# taz.de -- Ottessa Moshfeghs Roman „Lapvona“: Im Ausnahmezustand | |
> Kannibalismus, Herrschsucht, Inzest: Ottessa Moshfegh verhandelt in | |
> „Lapvona“ menschliche Abgründe. Eine Autorin mit Lust an Überzeichnunge… | |
Bild: Schriftstellerin Ottessa Moshfegh | |
Bei Ottessa Moshfegh in Pasadena, Los Angeles County, ist es 8.45 Uhr. Mit | |
wachem Blick schaut sie in die Laptop-Kamera. Sie möge die Morgenstunden, | |
um Interviews zu geben, sagt die Schriftstellerin im Videochat, „da hat man | |
noch nicht so viele andere Dinge im Kopf und kann sich auf die Fragen | |
konzentrieren“. | |
Moshfegh sitzt vor einem Mosaikfenster in einem Zimmer ihres Hauses, 15 | |
Kilometer von Downtown L. A. entfernt. Hier lebt sie in einem alten | |
Natursteinhaus gemeinsam mit ihrem Mann Luke Goebel, ebenfalls | |
Schriftsteller und Drehbuchautor, sowie ihren vier Hunden. | |
Von L. A. sei sie noch immer fasziniert, erzählt sie: „Es ist einer der am | |
wenigsten konservativen Orte, die ich kenne. Wenn du durch die Stadt | |
fährst, siehst du so viele verschiedene Lebensstile und Leute. Von den | |
aufgemotzten Plastikmenschen, die wie wandelnde Instagram-Profile durch die | |
Gegend laufen, bis hin zum Streuner im Zelt.“ | |
## Randfiguren, Outlaws, Außenseiter | |
Ottessa Moshfegh mag die Randfiguren, die Outlaws. Wenn man ihre bisherigen | |
Erzählungen oder auch ihren neuen Roman „Lapvona“ gelesen hat, kann es | |
daran keinen Zweifel geben. „Interessant wird es an den Rändern“, sagt | |
Moshfegh im Gespräch, „vom Drama des Lebens erzählen die Außenseiter, die | |
verbotenes Gelände betreten und außergewöhnliche Erfahrungen machen. Oder | |
auch Menschen, die ganz normal aussehen, aber nicht normal sind – was auch | |
immer ‚normal‘ bedeuten mag.“ | |
Moshfegh formuliert sehr bedacht, manchmal legt sie mehrere Sekunden lange | |
Pausen mitten im Satz ein, wendet den Blick zwischendurch ab, um | |
nachzudenken. | |
Ihren Durchbruch hatte die US-Autorin 2018 mit dem Roman „Mein Jahr der | |
Ruhe und Entspannung“. Er handelt von einer jungen New Yorkerin, die sich | |
mit Schmerzmitteln, Barbituraten und Psychopharmaka wegknallt, um in einen | |
Dauerschlaf zu fallen. | |
Auch die Geschichten in [1][„Heimweh nach einer anderen Welt“] (deutsch | |
2020) handeln von Ausnahmezuständen: Es geht um Junkies in Kleinstädten, | |
deformierte Heranwachsende und den Kampf mit ihren Körpern oder um einen | |
vereinsamten, unattraktiven Midager, der sein Heil im zügellosen Sex mit | |
Prostituierten sucht. Eine einsame alte Frau ist auch die Protagonistin des | |
Romans [2][„Der Tod in ihren Händen“] (deutsch 2021), eines Krimis oder | |
besser einer raffinierten Krimiparodie. | |
## Geschichte in mittelalterlichem Dorf | |
Auch ihr neuer Roman ist ein Mosaik schräger Gestalten, er ist eine Art | |
Antimärchen, das im Mittelalter in einem kleinen Dorf namens Lapvona | |
spielt. Lapvona wird von Fürst Villiam regiert, einem launischen Herrscher, | |
der ein ausschweifendes Leben führt. Der unförmige und ungeliebte Dorffreak | |
Marek stürzt den Sohn und potenziellen Nachfolger Villiams in den Tod – | |
ausgerechnet er selbst wird daraufhin zum Ersatzsohn des Fürsten. Im Dorf | |
kommt es derweil zu einer krassen Dürre, einem Überlebenskampf um die | |
Ressource Wasser. | |
Einmal mehr fährt Moshfegh hier die ganze Palette menschlicher Abgründe | |
auf: Kannibalismus, Gier, Herrschsucht, Inzest, Vergewaltigung, Mord, das | |
alles kommt vor. Auch um Religion, Aberglauben, Verschwörerisches geht es, | |
mit Ina gibt es eine Hexenfigur, die in der Lage ist, die Fruchtbarkeit der | |
Dorfbewohner zu beeinflussen. | |
Auffällig ist bei Moshfegh oft die explizite Darstellung von Körperlichem, | |
von dem, was gemeinhin als ekelig empfunden wird. „Ich will keine | |
körperlosen Figuren in meinen Erzählungen, ich möchte, dass meine Figuren | |
für den Leser plastisch werden, eine Dimension bekommen“, sagt sie. | |
Von Kritiker:innen wird Moshfegh zuweilen vorgeworfen, sie stelle das | |
Krasse und Kaputte bloß aus, ohne mit ihren Figuren etwas erzählen zu | |
wollen, ohne dass man sich mit ihnen identifizieren könne. Dem widerspricht | |
sie implizit: „Es ist nicht so, dass ich über das Abscheuliche und Dunkle | |
schreibe, weil ich es so sehr lieben würde“, sagt sie. | |
## Auf der Suche nach Antworten auf Probleme | |
„Ich wollte in ‚Lapvona‘ vom Glauben erzählen. Jede Figur in diesem Roman | |
hat ihre eigene Realität und ihren eigenen Gottesglauben. Meine | |
