# taz.de -- Angefeindete Bürgermeister: Im Kreuzfeuer | |
> Viele Menschen, die sich in der Kommunalpolitik engagieren, erleben | |
> Anfeindungen. Vor allem Bürgermeister stehen unter Beschuss. | |
Bild: Ländliche Idylle? Kinder des Kindergartens in Nebelschütz feiern Ende J… | |
NEBELSCHÜTZ/PULSNITZ taz | Bürgermeister zu sein, ist der schönste Beruf“, | |
sagt Thomas Zschornak ganz am Ende des Gesprächs. Dieser Satz ist eine | |
Überraschung. Zschornak, 59 Jahre alt, Angehöriger der slawischen | |
Minderheit der Sorben, seit 1990 CDU-Mitglied, sitzt entspannt in seinem | |
Garten. Es ist ein heißer Tag im Sommer 2023, die Sonne steht bereits tief. | |
Zschornak war seit 1990 Bürgermeister in seiner Heimatgemeinde Nebelschütz, | |
20 Kilometer von Bautzen entfernt. Zur Wahl 2022 trat er nicht mehr an. | |
Jüngere sollten ran. Den Übergang hatte er geordnet. So glaubte er. | |
Doch einen Sommernachmittag lang erzählt Zschornak, wie es anders kam. Wie | |
er plötzlich an Krücken ging, an Entzündungen litt, monatelang krank war. | |
Und wie sein Vertrauen in die politischen Institutionen ins Wanken geriet. | |
60 Prozent der Menschen, die sich in der Kommunalpolitik engagieren, haben | |
bereits Anfeindungen und Aggressionen erlebt, [1][belegt eine Studie der | |
Universität Duisburg-Essen in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung | |
vom Dezember 2022]. Aus diesem Grund hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser | |
Ende Januar die [2][Ansprechstelle zum Schutz kommunaler Amts- und | |
Mandatsträger] gestartet, die vom deutschen Forum für Kriminalprävention | |
aufgebaut wird. Es sind Ratsmitglieder, politische Wahlbeamte oder | |
ehrenamtliche Bürgermeister wie Thomas Zschornak, der sich seit fast zwei | |
Jahren gegen anonyme Anfeindungen zur Wehr setzt. | |
Zschornak kam im Wendejahr 1990 in die Kommunalpolitik. Er hatte den | |
Ehrgeiz, seinem Dorf einen Ausweg zu zeigen aus Abwanderung, Niedergang, | |
Mutlosigkeit – das Gemisch hatte viele Orte erfasst, besonders aber die | |
wenigen sorbischen zwischen Kamenz und Bautzen, wo jeder Wegzug doppelt | |
wog. Die Sorben sind ein winziges Volk. Von 60.000 ist seit Jahrzehnten die | |
Rede, vermutlich sind es weniger. | |
Die Nebelschützer wählten 1990 einen 26 Jahre jungen Kerl zum Wjesnjanosta, | |
zum Bürgermeister. Irgendwann ließ er in den Balken vom Gemeindehaus | |
hacken: „Za plotom njeschwaj so!“, auf Deutsch: „Pack zu!“ | |
Nach mehr als drei Jahrzehnten ist das Ergebnis eindeutig. Das belegen | |
Auszeichnungen, darunter Landeswettbewerbe und Bundeswettbewerbe, ein | |
europäischer Preis, ein Generationenpreis und ein Zukunftspreis für | |
„enkeltaugliche Energiewirtschaft“. | |
„Enkeltauglichkeit“ ist Zschornaks Lieblingswort. Busladungen von Gästen | |
hat der Bürgermeister durch Nebelschütz geführt, darunter auch eine | |
taz-Reisegruppe. Thomas Zschornak hat den Kindergarten präsentiert, den | |
Dorfladen, die schattige Bachaue, aber auch die alte Ferkelanlage, aus der | |
eine Garnelenzucht geworden ist. Und im Steinbruch „Krabatstein“ treffen | |
sich alljährlich im August Bildhauer aus aller Welt und verwandeln | |
Granitblöcke zu Plastiken. | |
Dazu kommen die Energiegenossenschaft und die Flurstücke für das Ökokonto, | |
mit dem die Gemeinde Flächen anbietet für Ausgleichsmaßnahmen, etwa beim | |
Bau von Windrädern. Zschornak hat sich auch inspirieren lassen, hat die | |
Gemeinde geöffnet. Er hat Energieberater eingeladen, Kontakt zu Start-ups | |
