# taz.de -- Haftstrafe für Auto-Attacke: Keine politisch motivierte Tat | |
> Vor drei Jahren lenkte Melvin S. einen Pick-up gezielt in eine Gruppe, | |
> die gegen die AfD demonstrierte. Nun muss er ins Gefängnis. | |
Bild: Hinter blauem Aktendeckel steckt der Angeklagte Melvin S., neben ihm sein… | |
KIEL taz | „Alle Wege sind das Ziel“, so lautet der Werbeslogan für den VW | |
Amarok, einen mehr als fünf Meter langen und fast zwei Meter breiten | |
Pick-up. Der Weg von Melvin S. führte am 17. Oktober 2020 gut 100 Meter | |
weit [1][über einen Bürgersteig in Henstedt-Ulzburg.] Vier Menschen | |
verletzte der von ihm gesteuerte Pick-up dabei. Der damals 19-jährige | |
Melvin S. war Mitglied der AfD, die Betroffenen nahmen an einer | |
Demonstration gegen eine AfD-Veranstaltung im Bürgerhaus der | |
schleswig-holsteinischen Kleinstadt teil. | |
War es eine politische Tat, wie die Verletzten meinen, oder doch Notwehr, | |
wie S. es schildert? Nach 21 Prozesstagen kam das Landgericht in Kiel zu | |
dem Schluss: Die Tat geschah vorsätzlich, aber es lag keine Tötungsabsicht | |
vor. Wegen gefährlicher Körperverletzung und schwerem Eingriff in den | |
Straßenverkehr wurde Melvin S. zu drei Jahren Jugendhaft ohne Bewährung | |
verurteilt, zudem muss er Schmerzensgeld von 500 bis 2000 Euro an die Opfer | |
zahlen. | |
„Der Anklagte wusste um die Kraft des Wagens, er hat in Kauf genommen, dass | |
Menschen verletzt werden, aber es handelte sich um keinen rechten Angriff | |
aus Hass oder Wut“, sagte Richterin Maja Brommann in ihrer | |
Urteilsbegründung, der Melvin S. mit ungerührter Miene und die | |
Nebenklagenden mit Stirnrunzeln zuhörten. | |
Angesichts der Schwere der Tat, die laut den Sachverständigen nur aus Glück | |
und Zufall nicht mit Toten endete, sei eine Bewährungsstrafe nicht infrage | |
gekommen. Dennoch stand für die Kammer nach der Beweisaufnahme fest, dass | |
Melvin S. zwar bei klarem Verstand, aber „aufgeregt und überfordert“ | |
gewesen sei. Er habe, wenn auch mit einem überzogenen Mitteln, seinem | |
Freund helfen wollen, den er als Opfer eines Angriffs der linken | |
Demonstrierenden sah. | |
## Mit „Reichsbrause“ zur AfD-Veranstaltung | |
An jenem Oktobertag im Jahr 2020 trat der damalige Bundessprecher der AfD, | |
Jörg Meuthen, im Bürgerhaus von Henstedt-Ulzburg auf. Melvin S. und drei | |
Freunde – die in einer Whatsapp-Gruppe mit dem Titel „Ortskontrollfahrt“ | |
chatteten – trafen sich dort, um „Zecken zu glotzen“. S. trug | |
Springerstiefel, ein anderer einen Lonsdale-Pullover, S. ließ sich | |
fotografieren, wie er „Reichsbrause“ trank, auf der Flasche sind | |
Wehrmachtssoldaten abgebildet. | |
Eine Frau forderte sie auf, die Demo zu verlassen, was sie taten. In einer | |
Nebenstraße fühlte sich die Gruppe von Personen in dunkler Kleidung | |
verfolgt. Melvin S. und zwei weitere stiegen in den Pick-up, der vierte | |
ging zu seinem Wagen. Dort – für die Kammer ist das gesichert – versetzte | |
ein Unbekannter ihm einen Schlag ins Gesicht. [2][Melvin S. startete | |
daraufhin seinen Wagen und fuhr auf den Gehweg.] | |
Dass das kein normaler Verkehrsunfall gewesen sei, gestand sogar der | |
Verteidigern von Melvin S., Jens Hummel, in seinem Plädoyer zu. Doch einen | |
Anschlag, eine rassistische oder terroristische Gesinnung sei nicht zu | |
erkennen, so Hummel. Rechte Symbole und Bilder auf dem Handy von S. oder in | |
seinem Zimmer seien kein Anzeichen eines rechten Weltbildes, sondern „Teil | |
eines jugendlichen Findungsprozesses“. | |
Ganz anders sahen es die Anwälte der Nebenklagenden. Alexander Hoffmann | |
wies in seinem Plädoyer auch auf die Rolle von Polizei und Justiz hin: | |
„Stellen Sie sich vor, ein Mann mit Migrationshintergrund hätte ein Auto in | |
AfD-Anhänger gelenkt oder ein Mann im schwarzen Kapuzenpulli in eine Gruppe | |
Neo-Nazis. | |
## Belastungen für die Opfer bleiben | |
Das hätte bundesweite Schlagzeilen gegeben, und noch am selben Abend wäre | |
der Verfassungsschutz da gewesen und der Täter in U-Haft.“ Melvin S. | |
dagegen war nach kurzer Vernehmung nach Hause geschickt worden, die Polizei | |
hatte anfangs in einer Pressemitteilung von einem Verkehrsunfall | |
gesprochen. | |
An S.’ Entschuldigungen und die Notwehr-These glaubt auch der zweite | |
Nebenklage-Vertreter Anwalt Björn Elberling nicht: „Spätestens nach den | |
ersten zwei Zusammenstößen war er weit weg von seinem Freund, den er | |
angeblich beschützen wollte. Es gab keinen Grund, hinter der dritten | |
Betroffenen herzufahren.“ Melvin S. habe sich dazu aus einer gefestigten | |
rechten Gesinnung heraus selbst aufgeputscht, sich eine Gefahr für die | |
„weiße Rasse“ eingeredet und so die „Tötungshemmung herabgesetzt“. | |
Es sei erfreulich, dass das Gericht die Argumente immerhin anerkannt und | |
gewürdigt habe, sagte Elberling nach Prozessende. Dennoch war das Ergebnis | |
nicht wie von ihm erhofft: „Für uns war weniger das Strafmaß wichtig als | |
die Anerkennung einer politischen Tat.“ | |
Für die Betroffenen werden die Folgen bleiben, körperlich und psychisch – | |
es stehen deswegen nun noch Zivilklagen gegen Melvin S. im Raum. Eine der | |
Betroffenen hatte vor Beginn der Urteilsverkündung am Donnerstag auf der | |
Gegendemonstration neben dem Kieler Gerichtsgebäude gesprochen. | |
Der lange Prozess, das Zusammensein mit Melvin S. in einem Raum sei | |
belastend. „Aber ich habe überlebt, nun werden die Akten geschlossen“, | |
sagte sie. Wichtig sei die Solidarität, die sie erfahren habe. Sie und auch | |
andere Redner*innen betonten: „Wir werden weiter [3][gegen rechte Gewalt | |
und den Rechtsruck kämpfen.“] Es besteht noch die Möglichkeit, Revision | |
einzureichen, das könnte auch die Nebenklage tun. | |
21 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Prozess-nach-Pick-Up-Amokfahrt/!5969200 | |
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## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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