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# taz.de -- Ukrainische Geflüchtete in Hamburg: Weil kein Frieden in Sicht ist
> In Hamburg hat die ukrainische Community nun ein eigenes Haus:
> Geflüchtete sollen sich hier ablenken können – mit Zumba, Chor und
> Klavierstunden.
Bild: Chor im „Ukraine Haus Hamburg“: ein rauer und traditioneller Gesang
Hamburg taz | Eins, zwei, drei, vier!“, schreit Bogdana Dzis und ein halbes
Dutzend Frauen versucht hektisch, ihre Bewegungen vor dem Spiegel
nachzumachen. Rechter Fuß vor, linker Fuß vor, zur Seite und drehen, dabei
die Arme nicht vergessen. Die Choreografie wird immer schneller, inzwischen
machen alle etwas Unterschiedliches. Als der Song vorbei ist, keuchen sie
erschöpft und müssen lachen. Dzis gibt Natalya, die direkt hinter ihr
steht, einen Handschlag. „Gut gemacht!“ Sie strahlt die Runde an. „Zumba
ist wichtig, um auch in diesen Zeiten entspannt und gesund zu bleiben!“
Es ist ein Montagabend im „Ukraïne Haus Hamburg“. Offiziell hat die
Einrichtung noch nicht eröffnet, aber jetzt schon treffen sich hier
[1][ukrainische Frauen] an drei Abenden in der Woche zum Zumba. Heute sind
es sieben, insgesamt hat die Gruppe 15 Mitglieder, erzählt Trainerin Dzis.
Sie kam im Frühling 2023 mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Hamburg.
„Seit ich sechs Jahre alt bin, tanze ich. Das wollte ich hier weitermachen
und es Frauen anbieten, die auch unter dem Krieg leiden und etwas Gutes für
sich tun möchten.“
Wenn über ukrainische Geflüchtete oder den Krieg berichtet wird, dann in
der Regel nur über Leid, Schmerz und Verzweiflung. Und tatsächlich
[2][entspricht das der Realität des Krieges]. Aber niemand kann permanent
in einem solchen Zustand leben. Im Ukraïne Haus Hamburg dürfen Menschen,
die seit dem 24. Februar 2022 die Hölle durchmachen, einfach mal nur
darüber lachen, dass sie beim Zumba nicht die richtige Schrittreihenfolge
geschafft haben. Sie dürfen in Hamburg ankommen und die menschlichen
Grundbedürfnisse stillen, die über eine bloße Unterkunft und Essen
hinausgehen: soziale Gemeinschaft, Kultur, Hobbys.
Die Einrichtung ist ein Projekt des Norddeutsch-Ukrainischen Hilfsstabs.
Der Hilfsstab gründete sich am ersten Tag des Krieges. Ukrainer*innen, die
schon länger in Hamburg lebten, versammelten sich an diesem Tag spontan zur
Demonstration vor dem russischen Generalkonsulat an der Alster. Nach der
Kundgebung tauschten sie Kontaktdaten aus und verabredeten sich für ein
Treffen. Es war eine dieser seltenen, besonderen Situationen, in denen alle
Beteiligten wussten: Jetzt zählt es.
## Viele Ukrainer*innen wollen endlich ankommen
In den ersten Tagen und Wochen des Krieges nahmen viele Urlaub von der
Arbeit, um rund um die Uhr Hilfe für die vielen Geflüchteten zu leisten,
die in vollen Zügen am Hamburger Hauptbahnhof ankamen. „Wir hatten in
dieser Zeit dreimal pro Tag Lagebesprechungen per Zoom“, erzählt Andriy
Terletskyy, der heute Vorstandsvorsitzender des Hilfsstabs ist. „Es ging
darum, sehr schnell effiziente Strukturen aufzubauen, um den ankommenden
Ukrainer*innen Unterkünfte und Ansprechpartner*innen zu
organisieren.“
Damals gab es noch die Hoffnung, dass der Krieg sehr schnell vorbeigehen
würde. Diese Hoffnung verschob sich immer weiter nach hinten. Jetzt, fast
zwei Jahre nach Kriegsbeginn, ist kaum ein Ende in Sicht. Es geht nicht
mehr nur darum, akute Nothilfe zu leisten, sondern viele Ukrainer*innen
wollen endlich ankommen. Sie können nicht mehr darauf hoffen, nur noch kurz
und vorübergehend hier bleiben zu müssen und bald in ihr gewohntes Leben
zurückkehren zu können.