geknüpft. Und da in Nebelschütz, sorbisch Njebjelcicy, das Wort Njebjo | |
steckt, zu Deutsch Himmel, heißt der Werbespruch der Gemeinde: | |
„Nebelschütz, vom Himmel geküsst“. | |
Manchem muss Thomas Zschornak wie ein Zauberer vorgekommen sein, wie ein | |
neuer Krabat, jene sorbische Sagenfigur, über die man Wundersames | |
berichtet. Das Vorbild für Krabat war Johann Schadowitz aus dem 17. | |
Jahrhundert, der vom sächsischen Kurfürsten mit einem Gut in der | |
Oberlausitz belehnt wurde. | |
„Krabat von Nebelschütz – von der Wahrheit geküsst“ stand auf dem Zette… | |
der im März 2022 in Nebelschützer Postkästen steckte und „Wahrheiten statt | |
Phantasie“ versprach, vor allem über den horrenden Schuldenstand der | |
Gemeinde und eine angeblich drohende Insolvenz. | |
Das Pamphlet kündigte Beweise für die Behauptungen an, die am nächsten Tag | |
freigeschaltet werden sollten unter wahrheit-schadowitz.com. | |
Wer hat die Webseite verfasst? Wer hat vertrauliche Dokumente online | |
gestellt? Wer hat die Zettel verteilt? Eine „investigative Gruppe aus | |
Recherche- und Wirtschaftsspezialisten“, behauptet die Webseite. | |
## Zögerliche Ermittlungen | |
„Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte“, gesteht Zschornak beim | |
Gespräch in seinem Garten. Seine Familie wurde angegriffen. Sein Sohn hätte | |
billig ein Grundstück erworben, sein Gartenteich wäre illegal angelegt | |
worden. Es ging um angeblich windige Gemeindefinanzen, rechtswidrige | |
Verträge, um Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch, Titelhuberei. | |
Zschornak erstattet Anzeige gegen unbekannt. Weil die Ermittlungen nur | |
zögerlich anlaufen, sucht er selbst nach Zeugen und beauftragt einen | |
Detektiv. Der recherchiert, die Webseite soll von einer Briefkastenfirma in | |
Prag betrieben worden sein im Auftrag eines slowenischen Geschäftsmanns. Es | |
wirkt wie eine Verschwörung. | |
Die Landesregierung in Dresden meldet sich. Allerdings anders als von | |
Zschornak erhofft. Das Innenministerium lässt die anonymen Vorwürfe prüfen | |
und beauftragt die Kommunalaufsicht des Landratsamts Bautzen. „Ich habe | |
zwei Monate lang Protokolle geprüft“, erzählt Zschornak. „Ich war ja noch | |
ehrenamtlicher Bürgermeister!“ Und so muss Zschornak wie ein Beschuldigter | |
im Gemeindearchiv nach Entlastendem suchen. Es hat etwas Erniedrigendes. | |
Hinzu kommen Selbstzweifel. Hat er jemanden verletzt? Jemanden übergangen? | |
Sind ihm Fehler unterlaufen? Hat er Hinweise missachtet? Zschornak | |
exponiert sich beim Serbskj Sejm, der ersten gewählten Volksvertretung der | |
Sorben, die mit Wucht für Minderheitenrechte streitet, was nicht bei allen | |
– auch nicht bei allen Sorben – gut ankommt. Der Sejm hat sich 2018 | |
konstituiert. In Nebelschütz. | |
Hat sich Zschornak Feinde gemacht? Es gibt eine Vorgeschichte, erzählt er. | |
Nach der Kommunalwahl 2019 ändert sich der Gemeinderat. Neue Mitglieder | |
kommen hinzu. Es gibt Streit. Erste anonyme Anzeigen werden aktenkundig, | |
auch Dienstaufsichtsbeschwerden, dazu Abmahnungen von seinem Vorgesetzten | |
über angebliches Fehlverhalten. Zschornak arbeitet im Verwaltungsverband, | |
zu dem Nebelschütz gehört. „Bei der ersten Abmahnung habe ich noch | |
gelacht.“ Doch das kippte bald. „Ich konnte nichts mehr sagen. Ich habe | |
geweint.“ | |
Im Juli 2022 bekommt Zschornak den Bescheid, dass die „rechtsaufsichtliche | |
Prüfung“ keine persönliche Vorteilsnahme“ und kein „rechtswidriges Hand… | |
