# taz.de -- Familienerinnerungen von Durs Grünbein: Bevor Dresden unterging | |
> Durs Grünbein erzählt von seiner Großmutter, Nazideutschland und der im | |
> Krieg zerstörten Schönheit Dresdens. „Der Komet“ kommt ohne Revanchismus | |
> aus. | |
Bild: Dresden ist die zweite Hauptfigur des Buchs: Annenstraße und Annenkirche… | |
Ganz am Schluss – und damit mitten in den dort schließlich geschilderten | |
Bombenhagel hinein, der im Februar 1945 über Dresden niedergeht – bringt | |
Durs Grünbein noch einmal die drei Linien zusammen, die dieses Buch | |
durchziehen. | |
Da ist die Großmutter mütterlicherseits, deren Leben der 1962 geborene | |
Büchnerpreisträger Grünbein hier erzählt. Da ist die Stadt Dresden, deren | |
Schönheit hier noch einmal aufscheint, und gleich daneben die auf | |
verschlungenen Wegen von der Großmutter auf den Enkel überkommene | |
Abschieds- und auch Trauerarbeit über den Untergang dieser Stadt. Um es | |
gleich zu sagen: von Revanchismus dabei in diesem Buch keine Spur. Und da | |
ist, eher im Schatten dieses seines Berichts stehend, der Enkel selbst, der | |
zum Erzähler oder vielleicht sollte man, um die Redlichkeit dieses Buches | |
zu betonen, eher sagen: zum Berichterstatter wird. | |
Am Leben seiner Großmutter Dora Wachtel interessieren Durs Grünbein | |
zunächst vor allem ihre ersten Dresdner Jahre. Geboren ist sie auf dem | |
Land, herrischer Vater, schwere Kindheit. Mit 16 lernt sie Oskar Wachtel | |
kennen und zieht zu ihm nach Dresden. Sie heiraten. Er arbeitet als | |
Schlachtergeselle auf dem Schlachthof, dem modernsten der Welt, wie es in | |
dem Buch heißt. Sie bekommt zwei Töchter. Das kleine Glück. | |
Es waren nun allerdings die dreißiger Jahre. Grünbein: „Die vier Jahre bis | |
zum Ausbruch des Krieges waren, auch in der Erinnerung, ihre goldene Zeit, | |
die Gründerzeiten ihrer Ehe. Ihr Verhängnis war nur, dass es gleichzeitig | |
die Jahre des Aufschwungs unter dem Nationalsozialismus waren.“ | |
In kreisend sich voranbewegenden erzählerischen Anläufen legt Durs Grünbein | |
nun zwei Erzählungen übereinander: die große welthistorische Erzählung von | |
der schließlich totalen Durchdringung der Gesellschaft durch den | |
Nationalsozialismus. Und daneben und teilweise darunter und darinnen, in | |
den Alltagsblasen innerhalb des nationalsozialistischen Systems, die kleine | |
Erzählung der jungen Dora W., die vom Land in die große, moderne Stadt | |
zieht, sich ein Leben aufbaut und mit großen Augen durch die Metropole | |
läuft. | |
## Ein erzählerisches Wagnis | |
Das erzählerische Wagnis, das Durs Grünbein in diesem Buch eingeht, besteht | |
darin, diese beiden Erzählungen nicht ineinander aufgehen zu lassen. Seine | |
Großeltern waren keine Nazis, das macht Durs Grünbein glaubhaft. Aber | |
Widerstandskämpfer eben auch nicht. Was mit der jüdischen Frau geschieht, | |
die in ihrem Haus in einer Dachmansarde lebt, registriert Dora W. so genau, | |
wie sie später die Zwangsarbeiter wahrnehmen wird, die brennende große | |
Synagoge; sie nimmt es hin wie ein Naturereignis. Und ihr Mann, Oskar W., | |
zieht als Koch in den Krieg. | |
Historisch interessant ist, wie rasend schnell sich die Entwicklungen im | |
Alltagsbewusstsein vollzogen haben müssen. Ständige Mobilisierungen – immer | |
neue Verordnungen, Sammelaktionen für völkische Hilfswerke, | |
Luftschutzübungen – machten den Alltag zum permanenten Ausnahmezustand. | |
Dass die private Geschichte sich im Rahmen eines verbrecherisch gewordenen | |
Deutschlands vollzieht und Teil dieser furchtbaren, großen Geschichte ist, | |
daran lässt Durs Grünbein keinen Zweifel. Doch die private Geschichte – die | |
kleinen Freuden des Badens in der Elbe, der Glanz in der Augen der | |
Großmutter, wenn sie ins Kino geht oder in Schaufenster guckt, der Stolz | |
der jungen Mutter, ihre Kinder auch bei schmalem Budget gut durchzubringen | |
–, das alles geht in der großen Geschichte nicht ganz auf. | |
Manches am Alltag darf für sich stehen. Und dann ist aber gleich immer | |
