| # taz.de -- Psychothriller „Eileen“ im Kino: Eine junge Frau mit Abgründen | |
| > „Eileen“ ist ein Psychothriller als surrealistische Groteske. Ottessa | |
| > Moshfegh schrieb das Drehbuch für die Verfilmung ihres gleichnamigen | |
| > Romans. | |
| Bild: Eileen (Thomasin McKenzie, re) und Dr. Rebecca Saint John (Anne Hathaway) | |
| Wenn am Schluss ein feines, ungläubig triumphierendes Lächeln die Lippen | |
| von Thomasin McKenzie umspielt, will es einen frösteln. Man kann sich | |
| nämlich gut vorstellen, woran Eileen jetzt vielleicht denkt: an etwas, das | |
| ihr Vater zu ihr gesagt hat, der normalerweise stockbesoffen im Sessel | |
| liegt, manchmal aber nüchtern genug ist, um seine Tochter herunterzumachen. | |
| In einer Schlüsselszene des Films sitzen beide nebeneinander auf der Couch, | |
| was eigentlich ein schönes Bild häuslicher Eintracht sein könnte. Doch auch | |
| diesen Moment lässt der Vater nicht ungenutzt verstreichen und erklärt | |
| seiner Tochter in bewährter Grausamkeit ihr Leben: Es gebe Menschen, sagt | |
| er, auf die alle schauten, solche, die Dinge in Gang setzten. Und dann gebe | |
| es die anderen, die einfach nur da seien, deren Existenz aber absolut keine | |
| Rolle spiele: „Und so eine bist du, Eileen.“ Natürlich ist es kein Wunder, | |
| dass Eileen ernsthaft glaubt, alle Menschen wollten insgeheim ihre Väter | |
| ermorden. | |
| Die [1][Autorin Ottessa Moshfegh], die gemeinsam mit ihrem Mann, dem | |
| Schriftsteller Luke Goebel, das Drehbuch zu dieser Verfilmung ihres eigenen | |
| gleichnamigen Romans geschrieben und den Film auch mitproduziert hat, kennt | |
| sich aus mit Dingen, die Menschen sich im Geheimen wünschen, und hat diese | |
| dunkleren Triebe geradezu zum Markenzeichen ihres literarischen Schaffens | |
| gemacht. | |
| „Eileen“ handelt von einer jungen Frau, die als Hilfskraft in einem | |
| Jugendgefängnis jobbt. Sie ist irgendwie hängengeblieben in ihrem Leben, | |
| existiert trübe vor sich hin, stopft bergeweise Schokotoffees in sich | |
| hinein, die sie zerkaut und wieder ausspuckt, und masturbiert während der | |
| Arbeit zu sexuellen Fantasien über die jugendlichen Gefangenen. Die | |
| Tristheit dieses ungelebten Mädchenlebens wird optisch noch verstärkt durch | |
| die sepiabraune, farblose Ästhetik der fünfziger Jahre, in denen die | |
| Handlung spielt, und durch die chronische Abwesenheit von Licht in | |
| praktisch jeder einzelnen Einstellung. | |
| Es ist Winter in Massachusetts. Doch als eine neue Gefängnispsychologin | |
| ihren Dienst antritt, scheint in Eileens Leben eine hellere Ära angebrochen | |
| zu sein. Dr. Rebecca Saint John (Anne Hathaway), eine Frau mit Filmstaraura | |
| und knallbunten Klamotten, die im Knast wie ein Paradiesvogel wirkt, | |
| freundet sich mit Eileen an, umwirbt die unscheinbare junge Frau geradezu. | |
| Endlich fühlt Eileen sich gesehen und blüht auf. Aber diese Freundschaft | |
| unter ungleichen Vorzeichen kann selbstverständlich zu nichts Gutem führen. | |
| ## Wie auf einem alten holländischen Gemälde | |
| Thomasin McKenzie als Eileen ist eine Sensation, sie balanciert ihre Figur | |
| genau auf dem schmalen Grat zwischen jugendlicher Naivität und blankem | |
| Nihilismus. Anne Hathaway als Rebecca bringt es auf den Punkt, wenn sie | |
| sinngemäß sagt, Eileen habe ein Gesicht wie auf einem alten holländischen | |
| Gemälde, schlicht und doch abgründig. Hathaways Rebecca selbst wirkt aber | |
| nicht minder enigmatisch. Die Figur scheint wie aus einem David-Lynch-Film | |
| ausgeschnitten, zu blond und zu schön, als dass irgendetwas an ihr echt | |
| sein könnte, und eindeutig larger than life. | |
| Ein Quäntchen surrealistischer Überhöhung und Übertreibung wird durchgehend | |
| auf jede einzelne Figur angewendet, auch auf Eileens Vater, den | |
| sadistischen Alkoholiker. Dieses Verfahren verleiht dem Psychothriller, der | |
| „Eileen“ der Handlung nach ist, die gestische Anmutung einer sinistren | |
| Groteske. Sowohl ästhetisch als auch konzeptuell passt alles perfekt | |
| ineinander; auch die Bilder sind großartig und scheinen wirklich mitunter | |
| Interieurs im Vermeer-Style nachempfunden. Dramaturgie und Tempo stimmen | |
| perfekt; die Spannung hält durchgehend bis zum überraschend abrupten | |
| Schluss. | |
| Zweifellos ist Regisseur William Oldroyd ein Film gelungen, der seine | |
| Vorlage kongenial umsetzt. Und doch bleibt bei aller handwerklichen | |
| Brillanz am Ende ein blasses Fragezeichen im Hintergrund stehen, das nichts | |
| mit dem Film an sich zu tun hat, sondern mit Ottessa Moshfeghs Verhältnis | |
| zu ihren Figuren. | |
| Eines der künstlerischen Grundprinzipien der Autorin besteht darin, | |
| möglichst keine Identifikationsmöglichkeiten anzubieten. Ihre Charaktere | |
| sind verkorkst, verdorben, grausam oder mindestens total moralfrei. Es | |
| gibt, bei Lichte betrachtet, rein gar nichts Gutes in ihren fiktionalen | |
| Welten. | |
| Der Verlust, den man als Moshfegh-RezipientIn durch diese Verweigerung | |
| jedes Identifikationsangebots erleidet, wird durch den großzügigen Einsatz | |
| von grimmigem Humor allerdings in der Regel wieder ausgeglichen. Das ist im | |
| Prinzip ein faires Angebot und funktioniert auch in dieser filmischen | |
| Variante einwandfrei. Aber wenn jetzt einer käme und sagte, alles prima | |
| gemacht und so, aber welchen Sinn hat dieser geballte misanthropische | |
| Nihilismus denn so auf Dauer als künstlerisches Prinzip, dann wäre diese | |
| Frage gar nicht so leicht zu beantworten. | |
| 14 Dec 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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