erkennt. Doch die Webseite bleibt online. Zschornak hat inzwischen | |
Entzündungen am ganzen Körper, seine Knie schwellen an, er geht an Krücken, | |
bekommt Depressionen. Auf Fotos wirkt er deutlich gealtert. Es erscheint | |
alles wie eine Abrechnung. Aber warum jetzt, da Zschornak aufhört? | |
Es geht offenbar darum, Zschornaks Vision von einer Gemeinde, zugleich | |
bodenständig und weltoffen, traditionsbewusst und zukunftsfähig, zu | |
diskreditieren und ihn politisch zu erledigen. Mit Folgen. Zschornaks | |
Stellvertreter, der für das Bürgermeisteramt kandidieren wollte, zieht | |
zurück. Er war ebenfalls anonym geschmäht worden. In einem Telefonat mit | |
der taz bestätigt er das, nennt aber noch einen weiteren Grund. Dem | |
Dachdeckermeister war klar, dass die Aufgabe im Ehrenamt nicht mehr zu | |
bewältigen sei. Er hatte darauf gesetzt, dass der Gemeinderat den Weg | |
öffnet für einen hauptamtlichen Bürgermeister, gemeinsam finanziert von | |
Gemeinde und Freistaat. | |
Doch der Gemeinderat lehnt ab. So steht im Juni 2022 nur noch ein Kandidat | |
zu Wahl. Er wird mit mehr als 86 Prozent gewählt. | |
## Verworrene Internetdelikte | |
Im August 2023 legt der sächsische Rechnungshof einen turnusmäßigen | |
Prüfbericht der Gemeinde vor. Die Behörde moniert fehlende | |
Haushaltsdisziplin, stellt aber fest, dass die Gesamtverschuldung knapp | |
unter dem Richtwert von 850 Euro pro Einwohner liegt, und attestiert | |
Nebelschütz eine „hinreichende Leistungsfähigkeit“ – von Insolvenz keine | |
Rede. | |
Doch die Beamten finden Kritikwürdiges, etwa mangelnde Aktenführung, | |
anfechtbare Beraterverträge, zu geringe Pachteinnahmen, das Fehlen eines | |
Vertragsregisters. Es sind Kritikpunkte, aber nichts, was Thomas Zschornaks | |
Bürgermeisterzeit nachträglich in Verruf bringen würde. Wer die 63 Seiten | |
allerdings gelesen hat, verspürt keine Lust mehr auf den Job eines | |
ehrenamtlichen Bürgermeisters. | |
Die Urheber der Webseite sind bis heute unbekannt. Politisch lassen sie | |
sich nicht zuordnen. Zschornak vermutet Personen aus seiner Gemeinde. Kurz | |
nach einem ersten überregionalen Beitrag im Deutschlandfunk verschwindet | |
die Seite im Sommer 2023 aus dem Internet. Wenig später nimmt die | |
Staatsanwaltschaft Görlitz in Zusammenhang mit der anonymen Webseite | |
Ermittlungen gegen Zschornaks Amtsnachfolger und den damaligen Leiter des | |
Verwaltungsamtes auf. | |
Der parteilose heutige Bürgermeister, von der taz befragt, schweigt zu den | |
Ermittlungen, listet aber alle Verfehlungen aus dem Prüfbericht auf. Der | |
ehemalige Amtsleiter vergleicht die Urheber der anonymen Webseite mit der | |
Investigativgruppe Bellingcat, die unter anderem zu Kriegsverbrechen in der | |
Ukraine recherchiert. „Jegliche Verleumdung ist zu verabscheuen“, | |
bekräftigt er, um anschließend bei Zschornak eine psychische Erkrankung zu | |
insinuieren. | |
Als „verworren“ bezeichnet der Sprecher der Staatsanwaltschaft Bautzen den | |
Fall und räumt ein, dass Internetdelikte grundsätzlich schwer zu verfolgen | |
seien. Die CDU im Landkreis Bautzen hält sich auffallend zurück, einem | |
langjährigen Kommunalpolitiker beizustehen. Die Geschäftsführerin der | |
Kreisgeschäftsstelle lehnt eine mündliche Stellungnahme ab, eine in | |
Aussicht gestellte schriftliche erfolgt auch nach Tagen nicht. | |
Thomas Zschornak wirkt in seinem Garten im Sommer erholt und spricht über | |
neue Pläne. Er plant, eine gemeinwohlorientierte Stiftung zu gründen, es | |
