| # taz.de -- Flucht über den Ärmelkanal: Schlicht die letzte Chance | |
| > An Nordfrankreichs Küste kommen globale Fluchtschicksale zusammen. | |
| > Menschen versuchen hier seit 25 Jahren unter elenden Bedingungen nach | |
| > England zu gelangen. | |
| Der Regen hat in der Nacht ausgesetzt. Als die Sonne über dem Belfried des | |
| Rathauses von Calais aufgeht, erscheint das in diesem sturmgepeitschten | |
| Spätherbst fast wie ein unwirklicher Anblick. Die Frühnachrichten im | |
| Fernsehen zeigen überschwemmte Flächen im Hinterland. Seen, die eigentlich | |
| Äcker sind. Häuser und Schuppen, von Fluten umgeben. Straßen, durch die nun | |
| Bewohner*innen und Helfer*innen mit dem Kanu paddeln. Am Vormittag | |
| ist es noch immer trocken, windig zwar, aber der Himmel ist blau. Vom | |
| Strand aus sind nach langer Zeit wieder einmal die Klippen von Dover zu | |
| erkennen. | |
| Der Wind werde sich im Laufe des Tages legen, sagt der Wetterbericht. Auch | |
| die Wellen draußen auf dem Kanal sollen kleiner werden. Das bedeutet: | |
| Zwischen einem Tief, das sich aufgelöst hat, und dem kommenden, das die | |
| Vorhersage der nächsten Woche bestimmt, wird sich ein kleines Fenster | |
| öffnen für jene, die aus den Jungles, [1][den provisorischen | |
| Flüchtlingscamps in Industriegebieten oder Wäldern, hinüber wollen nach | |
| England]. „Es ist wahrscheinlich, dass Überfahrten probiert werden an | |
| diesem Wochenende, obwohl der Zustand der See heute noch rau ist“, | |
| bestätigt Gérard Barron per E-Mail. Er muss es wissen, als Präsident der | |
| Seenotrettungsgesellschaft [2][SNSM] im nahen Boulogne-sur-Mer. | |
| Ein paar Minuten entfernt vom Strand von Calais, an der Place d’Armes, | |
| nimmt man an diesem Morgen kaum Notiz von Migrant*innen unterwegs nach | |
| England. Der Samstagsmarkt ist in vollem Gang, die umliegenden Cafés gut | |
| besucht. Am Monument beim Parc Richelieu gedenkt eine Menschenmenge dem | |
| Endes des Ersten Weltkriegs. Hin und wieder schlurfen Gestalten über das | |
| Trottoir, tief verborgen unter Kapuzen, 60 Liter-Müllsäcke mit einigen | |
| Habseligkeiten über der Schulter. Es ist die einfachste und wohl auch | |
| einzige Art, sie in diesen nassen Wochen halbwegs trocken zu halten. | |
| Niemand schenkt diesen Menschen Beachtung. | |
| An die Anwesenheit von Migrant*innen, die den Kanal überqueren wollen, hat | |
| sich Calais in einem Vierteljahrhundert gewöhnt. Die Küste ist ein | |
| Spiegelbild der weltweiten Kriege und Konflikte, und Großbritannien bleibt | |
| auf den ersten Blick für jene, die aus Nordfrankreich fliehen, eine | |
| Verheißung: ein gelobtes Land, in dem es genug Arbeit geben soll, um ein | |
| neues Leben aufzubauen. Daneben sind englische Sprachkenntnisse und | |
| familiäre Bindungen für viele ganz konkrete Gründe. | |
| Manchmal drängen die Behörden mit Hilfe von Gendarmerie und der | |
| Polizeispezialeinheit CRS die Geflüchteten aus dem Zentrum von Calais | |
| hinaus. [3][Hilfsorganisationen] schätzen, dass sich rund 2.000 von ihnen | |
| um die Hafenstadt herum aufhalten, und eine vergleichbare Zahl in der | |
| weiteren Umgebung. Oft lag die Zahl in den letzten Jahren bei etwa 1.000 | |