Diese Erkenntnis ist vielleicht der schwerste Teil einer Flucht. Und mit
der Zeit häuften sich deshalb die Fragen von geflüchteten Ukrainer*innen
an Terletskyy und sein Team vom Hilfsstab: Wo kann ich meine Kinder
nachmittags hinschicken? Wo kann ich mich mit anderen Ukrainer*innen
treffen? Gibt es einen Ort, an dem wir Freizeitaktivitäten nachgehen
können? „Wir standen von Anfang an immer in engem Austausch mit der
Sozialbehörde“, sagt Terletskyy, „und haben deshalb dort angebracht, dass
wir gerne Räume hätten, um unserer Gemeinde solche Angebote bieten zu
können.“
Die Planungen begannen schon Ende 2022. Im Herbst 2023 wurden dann endlich
die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Der Hilfsstab bezieht diese vom
städtischen Unternehmen „Fördern und Wohnen“, die Kosten übernimmt die
Sozialbehörde. „Das große Engagement der ukrainischen Gemeinde war wirklich
herausragend und eine große Hilfe für die Stadt“, sagt dazu Susanne
Schwendtke, Sprecherin von Fördern und Wohnen. „Das wollen wir gerne
fördern.“
Die Fläche des Ukraïne Hauses umfasst insgesamt etwa 350 Quadratmeter. Von
einem großen Raum vorn führt ein breiter Flur ab. Daneben liegen mehrere
kleinere Zimmer, in denen später einmal auch parallel Kurse stattfinden
sollen: ein Kreativzimmer, ein Spielzimmer für Kinder, ein Unterrichtsraum
etwa für Deutschkurse und Abstellräume für Material. Insgesamt sieht es
noch sehr nach einer Behörde aus: Tatsächlich ist die Einrichtung an eine
große Unterkunft für 1.200 ukrainische Geflüchtete in der ehemaligen
Postbank in der City Nord angegliedert. Sie ist aber auch für die
Öffentlichkeit zugänglich und wird von vielen Ukrainer*innen genutzt,
die nicht in der Unterkunft leben. Auch die nicht ukrainische
Öffentlichkeit soll sich willkommen fühlen.
„Wir wünschen uns, dass das Ukraïne Haus als eine Art Inkubator für
ukrainische Initiativen und Projekte wirken kann“, sagt Terletskyy. Alle
Ideen seien hier willkommen: [3][Musik- und Theatergruppen], soziale
Projekte, Deutschkurse, Sportangebote, aber auch einzelne Veranstaltungen
und Workshops. „Wir setzen bewusst keine Grenzen oder einen klaren Rahmen,
weil wir allen Ideen einen Raum geben wollen“, betont Terletskyy.
Erste Ansprechpartnerin für Interessierte ist die 23-jährige Sofiia Tomakh.
Sie kommt ursprünglich aus Charkiv in der Ukraine und ging vor vier Jahren
für ihr Marketing-Studium nach Polen. Mitte 2023 kam sie nach Hamburg, ihre
Mutter und Großmutter kamen schon im März 2022 nach Ausbruch des Krieges
hierher. „Ich fühle eine große Verantwortung, etwas für mein Land und meine
Leute zu tun“, sagt sie. Deshalb habe sie den Kontakt zur ukrainischen
Gemeinde gesucht und den Norddeutsch-Ukranischen Hilfsstab gefunden.
Der neue Ort hat sich schnell rumgesprochen: In den letzten Monaten
klingelte das Telefon von Sofiia Tomakh häufig und es meldeten sich
Personen, die ein Projekt im Ukraïne Haus umsetzen wollen. Schon jetzt, vor
dem offiziellen Start der Einrichtung, finden verschiedene Angebote statt:
Neben Zumba gibt es auch Yoga- und Qigong-Kurse, außerdem Klavierstunden,
Kreativunterricht für Kinder und ein Pfadfinder-Treffen. Alle Kurse werden
auf Ukrainisch gegeben. Außerdem ist das Radio „UVoice“ an die Einrichtung
angegliedert, das an drei Tagen pro Woche Nachrichten aus Hamburg und
Norddeutschland auf Ukrainisch und Deutsch sendet.