geht um natürliche Ressourcen, um das Zusammenleben im ländlichen Raum, um | |
Kommunikation, Beratung, einen Namen hat er schon: „Enkeltauglichkeit“. Er | |
sammelt Stiftungskapital. Und er geht gezielt auf Leute zu, die sich für | |
den neuen Gemeinderat aufstellen lassen, der im Juni 2024 gewählt wird. | |
Vielleicht findet sich dabei jemand, der später einmal in Zschornaks | |
Fußstapfen treten wird. Ein Grund, sich reinzuknien, wird dabei nicht | |
fehlen: „Bürgermeister zu sein, ist der schönste Beruf!“ | |
Die Kampagne gegen Thomas Zschornak mag außergewöhnlich sein, einzigartig | |
ist sie nicht. Mitte Februar 2023 finden sich in verschiedenen Postkästen | |
der Kleinstadt Pulsnitz „Urlaubsgrüße“, angeblich von Bürgermeisterin | |
Barbara Lüke, die sich damals tatsächlich mit ihrer Familie im Urlaub | |
befindet. Die Botschaft: Die Bürgermeisterin ist in der weiten Welt | |
unterwegs und kümmert sich nicht um ihre Stadt. Im Kleingedruckten ist von | |
einer „satirisch künstlerischen Aktion“ die Rede, die Verfasser bleiben | |
anonym. | |
Vom Urlaub, sagt Lüke, wussten nur die engsten Rathausmitarbeiter und der | |
Ältestenrat im Stadtrat. Im Internet wird die vermeintliche Karte | |
verbreitet. In Pulsnitz ist zu dieser Zeit gerade Wahlkampf, die parteilose | |
Lüke will das Rathaus verteidigen. Mit 58 Prozent wird sie im zweiten | |
Wahlgang bestätigt. Der Herausforderer von der AfD unterliegt deutlich. | |
Sicher war das nicht. Denn Lüke verbringt die entscheidenden Wochen vor der | |
Wahl im Krankenbett. | |
Hätte sie aufgegeben, hätte damals der erste hauptamtliche | |
AfD-Bürgermeister Deutschlands im Pulsnitzer Rathaus die Geschäfte | |
aufgenommen. Das geschah ein Vierteljahr später in Raguhn-Jeßnitz in | |
Sachsen-Anhalt. | |
## Zerstörerische Kraft von Falschbehauptungen | |
Beim Treffen mit der taz ist es Dezember, Barbara Lüke laboriert seit dem | |
Frühjahr am Knie, ihre Gesundheit ist noch nicht wiederhergestellt, das | |
Gehen fällt ihr schwer. Von Pulsnitz nach Nebelschütz sind es kaum 15 | |
Kilometer, beides Orte im Landkreis Bautzen. | |
Lüke kennt Thomas Zschornak. Gemeinsam mit ihm und zwei weiteren | |
Amtsträgern hat sie dem sächsischen Innenminister Armin Schuster von der | |
CDU im September 2022 einen Brief geschrieben zur „Unterstützung von | |
Bürgermeistern in Bedrohungslagen“. Dabei gehe es nicht nur um | |
„strafrechtliche Aspekte“ oder spektakuläre Einzelfälle“. Mandatsträger | |
fühlen sich bei Gefährdungen alleingelassen, geben auf, treten nicht mehr | |
an. Lüke selbst kann von Eierwürfen auf ihr Haus erzählen, auch von | |
Beschimpfungen auf offener Straße und Unglaublichkeiten in den sozialen | |
Netzwerken. | |
Solche Anfeindungen hatten ihr bereits im Sommer 2019 zusammen mit anderen | |
eine Einladung zum Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue eingebracht. | |
[3][Und im Dezember 2019 lud Frank-Walter Steinmeier zu einer seiner | |
„Kaffeetafeln“ nach Pulsnitz.] | |
Doch das ist nicht der Alltag. „Es sind die vielen kleinen Geschichten, | |
dieses Diffuse, was sich in den letzten Jahren breitgemacht hat“, erzählt | |
Lüke. Es geht um die Unterminierung von Verwaltung, um die Diffamierung von | |
Amtsträgern, um die Diskreditierung von Beschlüssen im Stadtrat. Es ist | |
eine Strategie, bei der man die Verästelungen der Geschäftsordnung und | |
Kommunalverfassungen kennen muss, um zu wissen, wie Stadtratssitzungen | |
protokolliert werden und welch zerstörerische Kraft Falschbehauptungen | |