| Personen insgesamt. Unter den Brücken am Bahnhof stehen knapp ein Dutzend | |
| Zelte. Wer hier kampiert, versucht es meist auf eigene Faust per Lkw und | |
| kann keinen Schleuser bezahlen. | |
| Eine Überfahrt kostet häufig umgerechnet rund 2.500 bis 4.000 Euro, | |
| manchmal aber auch knapp 6.000 Euro pro Person, abhängig vom | |
| Schleusernetzwerk, Umständen des Geschäfts und Umfang der Dienstleistung. | |
| Jene, die sich das leisten können, wissen dank ihrer Wetter-Apps auch, dass | |
| das lange Warten heute ein Ende haben wird. | |
| Was dazu führt, dass in dem Jungle bei Dunkerque an diesem Mittag eine | |
| emsige Betriebsamkeit einsetzt. In den letzten Jahren hat sich dieses Camp | |
| zum größten der Umgebung entwickelt. Oft hielten sich hier einige Hundert | |
| Personen auf, doch inzwischen sind es weit über 1.000, berichten die | |
| Hilfsorganisationen. Es liegt zwischen dem Vorort Grande-Synthe und dem | |
| Dorf Loon-Plage. Traditionell halten sich in dieser Gegend kurdische | |
| Geflüchtete auf, und es sind kurdische Netzwerke, die das Camp am Canal de | |
| Bourbourg kontrollieren. | |
| Von der Brücke der Schnellstraße, die zum Hafen führt, eröffnet sich ein | |
| Blick über das weitläufige Gelände. Überall ducken sich Zelte in der | |
| niedrigen Vegetation. Gruppen von Menschen ziehen entlang stillgelegter | |
| Schienenstränge. Es ist unmöglich zu sagen, wer sich die Beine vertritt, | |
| wer zum nahen Einkaufszentrum unterwegs ist oder wer größere Pläne hat. | |
| Alle aber müssen ihre Schritte vorsichtig setzen, denn der Jungle hat sich | |
| in eine Wasserlandschaft verwandelt. Riesige Pfützen ziehen sich hindurch, | |
| Gräben am Rand der schlecht befestigten Wege sind vollgelaufen, manche zu | |
| kleinen Teichen geworden. Über einen davon führt eine provisorische Brücke | |
| aus zwei Einkaufswagen, die auf der Seite liegend aus dem Wasser ragen. Ein | |
| Mann mittleren Alters klettert mühsam darüber, gestützt auf eine Krücke. | |
| Die Hütte, in der Sayed und Amir* Wasser, Snacks und Zigaretten verkaufen, | |
| steht etwas erhöht auf einem Erdhügel. Die beiden Afghanen, [4][Mitte | |
| zwanzig und geflohen vor den Taliban], leben seit Monaten hier. [5][Nach | |
| England wollen sie,] weil ihre Asylanträge in anderen Ländern abgelehnt | |
| wurden. | |
| Sayed, der aus Jalalabad kommt und fließend Englisch spricht, weil er einst | |
| als Übersetzer für die Amerikaner arbeiten wollte, war zwei Jahre lang in | |
| Frankreich. Amir verbrachte sechs Jahre in Deutschland. „Landkreis | |
| Lüchow-Danneberg“ präzisiert er. England ist für sie kein gelobtes Land, | |
| sondern schlicht die letzte Chance. | |
| Vor einiger Zeit, sagt Amir, probierten sie es also mit einem Boot. „Als es | |
| eine Panne hatte, waren wir waren schon nah an britischen Gewässern. Aber | |
| eben nur nah dran. Also waren es die Franzosen, die uns retteten und wieder | |
| zurückbrachten. Bad luck!“ | |
| Drüben, auf dem Hauptweg durch das unübersichtliche Camp, ziehen Menschen | |
| durch den Matsch, sie springen von Stein zu Stein durch müllübersäte | |
| Pfuhle oder balancieren auf Ästen. Sie tragen Schlafsäcke und Tüten, hier | |
| und da hält jemand eine Schwimmweste in der Hand. Die Sonne steht noch hoch | |
