# taz.de -- Graphic Novel über die Nazizeit: Vom Leben in der Diktatur | |
> Tobi Dahmen erzählt in der Graphic Novel „Columbusstraße“ von seiner | |
> Familie unter den Nazis. Die beeindruckende Geschichte hat | |
> Schulbuch-Potential. | |
Bild: Geschichtspanorama mit Mitläufertum und dunklen Grautönen: Doppelseite … | |
September 1942. Nach dem ersten Großangriff der Alliierten auf Düsseldorf | |
wird der Schulweg für den kleinen Karl-Leo immer beschwerlicher. Wegen der | |
massiven Bombardements muss er große Umwege in Kauf nehmen, da manche | |
Brücken und Straßen nicht mehr passierbar sind. | |
Karl-Leo kommt an abgemagerten Gestalten in Sträflingskleidung vorbei, die | |
beim Wiederaufbau helfen und von Soldaten bewacht werden. Außerdem begegnet | |
er einem marschierenden Wehrmachtstrupp und bemerkt eine Schlange von | |
Leuten vor einem Lebensmittelgeschäft. Am Ziel angekommen, erlebt der Junge | |
eine Überraschung. Seine Schule wurde vom letzten Luftangriff getroffen: | |
„Volltreffer!“ | |
Fast ohne Worte, über vier Seiten skizziert der Comiczeichner Tobi Dahmen | |
in seiner Graphic Novel „Columbusstraße“ den Schulweg Karl-Leos und gibt | |
zugleich einen präzisen Einblick in den Alltag einer deutschen Stadt auf | |
dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs. Eine Szene sorgt zunächst für | |
Irritation. Die Zwangsarbeiter mit ihren gestreiften Kleidern zeichnet | |
Dahmen wie die Häftlinge eines Konzentrationslagers. Doch in Düsseldorf | |
existierte tatsächlich ein Außenlager des KZ Buchenwald direkt im Zentrum, | |
Zwangsarbeiter wurden auch hier zu schwersten Arbeiten eingesetzt. | |
Der 1971 in Frankfurt am Main geborene Zeichner ließ sich hierbei und in | |
anderen Szenen von den Erinnerungen seines Vaters Karl-Leo leiten. Ein | |
aufgezeichnetes Gespräch mit diesem während einer langen Zugfahrt 2005 ist | |
die Ausgangsbasis für die Erzählung des Buches „Columbusstraße – Eine | |
Familiengeschichte“. | |
500 Comicseiten umfasst der in Schwarzweiß und Grautönen gehaltene | |
Comicroman, ergänzt durch ein ausführliches Glossar. Es ist die zweite | |
Graphic Novel Dahmens. 2015 erschien „Fahrradmod“, in der der Zeichner von | |
Jugend und Zugehörigkeit in der Mod-Subkultur in Wesel erzählt. | |
## Ermutigung dazu, Fragen zu stellen | |
Als der Vater 2015 starb, entschloss er sich, in einer Graphic Novel die | |
Geschichte seiner Familie während der Nazidiktatur zu erzählen. Zuvor hatte | |
er auch bereits seine Mutter dafür befragt. | |
Dahmen möchte, wie er in einem Gespräch sagte, Deutschlands düsterste Ära | |
auch für jüngere Generationen begreiflich machen. „Ich möchte damit auch | |
jeden ermutigen, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen | |
und Fragen zu stellen.“ | |
Zentraler Schauplatz der Erzählung ist das herrschaftliche Geburtshaus | |
Karl-Leos in der Columbusstraße, das sich im gutbürgerlichen Düsseldorfer | |
Stadtteil Oberkassel befindet. Dahmen befragte neben den Eltern auch andere | |
Familienangehörige und Zeitzeugen, sprach mit Historikern von Mahn- und | |
Gedenkstätten, Stadt- und Bundesarchiven. | |
Er wertete Briefe, Fotos und Dokumente der Familie aus, die er mit | |
zeitgeschichtlichen Ereignissen wie der deutschen Invasion in die | |
Sowjetunion abglich. Das Buch „Columbusstraße“ bietet so ein Panorama der | |
deutschen Gesellschaft, entfaltet an den Beispielen der Familien Dahme aus | |
Düsseldorf und Funcke aus Breslau (der die Mutter des Zeichners, Andrea, | |
genannt „Binka“ entstammte). | |
## Man „arrangiert“ sich | |
Die Rahmenhandlung führt in die jüngere Vergangenheit. Tobis jüngeres Ich | |
äußert seinem Vater gegenüber auf einer Zugreise Unverständnis darüber, | |
warum „die Leute sich das haben gefallen lassen“. Die Antwort gibt das Buch | |
nun selbst. Die historische Erzählung setzt hier im Jahr 1935 an, als der | |
gut situierte Anwalt und gläubige Katholik Karl Dahmen, Vater von Karl-Leo | |
und den älteren Kindern Eberhard, Peter und Marlies, sich auf einen | |
Spaziergang mit dem „Fußgängerverein“ trifft, einem konservativen | |
Düsseldorfer Club. | |
