| # taz.de -- Neue Gedichte von Thomas Kunst: Anmut und Randale | |
| > In „Wü“ feiert Thomas Kunst das lyrische Handwerk. Der Band versammelt | |
| > Sonette auf die zerfallene Familie und poetische Briefe an eine Katze. | |
| Bild: Zu schnell gelutscht: Im Kampf mit der „unregierbaren Spucke“ kann da… | |
| Mit einem Eukalyptusbonbon im Mund beginnt eine Autofahrt zur neuen Arbeit. | |
| Die wohltuende Süßigkeit soll bis zur Ankunft reichen, sagt eine | |
| lyrisch-erzählende Stimme, die mit einer „unregierbaren Spucke“ zu kämpfen | |
| hat. Leider wird der Drops zu schnell gelutscht, und mit der | |
| dahinschmelzenden Bonbonfüllung verkürzen sich auch die Zeilen am Ende des | |
| Auftaktpoems. | |
| Wie zuletzt in seinem erfolgreichen [1][Roman „Zandschower Klinken“] | |
| beginnt Thomas Kunst auch seinen neuen Lyrikband „Wü“ mit einer automobilen | |
| Bewegung, die zugleich sensorische Verlustmeldungen und gedankliche | |
| Neuanfänge enthalten. Da ist jemand mit hoher Geschwindigkeit unterwegs, | |
| sprachlich und inhaltlich, um dann mit einer Vollbremsung wieder zur Ruhe | |
| zu kommen. | |
| Manche Motive und Tierverweise, einige geografische und metaphorische | |
| Verortungen, etwa die Rede von den Rehen und Schwänen, erinnern an Kunsts | |
| wild-schöne Prosa, die es auf die Shortlist des Buchpreises geschafft | |
| hatte. | |
| Ohnehin verschwimmen bei diesem Autor die literarischen Gattungen, fließt | |
| ein Buch ins nächste, wobei nichts zufällig geschieht in seinem Werk. Denn | |
| was auf den ersten Blick vielleicht anarchistisch daherkommen mag, ist | |
| zunächst perfektes Handwerk: Thomas Kunst beherrscht auch traditionelle | |
| Formen der Dichtung wie derzeit kaum ein zweiter deutschsprachiger Lyriker. | |
| Fragile Familienverbindungen | |
| Stand im vorangegangenen Roman ein skurril-sympathischer Freundeskreis im | |
| Mittelpunkt, der sich mit allerlei Getränken am heimisch-exotischen | |
| Dorfteich traf, um eine Utopie vom anderen Zusammenleben zu feiern, spielen | |
| im neuen Lyrikband fragile und beschädigte Familienverbindungen eine | |
| zentrale Rolle. | |
| Vater, Mutter, Schwester, Sohn und Tochter werden schon in den Titeln der | |
| fünf Zyklen mit jeweils 15 Gedichten erwähnt. Das lyrische Ich fährt also | |
| nicht nur zum 80 Kilometer entfernten Job, sondern übernimmt Hospital- und | |
| Heimbesuche, kümmert sich um Verwandte, die längst keine Rolle mehr spielen | |
| im gegenwärtigen Alltag. | |
| Es beginnen Erinnerungsreisen in die familiäre Vergangenheit, die von | |
| traumatischen Erlebnissen geprägt war. Der Vater, der in den 1970er Jahren | |
| im „VEB Bau- und Montagekombinat Industrie“ malochte, machte sich plötzlich | |
| auch daheim rar, war mehr am Bett der kleinen Schwester zu sehen, während | |
| der Sohn damit begann, an den „einmal dagewesenen Eltern- / Teilen | |
| emporzuklettern, die Luft / Anzuhalten, weit über meiner / Schwester, an | |
| ihnen hoch“, und zwar an „Brust und / Gürtel“. | |
| [2][Die Lyrik] gleicht hier einer Art Familienaufstellung, wobei der | |
| Zeilensprung stets im richtigen Moment zerschneidet, wenn die Melancholie | |
| den „Scheidungsfilm“ zu rührselig machen könnte: „Wenn Vater, noch bei | |
| Licht, zu meiner Schwester geht, gibt es für sie / Die Hand im Haar, für | |
| mich Gedichte, jeden Abend war ein / Anderer dran, ein Gute-Nacht-Gedicht, | |
| das auch ein Witz sein / Konnte, zu erzählen […]“. | |
| Wüste aus Wünschen | |
| Diese Zeilen in gar nicht so freien Rhythmen sind als Briefe mit | |
| Datumsangabe an eine Katze namens Wü adressiert, die mehr ist als ein | |
| tierischer Begleiter, Trostspender und „Bewegungsmelder“. Wü gilt dem | |
| Dichter auch als „eine Wüste mit Wünschen“, in der sprachlich versanden | |
| darf, was zuvor mit Präzision und Gespür fürs klassische Gedichtformat | |