| am Himmel, als hinter der Biegung eines Pfades eine Gruppe auftaucht. | |
| Es sind vielleicht 20 Personen, die sich zielstrebig einen Weg zwischen | |
| Büschen und Wassergräben hindurch bahnen. Viele Männer, einige Frauen, eine | |
| davon zieht ein Kind neben sich her. Sie tragen Tüten und Taschen, | |
| Rucksäcke und Decken. Aber das ist es nicht, was sie hervorhebt unter all | |
| den anderen Menschen, die an diesem noch immer windigen Novembertag durch | |
| den Jungle hasten. Das Besondere an ihnen sind ihre Mienen. | |
| Sie zeugen von Konzentration und Anstrengung. Beide braucht es, um nicht | |
| auszugleiten auf dem tiefen Gelände, nachdem es fast zwei Wochen am Stück | |
| geregnet hat. Es ist schwer, das Gleichgewicht mit all den Gepäckstücken | |
| und das schnelle Tempo zu halten, mit dem sich die Gruppe fortbewegt. | |
| Unbewegte Gesichter ziehen vorbei, eins nach dem anderen, die Augen nach | |
| vorne gerichtet. In manchen Blicken liegt Angst. Ein junger Mann bleibt für | |
| einen Moment stehen, als er angesprochen wird. „Keine Zeit“, erklärt er. Wo | |
| er herkommt? „Iran. Teheran.“ Ob er auf dem Weg ist, um ein Boot zu nehmen? | |
| „Ja!“ Dann läuft er weiter. | |
| „Vielleicht verlassen manche auch den Jungle und gehen nochmal zurück nach | |
| Paris. Das Leben hier ist zu hart“, spekuliert Sayed. Dann zeigt er auf | |
| seinem Handy ein Foto von der Überfahrt. Es zeigt ihn in Rettungsweste an | |
| Bord, bevor das Boot in Seenot geriet. Natürlich werden sie es wieder | |
| versuchen, aber nicht an diesem Abend. Den Preis für die Überfahrt, | |
| umgerechnet rund 2.400 Euro, hätten ihre Familien bereits gezahlt, damit | |
| sie der Diktatur und Willkür der Taliban entkommen und in Großbritannien | |
| ein neues Leben beginnen könnten. „Eltern wollen nicht irgendwann die toten | |
| Körper ihrer Kinder sehen.“ | |
| Etwas mehr als eine Stunde Fußweg nach Südwesten sieht man später an diesem | |
| Nachmittag die Kinder anderer Eltern, mit Rucksäcken bepackt, in Richtung | |
| der breiten Strände von Gravelines ziehen. Rund um das Festungsstädtchen | |
| auf halbem Weg zwischen Dunkerque und Calais legten in den letzten Monaten | |
| immer wieder Boote in Richtung England ab. Die genauen Orte wechseln | |
| häufig, um den Kontrollen der Polizei zu entgehen, die über der Küstenlinie | |
| mit ihren Dünen, Kliffs und zahlreichen verlassenen Abschnitten regelmäßig | |
| Drohnen einsetzt. | |
| Einer der aussichtsreichsten Gebiete zum Ablegen sind die Dunes de la | |
| Slack, die nördlich des Dorfs Wimereux beginnen. Wer es von dort probiert, | |
| findet sich meist zu Beginn des Abends am Bahnhof von Boulogne-sur-Mer ein, | |
| rund zehn Kilometer südlich. | |
| Als es gegen 17 Uhr dämmert, sitzt eine kleine Gruppe von Eritreer*innen | |
| seitlich des Bahnhofsgebäudes: drei Männer, zwei Frauen, drei kleine | |
| Mädchen. Neben den Trommeln einer Mini-Wäscherei mit der Aufschrift Laverie | |
| Révolution haben sie Taschen und Tüten ausgebreitet. Vor dem Bahnhof fährt | |
| eine Frau vor, die ihnen Mützen gegen die Kälte anbietet. Die Mädchen | |
| freuen sich. | |
| Birhan*, ein Mann um die Dreißig, gehüllt in einen dunkelroten | |