entfalten können. | |
Die Methode ist denkbar einfach. „Es müssen auch Falschbehauptungen | |
protokolliert werden, wenn es eine Fraktion wünscht“, erklärt Lüke. Diese | |
Unwahrheiten werden dann Teil der offiziellen Sitzungsniederschrift. Mit | |
Unterschriften versehen sind sie „amtlich beglaubigt“ und Teil einer | |
verborgenen Wirklichkeit. Eine Meisterin dieser geradezu Orwell’schen | |
„Wahrheiten“ ist die AfD, die seit 2019 im Pulsnitzer Stadtrat vertreten | |
ist. Ihr Kopf ist der Fraktionsvorsitzende, ein Bauingenieur, der Lüke im | |
zweiten Wahlgang der Bürgermeisterwahl unterlegen war. | |
In der Praxis läuft das so ab: Man kann zu jedem realen Sachverhalt im | |
Stadtrat das Gegenteil behaupten und anschließend fordern, dass diese | |
Behauptung ins Protokoll aufgenommen wird. Später kann die AfD dann solche | |
Sätze auf sozialen Kanälen als „unterdrückte Tatsachen“ enthüllen. Die | |
Sitzungsprotokolle haben sich seitdem auf dutzende Seiten aufgebläht. Und | |
wehe, wenn doch noch eine solcher „Tatsachen“ fehlt. Dann beklagt die AfD | |
„frisierte Mitschriften“, verkündet eine „Protokollaffäre“ und leitet… | |
Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Bürgermeisterin ein. | |
Dienstaufsichtsbeschwerden erweisen sich auch sonst als hervorragende | |
Knüppel, Bürgermeister zum Straucheln zu bringen. „Obwohl ich für meine | |
politischen Überzeugungen gewählt wurde, darf ich sie als Bürgermeisterin | |
nicht vertreten“, sagt Lüke. „Denn als Wahlbeamtin bin ich zur Neutralität | |
verpflichtet.“ Ein Paradoxon. „Sobald ich in meiner Amtsausübung etwas | |
sage, was nicht neutral ist, hagelt es Beschwerden, weil ich den Grundsatz | |
der Neutralität verletzt hätte.“ Jemand wie Lüke muss jedes Wort auf die | |
Goldwaage legen. Sie nennt es „Gratwanderung“. Und so findet das Gespräch | |
mit der taz in privater Runde statt – vorsichtshalber. | |
Ihr Arbeitsplatz, das Rathaus am Markt – es sind eigentlich drei | |
historische Gebäude an der Ostseite des Marktes –, ist seit der | |
Komplettsanierung Gegenstand permanenter Desinformation. Die Steigerung der | |
Sanierungskosten auf 6 Millionen Euro ist bei einer denkmalgerechten | |
Sanierung einer ganzen Häuserzeile in Zeiten von Inflation und rapide | |
gestiegenen Baukosten erklärbar. Inzwischen ist das Ensemble ein Blickfang | |
für den Markt, zudem ein funktionaler Verwaltungsbau in historischem | |
Gewand. Lüke hatte außerdem herausgehandelt, 90 Prozent der Baukosten | |
gefördert zu bekommen. | |
Für die AfD ist es trotzdem ein „Millionengrab“, für das die Bürger mit | |
höheren Hundesteuern bluten müssten. Ein Protestschreiben gegen die erhöhte | |
Hundesteuer endete „mit deutschem Gruß“. Dass diese Formel in der | |
Bundesrepublik verboten ist, habe er nicht gewusst, entschuldigte sich der | |
„deutsche Steuerzahler“ vor Gericht. | |
„Wir müssen jedes kleine Mosaikstückchen zusammensetzen und dann gucken, | |
was rauskommt“, sagt Lüke. Für sie ist das Bild eindeutig, es ist eine Form | |
von „Zersetzung“, von „geschulten Leuten“ organisiert und mit einer | |
unheimlichen Ausdauer gegen Amtsträger gerichtet. „Das führt dann dazu, | |
dass sie als Bürgermeister in eine reaktive Position kommen. Sie können | |
nicht mehr agieren.“ | |
Verfahrenstricks, Protokollaffären, Beschwerden – der Pulsnitzer | |
AfD-Fraktionsvorsitzende hat das destruktive Theater inzwischen auf den | |
Landkreis Bautzen ausgeweitet, sagt Lüke. Der Ingenieur wurde 2019 vom | |