| entwickelt wurde: „Musik von Gestern. / Mein Sohn hatte früher mal / Eine | |
| Kassette / Von mir unterm Kopfkissen / Meine Tochter brauchte Schlaf.“ | |
| Solche reimlosen Kurzpoeme, die sich mit 31 Moren (eine Maßeinheit für das | |
| Silbengewicht) am japanischen, über 1.300 Jahre alten Tanka orientieren, | |
| gehören zu den Höhepunkten des Bandes, der lyrische Traditionen noch in den | |
| „Hidden Tracks“ feiert, die dem fünfzyklischen Hauptteil nachgestellt sind. | |
| Ein in seiner Illusionslosigkeit besonders eindrückliches Sonett (zwei | |
| Strophen mit je vier Versen und zwei Strophen mit je drei Versen) sei daher | |
| in voller Länge zitiert: | |
| „Wir haben heute Nacht nichts weiter vor. / Die Kinder sind längst aus dem | |
| Haus und staunen, / Wie sie als Elternteile ihre Launen / Zurückverfolgen | |
| mit Geschrei im Ohr. // Sie machen uns verantwortlich für das, / Was wir | |
| versuchten, das ist lange her, / Nur sind sie jetzt längst keine Kinder | |
| mehr / Und sollten uns verzeihen, dieser Hass // Gelangt in meinem Kopf als | |
| Summerton / Er langweilt mich in allen Jahreszeiten, / Lasst mich aus einer | |
| Überlegung raus. // Ich habe eine Tochter, einen Sohn. Ich habe meine Katze | |
| zu begleiten. / Solange meine Frau in diesem Haus.“ | |
| Thomas Kunst kann verrätselt und verwegen schreiben, um dann wiederum mit | |
| Klarheit und Deutlichkeit zu beeindrucken. Auch wenn seine Bücher – Prosa | |
| und Lyrik gleichermaßen – über Motivketten verbunden sind, steht jedes Werk | |
| doch für sich, verliert sich der Autor nie in narzisstischer | |
| Selbstbezüglichkeit: Es entsteht immer etwas Neues. | |
| Verneigung vor Klabund | |
| Kunst ist zudem ein Dichter, der gerne weitergibt, wer oder was ihn | |
| inspiriert hat. Der 1965 geborene Schriftsteller, der auch als Bibliothekar | |
| arbeitet, verneigt sich beispielsweise vor Klabund, dem vagabundierenden | |
| Poeten aus dem frühen 20. Jahrhundert, der ein Seelenverwandter Kunsts zu | |
| sein scheint. | |
| Durchaus lohnend, die Musikstücke, die im Anmerkungsapparat von „Wü“ | |
| aufgelistet sind und die für Kunst „beim Schreiben unabdingbar“ waren, | |
| einmal nachzuhören, wie etwa die hypnotischen Kurztracks der Band „Idaho“ | |
| vom Album „The Lone Gunman“. Doch selbst wenn man sich auf den | |
| mitgelieferten Begleitsound einlassen möchte, die Dichtung überzeugt auch | |
| ohne akustischen Verstärker: Manche Sonettenkränze haben das Zeug zum | |
| modernen Klassiker, sollten in der Schule gelesen werden. | |
| Die großen [3][Themen zeitgenössischer Dichtkunst] werden nahezu nebenbei | |
| behandelt: Stadt-Land-Kontraste, Naturzerstörung, Identitätssuche in der | |
| verwalteten Welt. Das lyrische Ich geht auf „Tierspaziergänge“ in | |
| ostdeutschen Gefilden, träumt sich zugleich an ferne Meeresküsten „am Golf | |
| von Mexico“, die aber eher als Metaphern zu gelten haben. | |
| In einem völlig ideologiefreien Sinn ist Kunst ein Heimatdichter, der Ruhe | |
| und Frieden auf dem Lande sucht. Mit Anmut beschreibt er die Sehnsucht, | |
| sich in Kriegszeiten endlich mit der Schwester zu versöhnen, wieder | |
| gemeinsam durchs „hohe Gras zu gehen“. Kunst besingt Vögel, Würmer und | |
| allerlei Gehölze. | |
| Doch er kann auch metalyrische Randale: „Es gab zuletzt das Beispiel eines | |
| Falles / Von Poesie in meinem Heimatland. Der Jubel zeigte, was ich nicht | |
| verstand: Familienfotos sind am Ende alles. // Ich glaube an die Macht von | |
| Kinderbildern. / Die Früchte auf dem Tisch sind nicht von hier. / Die | |
| Unterschiede zwischen Schnaps und Bier / Sind Ungereimtheiten, die schnell | |
| verwildern. // Wir lenken unser Augenmerk auf Knaben / Im Vordergrund wird | |
| Herkunft ausprobiert. / Das Küchenlicht gehört zu den Metallen. // Es ist | |