wieder auch eine erzählerische Traurigkeit darüber spürbar, in dieser | |
Nazizeit die Familiengeschichte nicht als den hübschen, frechen | |
Emanzipationsroman erzählen zu können, den die Großmutter als junge Frau | |
auch gelebt hat. | |
## Dresden: ein Konzert aus Stein | |
Neben der Großmutter hat das Buch eine zweite Hauptfigur, das ist Dresden | |
selbst. Streckenweise schwelgt Durs Grünbein geradezu in den Erinnerungen | |
seiner Großmutter darüber, wie schön und aufregend die Stadt gewesen ist, | |
„ein einziges steinernes Konzert“, als Touristenmagnet auf einer Höhe mit | |
Venedig und Florenz: „Pöppelmanns Zwinger, die Rampische Gasse, ein | |
Farbenfeuerwerk war da angezündet – aber aufgepasst! Man musste zusehen, | |
dass sich nicht in den Schienen verfing, nicht im Glanz der Warenhäuser | |
ertrank.“ | |
Gleich mehrfach – die Wiederholungen gehören zu den Aspekten des Buchs, die | |
einem seltsam vorkommen können – betont er das Romantische an Dresden: „Man | |
konnte sich in den Gassen verirren, als hätte man sich im Jahrhundert | |
vertan.“ | |
Auf die Frage, woher er soviel über die Erinnerungen seiner Großmutter | |
weiß, kommt Grünbein immer mal wieder zurück. Die Übertragung der | |
Erinnerungen auf die Enkelgeneration geschah zunächst im familiären Rahmen. | |
So führte die Großmutter gern Selbstgespräche, Durs Grünbein belauschte sie | |
als Kind – Kinder sind ja tatsächlich sehr aufmerksame Hörer von Subtönen! | |
–, und in diesen Selbstgesprächen stieg immer etwas aus der Kriegszeit | |
herauf „wie Blasen in einem Teich“. An einer anderen Stelle heißt es, dass | |
sie ihm in Andeutungen „Scherben“ hinterlassen hat, die der Enkel „wie ein | |
Puzzle“ zusammensucht. | |
Insgesamt war es offensichtlich so wie in vielen deutschen Familien. Aus | |
Versatzstücken, Deckerinnerungen und Familiengesprächen reimt man sich als | |
Kriegsenkel den eigenen familiären Hintergrund zusammen – wenn man denn | |
einen Sinn dafür hat und redlich genug ist, die massenhaften Verstrickungen | |
in ein System, das die Welt bedrohte, zu sehen. | |
## Die verschwiegene Vergewaltigung | |
An alles kommt auch Durs Grünbein nicht heran. Ausdrücklich heißt es | |
einmal, dass er sie vor ihrem Tod Mitte der 90er Jahre gern noch vieles | |
gefragt hätte, es aber versäumt hat. Seiner Mutter hat sie kurz vor ihrem | |
Tod etwa auch noch eine bis dahin ein Leben lang [1][verschwiegene | |
Vergewaltigung] durch Soldaten der Roten Armee erzählt. | |
Dramaturgisch läuft das alles auf den 13. Februar 1945 zu, die erste Nacht | |
des Flächenbombardements. Die letzten 20 Seiten des Buchs sind dann auch | |
erzählerisch furios. Mittendrin wirft Durs Grünbein auf die Erzählsituation | |
noch ein neues Licht. Dass sie [2][von Treblinka wusste,] dem KZ, erzählt | |
die Großmutter dem Enkel ausdrücklich: „Ich war damals noch jung, ein | |
halbes Kind, das viele Stunden bei ihr verbrachte, nichts deutete darauf | |
hin, dass ich eines Tages nur noch für das Schreiben leben würde, aber sie | |
hatte da etwas in mir erkannt und mich beiseite genommen.“ | |
Es gab da also, so kann man in diese Szene hineinlesen, auch so etwas wie | |
einen Auftrag, irgendwann einmal von den Erfahrungen der Großmutter in | |
aller Ehrlichkeit zu erzählen. In die Schilderung vom Untergang Dresdens | |
hinein montiert Durs Grünbein hier die Andeutung eines Künstlerromans. | |
Seine Großmutter hatte an diesem Tag Glück. Als die Bomberstaffeln kamen, | |
lag sie mit Scharlach im Krankenhaus und wurde rechtzeitig evakuiert. Eine | |
Bekannte von ihr, Tante Trude, rettete geistesgegenwärtig ihre beiden | |
Töchter, indem sie mit ihnen aus der brennenden Stadt floh. Durs Grünbein | |
ist das Kind von Überlebenden, die nur knapp der Katastrophe entronnen | |
sind. Von dieser Erschütterung erzählt er hier nicht direkt, aber auch sie | |
ist in dem Buch enthalten. | |
24 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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