| Kapuzenanorak und der Vater eines der Mädchen, ist unschlüssig, was diese | |
| Nacht bringen wird. „Vielleicht gehen wir auf ein Boot, vielleicht nicht.“ | |
| Schon zwei Mal hätten sie die Überfahrt versucht. Vergeblich. „Wir waren | |
| schon mitten auf dem Meer, aber dann ging das Boot kaputt, und die | |
| französische Küstenwache brachte uns zurück.“ | |
| Geschichten wie diese sind am Ärmelkanal Alltag. Auch wenn manche Boote es | |
| hinüber nach England schaffen, sind sie in der Regel alles andere als dafür | |
| geeignet. Sie sollen ihre Passagiere nur bis in britische Gewässer bringen, | |
| so sie die dortige Küstenwache aufnimmt. | |
| Doch selbst das ist Glückssache, berichtet Gérard Barron von der | |
| Seenotrettungsgesellschaft SNSM: „Die Boote werden in China | |
| zusammengeklebt. Ich würde kein Kind damit auf einen See lassen. Um gegen | |
| die Strömung anzukommen, bräuchte man einen Motor von 50 PS, viele haben | |
| aber nur 25.“ | |
| ## Fünfzig Menschen auf einem Schlauchboot | |
| Noch gefährlicher werden die Überfahrten, da die meisten Passagiere nicht | |
| schwimmen können und in schlechter körperlicher Verfassung sind. Weder sind | |
| sie ausgeruht, noch haben sie ausreichend gegessen. Dazu kommt, so Barron: | |
| „Die Art von Schlauchbooten, die hier eingesetzt werden, sind für zwölf | |
| Personen zugelassen, aber wir finden manchmal fünfzig darauf vor.“ Die | |
| Tendenz steigt, bestätigt die Präfektur der Region Hauts-de-France nach dem | |
| Sommer 2023: Im Durchschnitt säßen 53 Personen auf einem Boot – fast | |
| doppelt so viele wie noch 2021. | |
| Die Mädchen in Boulogne-sur-Mer, drei, fünf und sieben Jahre alt, plappern | |
| unbeschwert vor sich hin. Sie scheinen keine Ahnung von dem zu haben, was | |
| in dieser Nacht geschehen wird. Fröhlich fotografieren sie sich gegenseitig | |
| mit der Kamera der Fotografin. Jannah*, die Älteste, erklärt, die anderen | |
| seien ihre Freundinnen. Als es dunkel geworden ist, betritt ein | |
| kurzhaariger Mann mittleren Alters die Szenerie. | |
| Er blickt sich um, macht mit den Fingern eine eilige Geste, als drehe er | |
| eine Zigarette, doch niemand hat Tabak für ihn. Er tritt auf Birhan zu, sie | |
| stecken die Köpfe zusammen und besprechen sich. Die Verhandlungen dauern | |
| noch, als etwa zwei Dutzend Menschen, Kapuzen auf den Köpfen und Rucksäcke | |
| auf den Schultern, den abschüssigen Weg von den Gleisen herunterkommen. | |
| Sie sind heute offenbar besser organisiert als die Eritreer*innen. Unten | |
| beraten sie sich kurz. Dann biegen sie entschlossen um die Ecke und folgen | |
| der Straße, die in Richtung der Dünen geht. Eine Stunde später, als erneut | |
| ein Zug aus Calais ankommt, wiederholt sich die Szene. Diesmal aber | |
| schließt sich einer der Eritreer der Gruppe an. Birhan und die drei Mädchen | |
| folgen einem Mann zum Parkplatz gegenüber. Er winkt noch einmal. Aus der | |
| Dunkelheit klingt ab und zu eine Kinderstimme herüber. | |
| ## Gescheiterte Übergabe | |
| Zwei Stunden Fußweg entfernt, auf der anderen Seite des Dünengebiets, hält | |
| sich zu Beginn der Nacht eine Gruppe von etwa 25 Kurd*innen abseits der | |
| Küstenstraße versteckt. In der Nähe liegt Ambleteuse, ein winziges Dorf mit | |