| nicht hilfreich, Hoffnungen zu haben, / Wenn neben dir Folklore explodiert | |
| / Und Aschefähnchen auf Gedichte fallen.“ | |
| Zahnlos jubelnde Literaturkritik | |
| Gegenüber der liebsten Wü wird die Dichterstimme noch polemischer, beklagt | |
| eine Sprache „der reaktionären Mobilmachung / Traditionell vertraulicher | |
| Befindlichkeiten und einer zu / Anekdotischem Pendelverkehr zwischen Autor | |
| und Publikum aufbereiteten Erzählweisen“, kritisiert die Posen | |
| „harmlos-kritischer Welt-Anrufungen, vorbei an einer / Zahnlosen jubelnden | |
| Literaturkritik“. | |
| Im Lyrikbetrieb, der sich gerne vornehm gibt, mögen solche Vorwürfe nicht | |
| gut ankommen. Ein Rezensent, der auch als Hobbydichter unterwegs ist und | |
| zuweilen arg an den besprochenen Büchern vorbeischreibt, wie unlängst die | |
| Literaturwissenschaftlerin Anna Bers in einer mehrseitigen Analyse | |
| nachwies, fühlte sich wohl angesprochen und konterte in der Frankfurter | |
| Rundschau mit einer Herablassung, die im Gestus altväterlicher Rhetorik | |
| etwas Lächerliches aufzeigen soll und dabei selbst ziemlich töricht wirkt: | |
| „So so, dieser Zorn musste offenbar dringend hineingebrüllt werden in eine | |
| seichte und ach so verlogene Kulturindustrie, Ausrufezeichen!“ | |
| Thomas Kunst sucht nach den „Schmutzrändern“ der „Intellektualität in | |
| Texten“, und er besteht zugleich auf eine handwerkliche Qualität, die „kein | |
| Relikt aus anderen Jahrhundert ist“. Darüber kann sich nur lustig machen, | |
| wer als vermeintlicher Lyrikexperte jede Zeile danach absucht, ob sie | |
| „welthaltig“ und „kraftvoll“ ist oder noch besser: eine passende politi… | |
| Botschaft enthält. | |
| Gegen solch verschmocktes Gehabe wendet sich Kunst, der noch in der Litanei | |
| einfallsreich und selbstironisch ist. Im Schlussgedicht lädt der Dichter zu | |
| einem Festival des lyrischen Übermuts in die Provinz ein, das nicht in | |
| gediegener Atmosphäre einer Stipendienvilla, sondern auf roter Asche | |
| stattfinden soll: „Wir bereiten den Kongress vor, ich halte den Tennisplatz | |
| / Sauber, falls die Verstorbenen kommen, Eigner, Meckel, / Böhmer, Neumann, | |
| Salvatore, nur Männer, ich weiß, / Aber die Dichterinnen, die ich liebe, | |
| leben noch.“ | |
| Zu der obskuren Lyrikfeier auf dem Lande, auf der „sich zu Orgien | |
| auswachsenden, sprachlichen Reinlichkeits-Übertretungen“ gehuldigt wird, | |
| würde man gerne anreisen, mit einem gefüllten Päckchen Eukalyptusbonbons in | |
| der Tasche. | |
| 29 Apr 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Formal-radikaler-Aussteigerroman/!5746969 | |
| [2] /Rettet-die-Lyrik/!5996483 | |
| [3] /Slowenische-Dichterin-ueber-Heimatland/!5962608 | |
| ## AUTOREN | |
| Carsten Otte | |
| ## TAGS | |
| Lyrik | |
| Buch | |
| Gedichte | |
| Poesie | |
| Bremerhaven | |
| Literatur | |
| Ausstellung | |
| Gedichte | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Lyrik als Fußball-Kontrastprogramm: „Gedichte können weh tun“ | |
| Lyrik passt als kürzeste Form der Literatur zur Instagram-Aufmerksamkeit: | |
| Christoph Danne und Tina Ilse Maria Gintrowski beweisen das in Bremerhaven. | |
| Autor Evan Tepest über queere Signale: „Wonach wir greifen, entzieht sich“ | |
| Im Debütroman von Evan Tepest hadert eine queere Autor:in mit ihrer | |
| Mutter. Mit essayistischen Passagen wird der Raum der Reflektion | |
| ausgeweitet. | |
| Wiederentdeckte Künstlerin Katalin Ladik: Wo das O um die Ecke biegt | |
| Das Ludwig Forum Aachen stellt die Künstlerin Katalin Ladik aus Novi Sad | |
| vor. Mit ihrer Selbstbestimmtheit eckte sie an im ehemaligen Jugoslawien. | |
| Rettet die Lyrik: Angst und Schrecken in der Poesiezone | |
| Das Gedicht ist von allen Seiten bedroht. Zum Welttag der Poesie eine | |
| flammende Verteidigung der Lyrik, dieser armen Sau. |