Am Samstag, eine Woche vor Weihnachten, ist internes „Kick-off“ im Ukraïne
Haus Hamburg vor der Eröffnung im neuen Jahr: Heute wollen die
Organisator*innen ihrer Community vorstellen, woran sie in den
letzten Monaten gearbeitet haben. Sofiia Tomakh ist aufgeregt. Gestern hat
sie noch bis spät in den Abend gearbeitet, um alles vorzubereiten. Über 50
Gäste kommen heute in die Räume in der City Nord. Viele von ihnen waren
vorher schon einmal dort, es ist der innere Kreis aus Mitgliedern des
Norddeutsch-Ukrainischen Hilfsstabs. Unter ihnen sind etwa die ukrainische
Generalkonsulin für Norddeutschland, Iryna Tybinka, Zumba-Lehrerin Bodgana
Dzis sowie Chorsänger*innen und Mitglieder vom UVoice-Radio.
## Ein ungewohnter Anblick in Deutschland
Alle nehmen im größten Raum Platz. Sofiia Tomakh begrüßt die Gäste und
stellt das Programm vor. Darunter auch zwei ukrainische Chöre: Die
Sängerinnen im ersten Chor tragen traditionelle Wyschywanka-Blusen und
bunte Tücher mit Blumenmustern, sogenannte Hustkas, um die Schultern. Als
sie singen, klingt es nach einem Klagelied. Die zweite Gesangsgruppe
besteht ebenfalls nur aus Frauen. Sie tragen ukrainische Trachten und ihr
Gesang ist rauer und traditioneller.
Es ist ein Anblick, der in Deutschland ungewohnt ist: Ein Zentrum zur
Förderung und Bewahrung der traditionellen deutschen Kultur hätte einen
nationalistischen Beigeschmack. „Aber Russland möchte die ukrainische
Sprache und die ukrainische Kultur auslöschen. Hier kämpfen wir aktiv
dagegen an“, sagt dazu Iryna Tybinka. Die eigene Kultur in Kriegszeiten
bewahren, das sei ein natürlicher Akt des Widerstands.
Übermäßiger Nationalismus ist dennoch ein Vorwurf, der in Deutschland oft
an Ukrainer*innen gerichtet wird – sei es in der Debatte um den
ehemaligen ukrainischen Botschafter Andriy Melnyk, um das rechtsextreme
Asow-Regiment oder um das Gedenken an den Nationalisten Stepan Bandera.
Diese Debatten werden oft über Ukrainer*innen geführt statt mit ihnen.
Wenn man mit den Menschen im Ukraïne Haus Hamburg spricht, wird klar, dass
es ihnen nicht um eine nationalistische Abgrenzung geht. Für sie steht im
Vordergrund, dass das Ukraïne Haus ein Ort der Gemeinschaft sein soll. „Es
ist sehr hart, wenn man hier ankommt, ganz alleine ist und niemanden
kennt“, sagt die 20-jährige Sofiia Melnyk, die seit eineinhalb Jahren in
Deutschland lebt und sich auch im Organisationsteam engagiert. „Ich habe
das selbst erlebt und möchte dafür sorgen, dass andere Ukrainer*innen
schneller in Hamburg Anschluss finden können.“
Entscheidend ist für die Initiator*innen auch, dass sie sich Austausch
und Begegnungen mit Menschen außerhalb ihrer Community wünschen. „Das Haus
ist ganz wichtig, um die Integration von Ukrainer*innen in die deutsche
Gesellschaft zu fördern“, sagt Iryna Tybinka. „Es geht nicht darum, sich
abzuschirmen, im Gegenteil!“
Und schließlich ist nicht alles im Ukraïne Haus traditionell ukrainisch:
Der Zumba-Kurs von Bogdana Dzis endet mit einer yoga-ähnlichen
Entspannungseinheit. „Namasté!“, schreit Dzis zum Abschluss. Es ist wohl
das strengste, aber auch das sympathischste „Namasté“, das man in Hamburg
zu hören bekommt.
4 Jan 2024
## LINKS
[1] /Chorstueck-mit-ukrainischen-Frauen/!5967140
[2] /Ukraine-unter-Raketenbeschuss/!5979922
[3] https://www.youtube.com/watch?v=y0LRojBkeng
## AUTOREN
Marta Ahmedov
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