Kreistag zum zweiten stellvertretenden Landrat gewählt, mit Unterstützung | |
der CDU-Fraktion. „Und dann sagt man mir: Dramatisieren Sie doch nicht so | |
viel! Die müssen mal die Augen aufmachen.“ Barbara Lüke weiß, dass sie in | |
solchen Momenten wie eine Kassandra wirkt. | |
Vermutlich sieht die Juristin, Jahrgang 1968, tatsächlich vieles klarer. | |
Sie stammt aus Marburg in Hessen, zog im Jahr 2000 nach Pulsnitz, ihre | |
Tochter wurde hier geboren. Lange noch pendelte sie nach Leipzig zur | |
Sächsischen Aufbaubank, wo sie eine leitende Position innehatte. Erst 2016 | |
wird sie als Quereinsteigerin, unterstützt von einem kommunalen Bündnis, | |
zur neuen Bürgermeisterin gewählt. Auslöser für ihr Engagement war die | |
beabsichtigte Schließung einer Grundschule. | |
Es gibt aber noch einen anderen, einen familiären Hintergrund. „Mein Vater, | |
Jahrgang 1910, hat mich in die Politik gebracht. Er hat genau mitgekriegt, | |
wie das ‚Dritte Reich‘ entstanden ist“, erzählt sie. „Und ich habe | |
permanent Déjà-vus.“ | |
Etwa ein Drittel ihrer Stadträte tragen sich mit dem Gedanken, im Frühjahr | |
aufzuhören, sagt Lüke – keine Zeit, zu alt, keine Motivation. „Wir können | |
eigentlich nur damit motivieren, dass wir sagen: Platz nehmen, kein Vakuum | |
lassen!“ Jeder, der geht, macht möglicherweise Platz für einen | |
AfD-Kandidaten. Wirklich einladend klingt das nicht. Derzeit hat die AfD | |
drei Stadträte. Doch sie trommelt schon lang für „neue politische | |
Verhältnisse“ im Juni 2024. | |
Auf das Schreiben an Innenminister Schuster 2022 hat Lüke keine Antwort | |
erhalten. Doch inzwischen mehren sich die Zeichen, dass die Landespolitik | |
die Gefahr für die „Keimzelle der Demokratie“ – so die in Festreden gern | |
verwendete Umschreibung für Kommunalpolitik – erkannt hat. Thomas Zschornak | |
hat Anfang Februar mit dem Koordinator für Opferschutz der sächsischen | |
Polizei gesprochen, und ein CDU-Landtagsabgeordneter, Mitglied im | |
Innenausschuss, hat ihm Unterstützung zugesagt. Für Februar hat das | |
sächsische Innenministerium eine [4][Konferenz zur Sicherheit von | |
kommunalen Amts- und Mandatsträgern] angekündigt. | |
Sie ist auch nötig. Im Dezember erhält der ehrenamtliche Ortsvorsteher von | |
Dörgenhausen, einem Dorf im nördlichen Teil des Landkreises Bautzen, eine | |
anonyme Aufforderung zum Rücktritt. In dem Schreiben heißt es, der | |
Ortsvorsteher habe seine Machtposition für eigene Interessen ausgenutzt, | |
„ohne daran zu denken, dass wir EINE Gemeinschaft und EIN Dorf sind“. Es | |
ist überhaupt viel von „Gemeinschaft“ die Rede. Unterschrift: „Ein | |
besorgter Bürger, der das ausspricht, was Bürger unseres Dorfes denken.“ | |
Ortsvorsteher Eugen Diesterheft berichtet der taz am Telefon, dass er den | |
Brief sofort der Polizei übergeben habe. „Offene Kritik, ja“, sagt | |
Diesterheft. „Aber anonyme Angriffe?“ Es ist wie ein Übel, wie Fäulnis. | |
„Wenn das durchkommt, wer soll sich da noch als Ehrenamtlicher aufstellen | |
lassen?“ | |
14 Feb 2024 | |
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[1] /Studie-zu-Hetze-in-der-Kommunalpolitik/!5902036 | |
[2] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2024/01/ansprechst… | |
[3] /Soziologe-ueber-Angriffe-auf-Politiker/!5652570 | |
[4] https://www.asskomm.sachsen.de/5-jahre-allianz-sichere-saechsische-kommunen… | |
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Thomas Gerlach | |
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