Arbeitshypothese war: Wir brauchen einen Gott, der uns unser Leiden erklärt | |
und durch den wir verstehen, wie und warum wir leben. Ich schuf also | |
bewusst Figuren, die Schwierigkeiten haben und nach Antworten auf ihre | |
Probleme und Fragen suchen.“ | |
Als etwas schräge Parabel auf die Klimakatastrophe und die zerstörerische | |
Kraft des ungebremsten Kapitalismus könnte „Lapvona“ auch ausgelegt werden. | |
Gewollt sei das nicht gewesen, sagt Moshfegh, doch es gebe weitaus | |
schlimmere Interpretationen als diese. Als Kalifornierin wisse sie aus | |
erster Hand, was der Klimawandel bedeute, zumal in diesen Tagen, in denen | |
in kurzer Zeit so viel Regen niederging wie sonst in mehreren Monaten. „Es | |
ist sehr beängstigend“, sagt sie. | |
Ottessa Moshfegh wurde 1981 in Boston geboren, ihr Vater stammt aus einer | |
jüdisch-iranischen Familie, ihre Mutter aus Kroatien. Sie studierte in New | |
York und Rhode Island kreatives Schreiben, zeitweilig lebte sie in China, | |
wo sie in einer Punkkneipe arbeitete. Zunächst schrieb sie Kurzgeschichten | |
für Literaturzeitschriften, erst mit dem 2015 für den Man Booker Prize | |
nominierten Roman „Eileen“ wurde sie bekannt. | |
Mit ihrem Buch „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ gewann sie viele Fans. | |
Vier Jahre nach Erscheinen wurde der Roman gar zum Kultbuch und -objekt bei | |
TikTok, die sogenannten Sad Girls beziehen sich auf sie, Moshfegh hält die | |
Sad Girls dagegen eher für unfeministisch, wie sie kürzlich der Zeit sagte. | |
Gemeinsam mit ihrem Mann arbeitet sie heute auch als Drehbuchautorin. | |
Zuletzt schrieben die beiden das Script für den Film „Causeway“ (2022). | |
## Zeitgenössische absurde Filme als Vorbild | |
Vielleicht sei „Lapvona“ auch deshalb etwas filmischer und visueller | |
geraten als vorherige Werke, sagt Moshfegh. „Ich hatte die Filme von Ingmar | |
Bergman im Kopf, vor allem den erschütternden Film ‚Die Jungfrauenquelle‘.… | |
Auch zeitgenössischere absurde Filme wie „The Lobster“ und „The Favourit… | |
von Giorgos Lanthimos hätten sie beeinflusst oder Klassiker von Robert | |
Altman. | |
Den Gedanken, „Lapvona“ könnte von Regisseuren wie David Cronenberg, Lars | |
von Trier oder David Lynch verfilmt werden, findet sie reizvoll: „Ich würde | |
gern alle drei Versionen sehen. Ich schätze alle sehr.“ | |
Sie kann sich dagegen nicht erinnern, welches Buch sie zuletzt gelesen hat | |
– zum Lesen von Romanen fehle ihr schlicht die Zeit. Als einen wichtigen | |
Einfluss hat sie einmal Charles Bukowski genannt. „Als ich anfing, Short | |
Stories zu schreiben, hatte ich gerade seine Prosa entdeckt. Im Moment | |
beschäftigt mich Bukowski aber nicht mehr so sehr“, sagt sie. | |
Doch dessen Haltung habe ihr einst imponiert: „Wie er sich über die | |
Vorstellung lustig macht, Literatur müsse etwas Gehobenes, Kultiviertes | |
sein, das fand ich toll. Und ich mochte die Einfachheit, den Humor.“ | |
## Humor und Freude am Splatter | |
Den Humor, die Lust zur Überzeichnung und die Freude am Splatter sollte man | |
auch in Moshfeghs eigenem Werk nicht unterschätzen. In „Lapvona“ setzt | |
sich die Figur Ina zum Beispiel irgendwann Pferdeaugen statt ihrer eigenen | |
ein und nimmt sie nachts zum Schlafen heraus. Fast hat man den Eindruck, | |
als baue Moshfegh bewusst solche Brüche und Kipppunkte ein, um jene zu | |
irritieren, die nach einer allzu reinen Moral der Geschichte suchen. | |
Eher geht es ihr auch in „Lapvona“ um die überspitzte und drastische | |
Darstellung einer Gesellschaftsform, wie sie in anderer Form noch heute | |
existiert. Der Fürst könnte auch von so manchem Mogul oder Autokraten der | |
Gegenwart ersetzt werden. | |
Auch das Spiel mit Genres gelingt Moshfegh gut: Nachdem sie in „Der Tod in | |
ihren Händen“ mit Krimiklischees gespielt hat, sind nun Märchenklischees | |
dran. Auch deshalb kann sich der Leser seiner Interpretation nie ganz | |
sicher sein. Vielleicht ist es ja dieses Austesten des lesenden Gegenübers, | |
das Moshfeghs Erzählungen auszeichnet. | |
Aus dem Studium des kreativen Schreibens habe sie mitgenommen, seiner | |
ersten Idee und Intuition nicht allzu sehr zu trauen. „Was ich dort gelernt | |
habe, ist: Schau immer, wie weit du es auf die Spitze treiben kannst, was | |
der Stoff noch hergibt.“ Wenn Ottessa Moshfegh das nun so sagt, klingt es | |
fast wie eine Drohung. | |
28 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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