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# taz.de -- „The Holdovers“ von Alexander Payne: Trampelpfad durchs Leben
> Wie eine Zwangsgemeinschaft im Internat zu sich findet: Alexander Paynes
> Film „The Holdovers“ ist eine Hommage an das US-Kino der 70er Jahre.
Bild: Die „Holdovers“: Angus Tully (Dominic Sessa), Paul Hunham (Paul Giama…
Schulen sind Notgemeinschaften. Junge Menschen werden hingeschickt, weil
ihre Eltern die Brut bilden müssen; alte Lehrer:innen haben den
Enthusiasmus längst drangegeben und sitzen die Jahre bis zur Pensionierung
auf einer Gesäßhälfte ab. Zugleich symbolisiert jede Schule, und erst recht
jedes Internat, all jene Versprechen von guter Bildung in inspirierender
Atmosphäre, von Wertevermittlung und Charakterformung.
Die „Barton Academy“, eine klassische, ungastlich trutzige „Boarding
School“ im New England des Winters 1970, lebt von diesen Versprechen – und
ist gleichzeitig der Beweis für die dort vorhandenen Konflikte: Dass
Bartons Lehrer für Altertumsstudien Paul Hunham (Paul Giamatti) ein so
genanntes „lazy eye“, eine Sehminderung auf dem linken Auge hat, die er
durch einen besonders autoritären Lehrstil zu kompensieren scheint, deutet
es an. Hunham ist der Prototyp des unbeliebten Paukers – er ist pedantisch,
gemein, empathie- und humorlos. Teenager hassen ihn.
Die kleine Gruppe von Verdammten, die über die Weihnachtstage nicht nach
Hause fahren kann, ist darum fassungslos, als sie erfährt, wer in diesem
Jahr die Feiertagsaufsicht zwischen den Jahren übernimmt. Ausgerechnet
Professor Hunham soll die Armen statt mit Truthahn mit langweiligen Details
über die punischen Kriege füttern. Und sie Silvester nach einem fleißigen
Studientag um kurz nach neun ins Bett schicken.
Besonders gestraft fühlt sich Angus Tully (Dominic Sessa) – der
langgewachsene 16-jährige Trotzkopf wurde von seiner Mutter kurzerhand
zugunsten ihres neuen Partners zurückgestellt. Nachdem die Handvoll
mitgefangener Schüler doch noch in die Freiheit entweichen kann, bleiben
drei echte „Holdovers“ (Überbleibsel) auf dem verschneiten Campus zurück:
Hunham, Tully und die Küchenchefin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph), deren
Sohn, der erste schwarze Student der Schule, kurz zuvor in Vietnam gefallen
ist.
## Reise zum besseren Teil ihrer selbst
Und so nimmt die Katastrophe ihren Lauf: Tully verrenkt sich bei einem
Wutsprung im unbeheizten Sportraum die Schulter und kompromittiert damit
Hunham, dessen Aufsichtsengagement ohnehin meist mit zunehmendem
Alkoholkonsum gen Abend verwässert. Die drei aus verschiedenen Gründen
unglücklichen Mitglieder der Schicksalsfamilie, die den Campus eigentlich
nicht verlassen dürfen, machen sich darum auf den Weg in die Stadt – und
auf eine Reise zu einem besseren Teil ihrer selbst.
Das Setting von Alexander Paynes Tragikomödie wühlt tief in den
Erfahrungen, die fast jeder Erwachsene einst auf die eine oder andere Weise
gemacht hat: Es sind die ambivalenten Gefühle von Schutzbefohlenen
gegenüber Lehrer:innen und (wie der Lateiner aus Leidenschaft Hunham
sagen würde) vice versa.
Denn irgendwo tief drinnen in Hunhams Herz findet sich – selbstverständlich
– eine große Portion Menschlichkeit, die der verhasste Mann über die Jahre
erfolgreich verschüttet hat, und die Tully, als vorübergehender Quasi-Sohn,
dann doch reanimiert.
Paynes Film zeichnet seine konventionellen, aber authentischen Figuren mit
viel Liebe. Der schlaksige Tully, den der Kino-Newcomer Dominic Sessa mit
großer körperlicher Hingabe und pubertärer Verletzlichkeit spielt, muss die
aus Vorsicht gekappten Verbindungen zu seiner weichen Seite ebenso
wiederherstellen wie der von Giamatti mit unfassbarem Timing und echtem
wandernden Auge verkörperte Hunham.
Es ist, so bewusst altmodisch gibt sich Payne gemeinsam mit Drehbuchautor
David Hemingson, selbstredend die leidgeprüfte Mutter Mary (!), die den
angehenden und ausgehenden Männern vorleben muss, wie man seine Trauer,
seine Verlustgefühle und auch seine Wut anständig kanalisiert.