Karl Dahmen steht den Nazis kritisch gegenüber, muss aber bald erkennen, | |
dass er sich wohl besser mit ihnen „arrangieren“ muss. Nachdem er 1937 die | |
Politik der Nazis in einem Lokal kritisierte, verhört ihn die Gestapo. | |
Mandate werden ihm entzogen. Er tritt der Partei bei, will weiter seinen | |
Beruf ausüben. | |
„Mein Großvater Karl war zwar ein Regimegegner“, sagt Dahmen, „aber wie | |
viele andere war er ein Nationalist und hatte Ressentiments gegenüber der | |
jüdischen Bevölkerung.“ Er sei so auch ein typischer Vertreter des | |
katholischen Milieus dieser Zeit gewesen. | |
Auch Heinz Funcke in Breslau, der eine Schraubenfabrik leitet, ist kein | |
Nazi. Doch 1940 wird die Fabrik in die Kriegsindustrie eingebunden. Dahmen | |
zeichnet die Entwicklungen nüchtern auf, stellt die innere Zerrissenheit | |
der Protagonisten glaubwürdig dar. Karl Dahmens Söhne Peter und Eberhard | |
werden beide als Soldaten an der Ostfront eingesetzt. | |
## Verdrängung des Soldatenalltags | |
Ihre Erlebnisse oder auch ihre mögliche Beteiligung an Kriegsverbrechen an | |
der Front ist aus den überlieferten Feldbriefen, die der Zensur unterlagen, | |
oft nicht ersichtlich. Tobi Dahmen ergänzt die biografischen Leerstellen | |
durch erzählerische Erweiterungen. Etwa indem er einen fiktiven | |
Vorgesetzten Eberhards die bettelnde russische Landbevölkerung verächtlich | |
mit Tieren vergleichen lässt. Ein Beispiel für die menschenverachtende | |
„Herrenmensch“-Attitüde der Nazis. | |
Eberhard hingegen verdrängt den mörderischen Soldatenalltag und widmet sich | |
eingehend der Schönheit der Vegetation im Kampfgebiet. Eine eindrückliche | |
Sequenz stellt Peters Fronteinsatz als MG-Scharfschütze als extrem | |
traumatisierende Erfahrung dar, die das Erlebte in fetzenhafte Bilder | |
zerlegt. Peter wird den Krieg verletzt überleben, Eberhard bleibt | |
verschollen und wird später für tot erklärt. | |
Karl-Leos Geschichte geht in der Graphic Novel besonders nahe. Als 1932 | |
geborenes Kind, nicht selbst am Kriegsgeschehen beteiligt, wird er dennoch | |
Zeuge eines NS-Verbrechens. Nachdem seine Eltern ihn 1943 aus dem immer | |
stärker bombardierten Düsseldorf ins badische Villingen „verschickten“, | |
wird er dort herzlich von der Familie Huth aufgenommen. Sein Ziehvater | |
„Onkel Ewald“, der beliebte Organist und Chorleiter des dortigen Münsters, | |
hört Feindsender und äußert sich öffentlich immer wieder kritisch über die | |
Nazis. | |
Eines Tages wird er denunziert. Ewald Huth wird wegen „Zersetzung der | |
Wehrkraft“ angeklagt und zum Tode verurteilt. Der liebevolle Familienvater | |
und gläubige Katholik wird an Allerheiligen 1944 in Stuttgart-Dornhalde | |
hingerichtet. „Onkel Ewald“ ist die einzige Figur der Graphic Novel, die | |
tatsächlich Zivilcourage zeigt. Dahmen stellt ihn als einen Menschen dar, | |
der sich durch das Unrechtsregime nicht beugen lässt. | |
## Zeit der dunklen Grautöne | |
Tobi Dahmen zeichnet realistisch und mit klarem, leicht abstrahierten | |
Strich. In rund acht Jahren Arbeit schuf er das epische, vielschichtige | |
Porträt einer deutschen Familie während der Nazidiktatur. Hat man sich | |
einmal mit den Personen vertraut gemacht, entsteht ein Lesesog, der in eine | |
vergangene, unmenschliche Epoche führt und die Erfahrungen einer ganzen | |
Generation lebendig macht. „Columbusstraße“ hat das Zeug dazu, Schullektü… | |
zu werden. | |
Hier erfährt man viele Hintergründe über den Zweiten Weltkrieg und lernt | |
auch jene Mechanismen kennen, die Deutschland und viele andere Länder in | |
den Abgrund führten. | |
„Es ist nicht alles so schwarzweiß, wie wir uns das immer gerne vorstellen | |
wollen“, resümiert der Zeichner, „diese Zeit besteht aus vielen, meist sehr | |
dunklen Grautönen.“ | |
Der heute im niederländischen Utrecht lebende Tobi Dahmen wird sein | |
ambitioniertes Lebensprojekt einer gezeichneten Familiengeschichte | |
fortsetzen. Er wird darin erzählen, wie es in der Nachkriegszeit mit beiden | |
Familien weitergeht. | |
10 Nov 2024 | |
## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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