter- nicht die poetische Sprache ist: Karin Molde ist | |
eigentlich Lehrerin. Heute stellt sie ihr erstes Gedichtbuch in Bremen vor. |