## Inspiriert von Klassikern wie „Die Reifeprüfung“
Doch diese erwartbare Konstellation passt zum Film: „The Holdovers“ ist
eine atmosphärische und absolut überzeugende Hommage an das US-Erzählkino
der späten 60er und frühen 70er, visuell inspiriert von
romantisch-aufrührerischen [1][Klassikern wie „Die Reifeprüfung“] oder
„Harold and Maude“.
Der dänische Kameramann Eigil Bryld lässt das riesige, dabei ungastliche,
aber auch verheißungsvolle College-Backsteingebäude in ruhigen Bildern
wirken, während Cat Stevens und die Allman Brothers die Retro-Tonspur
streicheln. Sogar klassische 70er-Zooms wurden eingebaut, die – zusammen
mit einem analogen, aus alten Fonts und Styles generierten Titeldesign im
Vorspann – die Illusion eines aus der Zeit gefallenen Films komplett
machen.
Wie um zu zeigen, wie gut Humanismus und „humanistische Bildung“
zusammenpassen, balanciert der Film so die vielen körperlichen und
psychischen Schwächen seiner Protagonist:innen behutsam nach und nach
aus – ohne in Harmonie zu versinken:
Als Hunham, Tully und Mary von der eifrigen Schulsekretärin Lydia Crane
(Carrie Preston) dann doch noch auf eine private Weihnachtsfeier eingeladen
werden, bringen alle drei ihre eigenen Miseren als Gastgeschenk mit –
Hunham hat (das auch noch!) ein Problem mit seinem BO, dem „Body Odor“,
Tully ist ein einsamer, verdrossener und hormongesteuerter Pubertist, und
Mary fällt es in Gesellschaft besonders schwer, sich nicht der Trauer um
den verlorenen Sohn hinzugeben.
## Notgemeinschaft oder Notfamilie?
Und so werden mal aus Berechnung, mal aus Angabe, mal aus reiner
Piesackerei lateinische Zitate gewechselt; es werden Herzen erweicht, Kekse
gebacken und Schnapsflaschen geleert. Dennoch müssen noch einige Tonnen
(Kunst-)Schnee fallen, bis aus der Notgemeinschaft eine (Art von) Beziehung
wird, und Hunham und Tully sich einen neuen Trampelpfad durch die
Schwierigkeiten ihres Lebens stapfen können – was für einen von ihnen
bedeutet, prinzipiell die Richtung zu ändern.
Erzählungen über Lehrer:innen-Schüler:innen-Verhältnisse sind so alt wie
das Kino selbst, und spiegeln stets die (durch ihre Pädagog:innen) geprägte
jeweilige Gesellschaft. Vom Pathos, bei dem sich etwa das
Lehrer-Schüler-Drama „Der Club der toten Dichter“ bedient, ist „The
Holdovers“ in seinem Anachronismus aber ebenso weit entfernt wie von der
lustvollen Anarchie der [2][„Fack ju Göhte“-Reihe]-Reihe, der
einlullend-spießigen Nostalgie der „Feuerzangenbowle“ oder der
psychologischen Genauigkeit in [3][İlker Çataks Bildungssystem-Parabel „Das
Lehrerzimmer“], in dem sich die Lehrerschaft mit ihren mehr oder minder
gelungenen Versuchen, „moralisch“ zu handeln, immer stärker in Fragen um
Verdacht und Beweis, Ehrlichkeit und Lüge verstrickt.
Zudem mag man den Klassismus, den „The Holdovers“ klar als Grenze zwischen
Schwarz und Weiß, und damit zwischen Arm und Reich definiert, ein wenig
altmodisch finden, und seine Figuren – der alleinstehende, müffelnde, weiße
Bildungsbürger/Lehrkörper, der wütende Backfisch, die Schwarze, großherzige
Hausangestellte – damit ein wenig zu typisch. Und vor allem Tullys Marsch
zu sich selbst, der über eine lang verdrängte Verlusterfahrung und die
Auseinandersetzung mit der Krankheit seines Vaters führt, wirkt zuweilen
klischiert.
Doch das Klischee des „Guten“ im Menschen, das Payne in seinem Film
selbstbewusst einsetzt, um seine Figuren nicht im Stich oder scheitern zu
lassen, stammt schließlich ebenfalls aus jener kurzen revolutionären
Aufbruchszeit der späten 60er, die – räumlich weit vom friedlichen Campus
entfernt, aber dennoch spürbar – den Rahmen des Films bildet. Und da
schienen Veränderungen eben noch zum Greifen nahe.
25 Jan 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Jenni Zylka
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