| einem steinigen Strand, ein Fort aus dem 17. Jahrhundert steht in der | |
| Brandung. Von dort aus soll die Gruppe später mit einem Schlauchboot in See | |
| stechen. Es geht auf Mitternacht zu. Hassan*, ein Iraner um die Zwanzig, | |
| steht telefonisch in Verbindung mit einem Mann, den er den „Boss“ nennt. | |
| Die Ansage: Um zwei Uhr werden die Schmuggler das Boot bei einem Feldweg | |
| abliefern. | |
| Doch die Übergabe scheitert. Eine Polizeistreife taucht auf, die Beamten | |
| greifen das Boot ab und schlitzen es auf. Der Transporter der Schmuggler | |
| bleibt auf dem tiefen Gelände stecken, die Insassen können sich zu Fuß | |
| absetzen. Am nächsten Tag steht das Fahrzeug noch immer verlassen auf einem | |
| matschigen Grasstreifen neben dem Weg. Ein paar hundert Meter weiter in | |
| einem Gebüsch ist der Boden übersät mit Verpackungen und Kleidungsstücken | |
| von Menschen, die sich hier zuvor versteckt hielten. Auch eine Windel liegt | |
| zwischen dem Abfall. | |
| Eine Stunde später erzählt Hassan die Geschehnisse an einer Straßenkreuzung | |
| in Ambleteuse, das längst in tiefem Schlaf liegt. Gemeinsam mit sechs | |
| Passagieren, die ebenfalls aus den kurdischen Teilen Irans und des Irak | |
| stammen, versuchen sie, ein Auto zu finden, das sie um diese Zeit zurück | |
| nach Calais oder am besten Dunkerque bringt, von wo aus sie zurück in den | |
| Jungle bei Loon-Plage laufen können. | |
| Hassan, der sich tief in einen dicken Schal vergraben hat, studierte in | |
| Iran. Sein Englisch ist nahezu fließend, er ist das Sprachrohr der Gruppe. | |
| Er berichtet, sein Vater sei von den Schergen der islamischen Republik | |
| verhaftet worden, niemand wisse, wo er festgehalten werde. Sein Onkel habe | |
| dann beschlossen, ihn außer Landes zu schaffen und nach Europa zu bringen. | |
| Für Hassan war es der sechste Versuch mit einem Boot, und der erste von | |
| diesem Küstenabschnitt aus. Weil dieser relativ nahe an dem Kap liegt, von | |
| dem aus der Abstand nach England am kürzesten ist, dauert es hier, wenn | |
| alles gut geht, zwei Stunden bis man britische Gewässer erreicht. Wer dort | |
| in Probleme gerät, ruft die britische Küstenwache an und wird von dieser in | |
| Dover abgesetzt. „Von Dunkerque aus sind es dagegen sechs oder sieben | |
| Stunden“, sagt Hassan. Das Risiko ist deutlich höher, doch weil die Strände | |
| im Raum Calais immer lückenloser überwacht werden, sind immer mehr Menschen | |
| bereit, dieses Risiko einzugehen. | |
| Dazu tragen auch die Lebensumstände im Jungle bei. „Im letzten Monat gab es | |
| wegen des Wetters nur zwei Chancen auf eine Überfahrt. Nun wird es erst mal | |
| zehn Tage dauern, bis sie ein neues Boot für uns besorgen können. Bis dahin | |
| warten wir einfach im Jungle. Das Leben dort ist nicht gut. Nachts hören | |
| wir oft Schüsse in der Nähe unseres Zelts“, sagt Hassan. Dass die | |
| Schmuggler im Raum Dunkerque Waffen haben und diese sprechen lassen, ist | |
| bekannt. Auch, dass sie letzteres tun, um Menschen einzuschüchtern und auf | |
| Boote zu drängen. „Ob sie sich untereinander bekämpfen oder in die Luft | |
| schießen, um uns einzuschüchtern, weiß ich nicht. Es macht für uns auch | |
