# taz.de -- Gewalt gegen Migrant:innen: Jede 40. Person stirbt | |
> Die UN melden für 2023 eine Rekordzahl an Todesfällen auf | |
> Migrationsrouten. Seenotretter:innen berichten von Schüssen und | |
> Festsetzungen. | |
Bild: Gerettete Migrant:innen bei Sea-Watch-Rettungsaktion im zentralen Mittelm… | |
BERLIN taz | 8.565 Menschen sind im vergangenen Jahr auf internationalen | |
Migrationsrouten gestorben. Das meldete die UN-Migrationsorganisation IOM | |
am Mittwoch. Gegenüber dem Vorjahr sei das ein Anstieg von rund 20 Prozent | |
und der höchste Wert seit Beginn der Zählung im Jahr 2014. | |
„Jede einzelne von ihnen ist eine schreckliche menschliche Tragödie, die | |
noch jahrelang in den Familien nachhallt“, sagte die stellvertretende | |
Generaldirektorin der IOM Ugochi Daniels. Da „sichere und reguläre | |
Migrationswege“ nach wie vor begrenzt seien, versuchten jedes Jahr | |
Hunderttausende Menschen, über irreguläre Routen unter unsicheren | |
Bedingungen zu migrieren, so die IOM. Etwas mehr als die Hälfte der | |
Todesfälle war demnach die Folge von Ertrinken, 9 Prozent wurden durch | |
Fahrzeugunfälle und 7 Prozent durch Gewalt verursacht. | |
Die meisten Menschen starben im Mittelmeer. Dort gab es im vergangenen Jahr | |
mindestens 3.129 Tote und Vermisste – der höchste Wert seit 2017. Nach | |
taz-Berechnungen kam auf dem Seeweg nach Italien rund einer von 62 | |
Menschen, die die Überfahrt versuchten, zu Tode, auf dem Seeweg nach | |
Griechenland war es einer von 51 Menschen, und auf dem Seeweg nach Spanien | |
starb etwa jede:r 40. | |
Die gefährlichsten Routen in Afrika waren der Weg durch die Sahara und der | |
Seeweg zu den Kanarischen Inseln. In Asien starben im vergangenen Jahr | |
Hunderte von Afghan:innen und Rohingya auf der Flucht aus Afghanistan | |
und Myanmar. | |
## 17-Jähriger wird nicht evakuiert – und stirbt auf Rettungsschiff | |
Derweil meldete [1][die Seenotrettungs-NGO Sea-Watch] einen Todesfall bei | |
einer Rettungsaktion. Demnach musste am Mittwoch nach der Rettung von | |
ungefähr 50 Personen aus Seenot in internationalen Gewässern ein | |
17-Jähriger an Bord des Rettungsschiffes „Sea-Watch 5“ nach einem | |
Herzstillstand wiederbelebt werden. Er sei zwei Stunden später gestorben. | |
Die Besatzung habe zuvor eine medizinische Evakuierung für ihn und weitere | |
Gerettete bei staatlichen Rettungsstellen angefragt, diese seien jedoch | |
verweigert worden. Vier weitere Überlebende an Bord befänden sich in einem | |
kritischen gesundheitlichen Zustand und warteten nach Angaben von Sea-Watch | |
am Mittwochabend auf ihre Evakuierung. | |
Die Geretteten seien zuvor unter Deck eines überfüllten Holzbootes gefunden | |
worden – mehrere von ihnen bewusstlos. Nach Aussagen anderer Insassen | |
hätten die Flüchtenden dort zehn Stunden lang mit zu wenig Sauerstoff | |
ausharren müssen, umgeben von Benzindämpfen. Einer der Bewusstlosen war der | |
17-Jährige, der später starb. „Wir sind traurig und wütend“, sagte der | |
Sea-Watch-Einsatzleiter Hugo Grenier. „Trotz stundenlanger Bitten um eine | |
medizinische Evakuierung ist kein Küstenstaat unserer Aufforderung | |
nachgekommen.“ | |
Am vergangenen Samstag hatte die Seenotrettungs-NGO SOS Humanity | |
Zwischenfälle mit der libyschen Küstenwache gemeldet. Demnach sei ihr | |
Schiff Humanity 1 zu zwei Seenotfällen gerufen worden. Beim ersten sei ein | |
Patrouillenboot der libyschen Küstenwache erschienen, habe die Retter mit | |
der Androhung von Waffengewalt zurückgedrängt, etwa 50 Migrant:innen auf | |
ihr Boot gezwungen und zurück nach Libyen gebracht. | |
Dasselbe Patrouillenboot soll kurz darauf zu einem zweiten Einsatz | |
aufgebrochen sein, wieder hätte die Besatzung Menschen auf offenem Meer | |
gezwungen, auf ihr Boot zu wechseln. Aus Panik seien dabei manche ins | |
Wasser gesprungen, die Küstenwache habe einen Schuss abgefeuert. Die Crew | |
der Humanity 1 habe im Anschluss 77 Menschen an Bord nehmen können. | |
Überlebende hätten berichtet, dass mindestens ein Mensch in der Situation | |
ertrunken sei. | |
## Behörden legen Rettungsschiff an die Kette | |
Auf Anweisung der italienischen Rettungsleitstelle fuhr die Humanity 1 mit | |
den Geretteten [2][in den italienischen Hafen Crotone in Kalabrien]. Dort | |
kam das Schiff am Montagabend an und wurde von den italienischen Behörden | |
für 20 Tage festgesetzt. Laut SOS Humanity begründeten die Behörden die | |
Festsetzung mit dem Vorwurf, dass Anweisungen nicht befolgt worden seien | |
und dadurch Menschenleben gefährdet worden wären. | |
„Tatsächlich war es die von der EU finanzierte sogenannte libysche | |
Küstenwache, die das Leben der Flüchtenden im Wasser sowie unserer | |
Rettungscrew gefährdeten“, heißt es in einer Erklärung von SOS Humanity. | |
7 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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