| keinen Unterschied.“ | |
| Mazar* ist ein weiterer Iraner von Anfang Zwanzig. Zu Hause arbeitete er | |
| als Barbier und in einem Restaurant. Das Land verließ er, weil seine | |
| Protestbeteiligung gegen die Regierung zu gefährlich wurde. Er kann | |
| schwimmen, überlebte deshalb einen Schiffbruch vor der griechischen Küste, | |
| bei dem 20 Menschen ums Leben kamen. Durch den Schnee in den belarussischen | |
| Wäldern schaffte er es nach Polen. Nun steht Mazar an einer Straßenkreuzung | |
| in Ambleteuse am Ärmelkanal, die Schwimmweste noch in der Hand, und | |
| telefoniert mit seiner Mutter in Iran: „Mir geht es gut“, sagt er. „Ja, i… | |
| habe einen Platz zum Bleiben. Und mir ist warm.“ | |
| Doch warm ist es niemandem, der oder die in dieser Spätherbstnacht hier | |
| unterwegs ist. Nicht Mazar, nicht Hassan und nicht den anderen. Und erst | |
| recht nicht den Personen, die entlang der Küstenstraße immer wieder auf dem | |
| Seitenstreifen auftauchen. Manche sind in Decken gehüllt, einige nass, sie | |
| haben sich offensichtlich ans Ufer gerettet. | |
| ## Drei Kinderwagen entlang der Straße | |
| Einmal steht eine ganze Gruppe am Wegrand, die soeben von einem Polizeibus | |
| entdeckt wurde. In Sangatte, einem Dorf kurz vor Calais, kommen Menschen | |
| aus den Dünen zurück, selbst noch in Blériot-Plage. Drei Kinderwagen werden | |
| entlang der Straße geschoben. Ein Vater trägt ein Kleinkind auf den | |
| Schultern. | |
| Auf der Ausgehmeile von Calais ist noch Betrieb. Die letzten Clubs haben | |
| gerade zugemacht, es ist kurz nach sechs Uhr morgens. Eine Massenschlägerei | |
| wogt wie eine Lawine durch die Straßen. Als die Polizei eintrifft, hat sie | |
| sich schon aufgelöst. Aufgeregt diskutieren Beamte mit den | |
| Club-Besucher*innen, die sich noch immer auf dem Asphalt drängen. Im | |
| Hintergrund zieht jetzt, kurz bevor die Sonne aufgeht, die Gruppe aus dem | |
| nahen Blériot-Plage vorbei. Der Vater trägt sein Kind noch immer auf den | |
| Schultern, doch niemand nimmt von ihnen Notiz. | |
| In der folgenden Nacht kehrt der Regen zurück, und nach dem Wochenende | |
| schließt sich das winzige Zeitfenster für Boote nach England wieder. 201 | |
| Personen hat die französische Küstenwache bis dahin gerettet. Als es das | |
| nächste Mal aufgeht, ertrinken südlich von Boulogne-sur-Mer zwei | |
| Geflüchtete, die zusammen mit 58 anderen Menschen auf ein Schlauchboot | |
| klettern wollten. | |
| Kurz zuvor schreiben Hilfsorganisationen einen Brief an die französische | |
| Regierung, sie warnen. Trotzten weiter große Gruppen von Migrant*innen | |
| in den Jungles den miserablen Wetter- und Sanitärbedingungen, würde dies | |
| „zu einer katastrophalen Situation“ führen. | |
| * Namen geändert | |
| 6 Dec 2023 | |
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| [1] /Britisches-Urteil-zu-Abschiebungen/!5969764 | |
| [2] https://station-boulogne.snsm.org/ | |
| [3] https://euromedmonitor.org/en | |
| [4] /Menschenrechte-in-Afghanistan/!5950970 | |
| [5] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/fluechtlinge-aermelkanal-108.html | |
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| Tobias Müller | |
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